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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1170–1172

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Fitos, Stephan

Titel/Untertitel:

Zensur als Mißerfolg. Die Verbreitung indizierter deutscher Druckschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New-York- Wien: Lang 2000. XV, 402 S. 8. Kart. DM 98,-. ISBN 3-631-35868-7.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Nicht einmal auf ein halbes Jahrhundert kann die Zensurforschung, die sich moderner wissenschaftlicher Arbeitsweise verpflichtet weiß, zurückblicken. Nach Rechtshistorikern und Germanisten ist zunehmend die Buchforschung im engeren Sinne daran beteiligt. Die vorliegende Arbeit eines Bibliothekswissenschaftlers wurde aber von der Freiburger phil.-hist. Fakultät, deren Offenheit für interdisziplinäre Fragestellungen bekannt ist (Wolfgang Reinhard), als Dissertation angenommen. Der sozialhistorisch orientierte Vf. setzt sich zum Ziel, auf interdisziplinärem Wege und mit Hilfe der EDV die Zensur der deutschsprachigen Drucke der zweiten Hälfte des 16. Jh.s erstmalig so vollständig wie möglich zu erfassen und darzustellen. Seine Materialbasis gewinnt er aus den römischen Indices von 1559 bis 1596 und einigen Bücherkatalogen. Die ermittelten rund 3800 zensierten deutschsprachigen Druckschriften hat er mit den Angaben im VD 16 verglichen. Diese 3800 Datensätze bilden die Grundlage für eine Vielzahl von Informationen über die indizierten Drucke, aber auch über die Buchproduktion dieser Zeit überhaupt. Der Grenze seiner Materialbasis ist sich der Vf. bewusst. Vergleichbare systematische und gedruckte Zensurlisten wie die römischen Indices gibt es nicht. Das gesamte Druckschrifttum des untersuchten Zeitraums ist auch erst vermutlich zu ca. 70 % bibliographisch erfasst. Darauf macht der Vf. selbst aufmerksam. Diese Einschränkungen sind aber für ihn nicht von Belang. Ihm geht es darum aufzuzeigen, wie sich die kirchliche Zensur bemüht hat, den Einfluss schädlicher Lektüre auf die Gläubigen zu verhindern, und dass sie damit gescheitert ist.

