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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1164–1167

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. II: 1800-2000. Hrsg. von G. Müller, H. Weigelt, W. Zorn.

Verlag:

St. Ottilien: EOS 2000. XXXVIII, 661 S. m. Abb., 1 Kte. gr.8. Geb. DM 88,-. ISBN 3-8306-7042-7.

Rezensent:

Hermann Ehmer

Binnen weniger Jahre sind eine Reihe von Landeskirchengeschichten unterschiedlichen Zuschnitts erschienen, so für die Pfalz (1999) und Württemberg (2000). Diese beiden wenden sich an eine breitere Leserschaft und bedienen sich - freilich in unterschiedlicher Weise - schwerpunktmäßig des Mediums Bild. Die andere Seite der Palette der Möglichkeiten bilden die Landeskirchengeschichten, die sich an Leser mit wissenschaftlichen Ansprüchen wenden, wie die Oldenburgische Kirchengeschichte (1999) und nun die bayerische. Doch muss zwischen den beiden Letzteren wieder differenziert werden, denn während es in Oldenburg gelungen ist, evangelische und katholische Kirchengeschichte in einem Band darzustellen, ist die ursprünglich in Bayern ebenfalls geplante Zusammenarbeit letztlich doch nicht zustande gekommen. Das 1991-1999 in drei Bänden erschienene "Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte" stellt auf Grund einer einseitigen Entscheidung somit ausschließlich katholische Kirchengeschichte dar. Wenn diese Entscheidung nicht nur formal gemeint war, müssten sich, wenn die Geschichte der evangelischen Kirche vollständig vorliegt, bei der Darstellung der vorreformatorischen Kirchengeschichte bedeutsame Unterschiede in der Sichtweise feststellen lassen. Doch wird dies erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein, da das Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern in zwei Bänden erscheint, von denen der zweite, der das 19. und 20. Jh. umfasst, zuerst erschienen ist. Es darf noch angemerkt werden, dass den beiden bayerischen Kirchengeschichten immerhin noch - neben dem territorialen Rahmen - die Bezeichnung "Handbuch" gemeinsam ist, die sie als Abkömmlinge des von Max Spindler begründeten Handbuchs der Bayerischen Geschichte ausweist, das seinerseits Vorbild für andere dergleichen Werke in weiteren Bundesländern, so etwa in Baden-Württemberg, geworden ist.

Die Herausgeber begründen den Schnitt, den sie am Ende des Alten Reichs ansetzen und durch den die beiden Bände voneinander abgegrenzt werden, gleich dreifach. Zum einen wurde um diese Zeit mit der Bildung des Königreichs und heutigen Freistaats Bayern auch der Grund für die heutige Landeskirche gelegt. Zum andern wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten die Erforschung der neueren Kirchengeschichte, gemeint ist der kirchlichen Zeitgeschichte, beträchtlich intensiviert, und drittens wurde die vorliegende Kirchengeschichte, was zweifellos ein Novum darstellt, bis in die Gegenwart, also bis in das Jahr 2000 geführt. Hier darf eingewandt werden, dass auch die Erforschung der mittelalterlichen Kirchengeschichte in den zurückliegenden Jahrzehnten namhafte Fortschritte gemacht hat, ebenso die der Geschichte des Pietismus, so dass die zweifellos schwierige Bemessung des wissenschaftlichen Interesses, das die eine oder andere Epoche gefunden hat und findet, für sich noch kein Argument für die vorgenommene Gewichtung des Stoffes sein kann. Dessen ungeachtet ist dieser Stoffverteilung, die der Kirchengeschichte von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jh.s denselben Raum zuweist, wie den beiden darauffolgenden Jh.n, uneingeschränkt zuzustimmen. Man könnte diese Sicht der Geschichte eine perspektivische nennen, bei der näher liegende Gegenstände größer, ferner stehende aber kleiner erscheinen. Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Fragen an die Geschichte zumeist auf die jüngste Vergangenheit, auf den Zeitraum des "Menschengedenkens" beziehen oder doch davon ausgehen.

Das vorliegende Handbuch hat namhafte Vorgänger, vor allem ist hier die 1942 erstmals erschienene und 1952 wieder aufgelegte Kirchengeschichte Bayerns von Max Simon zu nennen, dessen Vorläufer das 1863 erschienene Werk von Emil Medicus war. Während es sich bei diesen Arbeiten um Werke einzelner Autoren handelt, sind an dem vorliegenden Band nicht weniger als 32 Autoren beteiligt. Eine solche Gemeinschaftsarbeit verlangt von den Hgg. präzise Vorgaben und von den Beiträgern einiges an Disziplin, um ein Werk zustande zu bringen, das eine Einheit darzustellen vermag, eine Aufgabe, die bei dem vorliegenden Werk offenbar gelungen ist.

