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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1163 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Grimmer, Karl F.

Titel/Untertitel:

Geschichte im Fragment. Grundelemente einer Theologie der Geschichte.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 325 S. gr.8 = Forum Systematik, 7. Kart. DM 68,95. ISBN 3-17-016424-4.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

1. Dieses Buch mit seinem verheißungsvollen Untertitel, eine Dissertation von 1999, nimmt man mit Spannung zur Hand, legt es aber schließlich enttäuscht beiseite. Denn die hier vertretene Form dogmatischer Geschichtsinterpretation wird kaum als gelungener Beitrag zu einem interdisziplinären Diskurs über "die" Geschichte gelten können. Der Vf. bietet nach einer kurzen Einleitung zu Gliederung und Methode (13-18) einen I. Hauptteil, in dem die "philosophischen Angebote" kurz referiert werden (19-135), und einen II. Teil zu den Entwürfen Wolfhart Pannenbergs und Jürgen Moltmanns (137-199). Der III. Teil enthält die angekündigten Elemente zur Geschichtstheologie (201-283, hier 211 ff.), die im IV. Teil kurz zusammengefasst werden (285-290). Das Literaturverzeichnis schließt den Band ab (291-308).

2. Wenn der Vf. die philosophischen Beiträge anhand einschlägiger Lexikonartikel (besonders im Anschluss an G. Scholtz) zur Geschichte sichtet, orientiert er sich an den gewichtigen Begriffen, die im Geschichtsdiskurs zu verhandeln sind: Zeit (33-69), Handlung (71-81), Subjekt (83-97), Struktur und Ereignis (99-106), Sprache (107-126), dazu als Exkurs das Thema des behaupteten "Endes" der Geschichte (127-135). Der diesen Begriffen folgenden, aber den Sinnzusammenhang oft (besonders im II. Teil) störenden Gliederung bleibt der Autor auch in den anderen Teilen seines Werks verhaftet. Allerdings zeigt schon der jeweils geringe Umfang an Druckseiten zu Fragen, die ganze Bibliotheken füllen, dass man hier nur an der Oberfläche bleiben kann. Die Geschichtswissenschaft selber ist eindeutig unterrepräsentiert, und ob sich Historiker von Rang wie Reinhard Koselleck gerne als "Philosophen" einordnen lassen, wird man mit einem Fragezeichen versehen dürfen.

Auch im zweiten Teil zu den beiden geschichtstheologischen Entwürfen des 20. Jh.s von Pannenberg (139-168) und Moltmann (169-199) beschränkt sich der Vf. auf ein Referat, das man so oder so ähnlich schon oft genug hat lesen können. Zwar streift der Autor zu Recht den neuralgischen Punkt der Geschichtstheologie, nämlich dass Pannenberg und Moltmann für ihre dogmatische Geschichtsinterpretation eine explizierte Trinitätslehre benötigen und auch liefern (151 ff.191 ff.), hütet sich aber begreiflicherweise, darauf intensiver einzugehen, weil er sich dann mit einem ganzen "Nest von Widersprüchen" hätte herumschlagen müssen.

Einen argumentativen Schwerpunkt setzt der Vf. mit Recht beim für Geschichte und Theologie gleichermaßen zentralen Handlungsverständnis (71-81.151-154.191-193.225-246). Dabei macht er ungewollt zugleich das ganze Desaster des theologischen Handlungsbegriffs offenkundig. Dieser leidet nämlich nicht nur daran, dass man wie bei Pannenberg und Moltmann angedeutet und bei den übrigen Gewährsmännern Chr. Schwöbel und W. Härle ersichtlich auf eine explizierte Trinitätslehre ausgreifen muss, um die Handlungsvorstellung zu plausibilisieren. "Für Schwöbel ermöglicht die Denkfigur der Trinität, Gott in seinem differenzierten Handeln als einheitliches Handlungssubjekt vorzustellen." (233) Darüber hinaus entgeht dem Autor die Problematik einer Verwendung des intentionalen Handlungsbegriffs für Gott, obwohl er die Schwierigkeit benennt (ibid.). Sie besteht allerdings nicht nur darin, dass Körperlichkeit und der Möglichkeitshorizont des Handelnden vorausgesetzt sind. Sondern die von Schwöbel namhaft gemachten Elemente der notwendigen Verursachung, der Absicht und der bewussten Wahl (233 ff.) setzen, wie der intentionale Handlungsbegriff überhaupt, die Differenz von (zu erreichendem) Zweck und (dafür verwendeten) Mitteln voraus (vgl. 151), die im Hinblick auf das "Subjekt" Gott ("Anwendung eines personalen und intentionalen Handlungsbegriffs auf das Wirken Gottes", 232) direkt zur Verendlichung führen muss, die auch durch trinitarische Figuren nicht mehr kompensiert werden kann (vgl. 259). Demnach haben gerade die Ausführungen des Vf.s mich in der Auffassung bestärkt, dass die an menschlichen Personen gewonnene Handlungsvorstellung automatisch ein anthropomorphes Reden von Gott evoziert. "Handeln" scheint eben doch kein geeigneter Kandidat zur Explikation eines adäquaten Nachdenkens über Gott zu sein.

3. Der Schlussteil "K(l)eine Theologie der Geschichte(n)" bekräftigt die doppelte These des Vf.s, dass es einerseits die eine Geschichtstheologie nicht (mehr) geben könne, dass andererseits sehr wohl in einem depotenzierten Sinne eine "kleine Theologie der Geschichten" angesichts der faktischen Pluralität von Geschichts(re)konstruktionen (289 f.) vertretbar sei. Damit wird die im christlichen Sinne (lutherischer Tradition: Gesetz und Evangelium dürfen in Neuendettelsau nicht fehlen, 243 f.!) gedeutete Geschichte freilich zu einem Fall von Niklas Luhmanns "Sondergruppensemantik", deren Verbindlichkeit preisgegeben ist. Für den Versuch, den eigenen Dogmatismus im Gewande "der" Geschichte beizubehalten, entrichtet man den Preis der Beliebigkeit. Dies gilt um so mehr, als dem Autor Bemerkungen unterlaufen, die sein Unternehmen dem Projektionsverdacht aussetzen: Die Gegenstandsbezüge der Geschichte "werden theologisch aufgeladen, wenn die in ihnen vollzogenen Handlungen ... unter der Perspektive der Gottesbeziehung betrachtet werden" (241, Hervorh. von mir; vgl. 286). Nur: Warum sollte man dies tun?

Diese Art von Geschichtstheologie gemahnt tatsächlich an Walter Benjamins "Zwerg" aus den ganz zum Schluss zitierten geschichtsphilosophischen Thesen (290 A. 17). Der Rez. gesteht freimütig ein, dass er sich im Unterschied zum Autor in dieser Zwergenrolle sehr unwohl fühlen würde und darauf dankend verzichtet.