Unter reichlicher und kundiger Verwendung der neueren interdisziplinären Forschungsliteratur wird der Leser nach einer knappen Einleitung im 2. Kap. in die Zensurproblematik des 16. Jh.s eingeführt und über die historiographischen Theorien und Konzepte informiert, die für die Zensurforschung fruchtbar gemacht werden könnten. Danach wendet sich der Vf. im 3. Kap. den Autoren der indizierten Drucke zu. Von 740 ermittelten Autoren aus dem deutschen Sprach- und Kulturraum weist er 433 (41 %) der Gruppe "Reformatoren, lutherische Theologen und Prediger" zu. Mit großem Abstand folgen 92 (9%) "Schriftsteller, Publizisten und Übersetzer", 79 (7 %) "Pädagogen, Lehrer und Rektoren" und 72 (7 %) "Nicht-protestantische Geistliche". Weitere Berufsgruppen sind nur mit 5% oder 4 % vertreten. So problematisch diese Gruppenbildung ist, der hohe Anteil protestantischer Theologen ist eindeutig. Allerdings ist auf der Basis römischer Indices nichts anderes zu erwarten. An der Spitze katholischer Druckorte zensierter Schriften steht Köln mit 41 Schriften, Ingolstadt und Mainz folgen mit 16 bzw. 15. Anders stellt sich die Situation bei den protestantischen Druckorten dar, bei denen die führende Gruppe größer ist: Magdeburg 264 Drucke, Leipzig 257, Tübingen 250, Wittenberg 250, Eisleben 233, Frankfurt 229. Bei der sprachlichen Aufteilung ergeben sich für den deutschen Raum 451 volkssprachliche und 289 lateinische Titel. Im nicht-deutschen Raum ist das Verhältnis umgekehrt: 20 volkssprachliche und 50 lateinische Titel. Im 4. Kap. bemüht sich der Vf. um die Möglichkeiten einer inhaltlichen Klassifizierung der indizierten Drucke. Er prüft die historischen Ansätze des 16.Jh.s genauso wie die modernen Modelle von M. U. Chrisman, H.-J. Künast und C. Paschen. Breiteren Raum nimmt der Versuch ein, die indizierten Schriften nach buch- und literaturwissenschaftlichen Gattungen bzw. Textsorten zu klassifizieren. Die Schwierigkeit einer Anwendung moderner Kategorien auf Drucke des 16. Jh.s wird im 5. Kap. noch einmal bestätigt, in dem der Vf. einen genaueren Vergleich der Klassifizierung nach dem alten System von Bass und den Sachgruppen nach Künast durchführt. Die nach Bass' Gruppierung nachweisbare Dominanz von Schriften mit religiös-theologischem Inhalt wird durch Künasts Schema bestätigt. Die "protestantische Literatur" macht 75 % aus. Ihr folgt die "populäre, volkssprachliche Literatur" mit 15,1 %. Im 6. Kap. erprobt der Vf. die Möglichkeiten einer "inhaltlichen Verschlagwortung" der zensierten Drucke: Innerprotestantische Kontroversen als Themenschwerpunkt, Untersuchungen nach Druck, Druckorten, Druckjahren (abnehmende Tendenz: 1550 sogar 996 zensierte Drucke, 1590 nur noch 523), Druckformaten. Das 7. Kap. enthält eine kurze Schlussbetrachtung und das 8. einen umfangreichen Anhang: Tabellen, Bibliographie, Register, Datenbank (329-402).

F. hat mit seiner gut lesbaren Dissertation, in der er mit den Mitteln der modernen Datenverarbeitung den Zugang zu den ca. 3800 indizierten Druckschriften erschließt und die Möglichkeiten interdisziplinärer Forschungsansätze und -konzepte aufzeigt, eine Grundlage für die Weiterarbeit an der Zensurthematik geschaffen. Allein schon seine Bibliographie kann Interessenten wichtige Hinweise geben, seine auch als Diskette beziehbare Datenbank ebenfalls. Das ganze Phänomen der Zensur in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s kommt allerdings auch mit dieser Arbeit nicht in den Blick. Es fehlt vor allem die aktive obrigkeitliche Literaturpolitik, an der sich auch protestantische Fürsten maßgeblich beteiligt haben. Darauf hat kürzlich Hans-Peter Hasse mit seiner Monographie über Kursachsen, die F. nicht mehr einarbeiten konnte, erneut aufmerksam gemacht.

Die bei interdisziplinären Arbeiten kaum vermeidbaren Unschärfen oder Fehlinformationen (z. B. 189: Die Traumdeutungsschrift stammt nicht von Melanchthon) sind ebenfalls vorhanden. Das gilt besonders für die berufliche und konfessionelle Zuordnung der zensierten Autoren in Tabelle 1. Cordus soll Astronom gewesen sein, der Mediziner Hegenwald Theologe. Als lutherischer Prediger oder Theologen werden u. a. Dachser, Farel, Hugwald, Vadian, Weiße, Zwick, ja sogar der 1517 verstorbene Albert Krantz und der Erfurter Franziskaner und Kontroverstheologe Konrad Kling bezeichnet. Einen formalen Fehler enthalten S. 177-180: Anm. 378-383 werden als Anm. 384-390 wiederholt. Große Überraschungen bringen die Ergebnisse des Vf.s dem Historiker, der sich mit dem 16. Jh. beschäftigt, nicht. Die Dominanz der religiösen Literatur ist genauso bekannt wie der Misserfolg der Zensur. Diese und weitere Tatbestände sind aber durch die Arbeit von F. nur exakter belegt.