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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1167 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Becht, Michael

Titel/Untertitel:

Pium consensum tueri. Studien zum Begriff consensus im Werk von Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon und Johannes Calvin.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2000. XIV, 588 S. gr.8 = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 144. Kart. DM 142,-. ISBN 3-402-03808-0.

Rezensent:

Volker Leppin

Michael Bechts Freiburger katholisch-theologische Dissertation drückt durch den Begriff "Studien" im Untertitel aus, dass hier keine umfassende Untersuchung zum Konsensverständnis der Reformationszeit vorgelegt werden kann und soll, sondern eine klar begrenzte Untersuchung, die drei Autoren in systematischer Absicht vor- und nebeneinanderstellt.

Dabei war das Bemühen leitend, einerseits verschiedene Generationen des 16. Jh.s vertreten zu haben, andererseits auch einen altgläubigen, einen lutherischen und einen reformierten Theologen. Und hier wiederum war es dem Vf. wichtig, dass alle drei von vergleichbaren, humanistischen Bildungshintergründen geprägt waren. Solche für einen systematischen Zugriff förderliche Konzentration bringt immer auch Verluste mit sich- in diesem Falle geraten vor allem die produktiven Reibungen aus dem Blick, die möglicherweise eine Vergleichsgrundlage hätten aufzeigen können, in der stärker divergierende Theologen im Zentrum gestanden hätten.

Nicht nur wegen dieser Einschränkung bei der Auswahl der untersuchten Persönlichkeiten wird in B.s sorgfältiger Untersuchung die Brisanz, die der Konsensthematik durch die kontroverse Situation des 16. Jh.s zukam, nicht immer in der wünschenswerten Deutlichkeit spürbar. Das liegt vor allem daran, dass alle drei Autoren nach einem nur wenig variierenden Schema von Fragestellungen behandelt werden. Die Abfolge: historische Einordnung, Forschungsstand, Wortfeldanalyse, systematische Deutung und Zusammenfassung bestimmt weitgehend den Aufbau aller drei Großkapitel. Dabei fällt auf, dass in diesem systematischen Rahmen zwar auch für den Konsensbegriff relevante Ereignisse der Reformationsgeschichte - etwa das Wormser Religionsgespräch - ausführliche Beachtung finden, der Frage nach damit verbundenen denkerischen Entwicklungen aber nur knapp und wenig profiliert nachgegangen wird.

Diesen Grundentscheidungen entsprechend liegen die Stärken der Arbeit vor allem im begriffsgeschichtlichen und systematischen Bereich. Mit seiner umfangreichen philologischen Kärrnerarbeit stellt B. für die weitere Forschung unverzichtbare Grundlagen zur Verfügung. Das gilt nicht nur für eine Forschung zum consensus im engeren Sinne. Gerade die saubere grammatikalisch-lexikalische Arbeit kann bei einer engmaschigen Analyse dieses Begriffs gar nicht stehen bleiben, sondern schlägt klare Schneisen durch das jeweilige theologische uvre der drei untersuchten Autoren und führt in eine Fülle von Kontexten: das Politikverständnis des Erasmus ebenso wie die Schriftlehre des Melanchthon oder die Gottesdienstlehre Calvins, um nur einige wenige Beispiele der angeschlagenen Themen herauszugreifen.

Dies wird besonders fruchtbar in den systematischen Deutungen. In großer Quellennähe (und manchmal zu großer Ausführlichkeit) führt B. Argumentationen der von ihm behandelten Autoren vor und forscht sensibel nach Implikationen und Folgerungen der jeweiligen Äußerungen über ihren unmittelbaren Aussagezusammenhang hinaus. So entstehen in dem einen Buch eigentlich drei Monographien, die, durch gemeinsame Fragestellungen untereinander verbunden, jeweils auf breiter Materialbasis gearbeitet und argumentativ in sich geschlossen sind. Angesichts der intensiven und breiten Forschung, die es zu allen drei Autoren gibt, ist es beeindruckend, mit welch sicherer Hand B. hier Marksteine gesetzt hat, an denen sich die weitere Forschung zu orientieren hat.

Aus der Fülle der dabei angeschlagenen Themen können nur wenige Grundüberlegungen herausgegriffen werden: B. arbeitet heraus, dass grundsätzlich bei allen drei Autoren der vor- und außertheologisch zu bedenkende consensus einem vorgängigen, auf Gottes schöpferisches Handeln zurückzuführenden ordo entspricht, dass Konsens also nie als rein kommunikativ produziert zu verstehen ist. Das hat nun für die Theologie insofern Bedeutung, als diesem Verhältnis in gewisser Weise der consensus ecclesiae analog ist, insofern auch er nicht eine Wahrheit produziert, sondern von der in der Schrift vorgegebenen Wahrheit abhängig ist und diese aufdeckt: eine Struktur, die wohl kaum zufällig von den beiden reformatorischen Autoren deutlicher ausgedrückt wird als von Erasmus.

Und bemerkenswert sind wiederum die Überlegungen, wie ein solcher Konsens eigentlich festzustellen ist. Gerade indem der Konsens nicht arbiträres Produkt einer Einigung zwischen Subjekten ist, sondern an eine vorgegebene Größe gebunden bleibt, legt es sich nahe, Instanzen zu benennen, die diesen Konsens erheben. Und hier zeichnet sich der theologiehistorische Weg deutlich ab: Während Erasmus und Melanchthon noch ganz vom humanistischen Gelehrtenideal geprägt sind und entsprechend den Gebildeten - gerade auch in Absetzung von institutionengebundenen Modellen der Wahrheitsfindung- die entscheidende Funktion zur Konsenserhebung zusprechen, erscheint bei Calvin der für die Konsenserhebung bedeutsame Schriftgelehrte als Doktor in der Genfer Kirchenordnung: Der consensus wird hier auf eine neue Weise institutionell abgesichert.

Damit führen die Studien von B. mitten hinein in das weite Feld der Frage nach dem Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche. B. hat mit ihnen einen von großer Sorgfalt und sicherem interpretativen Zugriff geprägten Beitrag zum (Selbst-)verständnis der Kirchen und ihres Wahrheitsbezugs vorgelegt.