Eine Kirchengeschichte, zumal eine Landeskirchengeschichte, hat sich drei Fragenkreisen zuzuwenden. Zunächst geht es um die Kirche als irdische Gestalt in ihren Beziehungen zu Staat und Gesellschaft, die für eine jeweils besondere Ausprägung der Kirchenverfassung sorgen. Im zweiten Problemkreis sind die Beziehungen zu den geistigen Grundlagen der jeweiligen Zeit darzustellen, nämlich Theologie als Rechenschaftslegung des Glaubens in der Auseinandersetzung mit dem Geist der Zeit, also Theologiegeschichte. Drittens sind Glauben und Leben dieser Kirche zu untersuchen, ihr Zeugnis und ihr Dienst in und an der Gesellschaft, konkret geht es hier also im weitesten Sinne um Frömmigkeitsgeschichte. Es versteht sich, dass diese drei Bereiche in mannigfacher Weise miteinander verknüpft sind und gewissermaßen kommunizierende Röhren darstellen, wenn auch der eine oder andere Problemkreis zuzeiten stärker hervortritt und eingehendere Betrachtung verlangt. Gleichwohl ist festzustellen, dass das vorliegende Werk diese Bereiche mustergültig abdeckt und keine Wünsche offenlässt.

Die Bedeutung des Problemfeldes Kirche-Staat-Gesellschaft dürfte für eine evangelische Kirchengeschichte unmittelbar einleuchten, da man es im 19. Jh. ebenso mit der engen Verbindung von Kirche und Staat zu tun hat, wie mit den Bemühungen, die Kirche durch die Bildung von presbyterialen und synodalen Gremien aus dieser Umklammerung zu lösen, während sich im 20. Jh. dieses Problemfeld einmal in der Überwindung der Staatskirche, zum andern in der Auseinandersetzung der Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat völlig neu stellt.

Man wird selbstverständlich fragen können, inwieweit einer Landeskirchengeschichte im 19. und 20. Jh. eine eigene Theologiegeschichte zugeordnet werden kann, ob diese nicht doch in einem größeren Rahmen behandelt werden müsste. Doch stellt sich diese Frage eigentlich in jeder Epoche, zumal in der Neuzeit, vor allem in der Zeit der Reformation und des Pietismus, wo die Kommunikation über größere Räume hinweg es fraglich erscheinen lässt, ob man von der Ausprägung territorialer Theologien sprechen kann. Doch gerade im 19. Jh. werden theologische Schulen an bestimmten Landesuniversitäten festgemacht, wenn auch die innere Einheit dieser jeweiligen Schulbildungen stets umstritten ist. Doch ebenso, wie man in der ersten Hälfte des 19. Jh.s von einer Tübinger Schule spricht, ist es üblich geworden, in dessen zweiten Hälfte von einer Erlanger Theologie zu reden. Da man davon ausgehen kann, dass die überwiegende Mehrzahl der Pfarrer einer Landeskirche ihre theologische Prägung an der jeweiligen Landesuniversität erhalten hat, ist es nicht nur angebracht, sondern im Rahmen einer Landeskirchengeschichte auch notwendig zu untersuchen, welche spezifische Färbung die Theologie an der betreffenden Universität zu einer gegebenen Zeit gehabt hat.

Evangelische Frömmigkeitsgeschichte hat es unter anderem mit dem zu tun, was im katholischen Bereich als Volksfrömmigkeit bezeichnet wird. Die Eigenart evangelischer Frömmigkeit ist die Abwendung von magisch-rituellen Praktiken in der Konzentration auf das Wort der Verkündigung. Daneben gewinnt evangelische Frömmigkeit auch Gestalt in der Kirchenmusik, der hier eigene Kapitel gewidmet sind. Die Kunst hingegen wird üblicherweise weniger mit evangelischer Frömmigkeit in Verbindung gebracht, weshalb es zu begrüßen ist, dass dieser Bereich ebenfalls eingehend dargestellt wird.

Während die Zeit bis 1945 ohne weiteres als gesicherte Geschichte gelten kann, war es zweifellos ein Wagnis, die Darstellung bis zur Gegenwart zu führen, ohne über einzelne Erscheinungen abschließend urteilen zu können. Verhältnismäßig einfach war hierbei die Behandlung der Probleme, die die unmittelbare Nachkriegszeit stellte, nämlich die Bewältigung der Kriegsfolgen, der Zerstörungen - in jeder Hinsicht - und schließlich der Einbürgerung der Flüchtlinge und Vertriebenen. Ansonsten deckt die Darstellung auch in diesem Zeitraum die oben genannten Problemfelder ab, wenn auch mit eigenen zeittypischen Hervorhebungen. So ist der kirchlichen Publizistik ein eigenes Kapitel gewidmet, ebenso wie den Frauen in der Kirche sowie den ökumenischen Entwicklungen und den interreligiösen Kontakten. Anzumerken ist hier noch, dass anschließend nicht nur die Geschichte der Evangelisch-Reformierten Kirche in Bayern in einem eigenen Abschnitt behandelt wird, sondern auch die der evangelischen Freikirchen. Im Anhang werden noch die Sondergemeinschaften, von den Zeugen Jehovas bis zum "Universellen Leben", dargestellt.

Der Text dieser Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern wird von einigen wenigen Bildern begleitet. Im Anhang finden sich noch eine Reihe von meist farbigen Bildern, die kirchliche Kunst, zumeist Kirchenbauten, vorführen. Den Abschluss des Bandes bildet ein integriertes Personen-, Orts- und Sachregister. Es liegt hier eine mustergültige Landeskirchengeschichte vor, die kaum einen berechtigten Wunsch offen lässt und anderen Landeskirchen zum Vorbild dienen kann, auch darin, dass die Anregung dazu von der Kirchenleitung ausging. Man darf daher auf das Erscheinen von Bd. 1, in dem Kirchengeschichte auf dem Gebiet des heutigen Bayern dargestellt werden soll, zweifellos gespannt sein.