Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1159–1161

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schneider, Sebastian

Titel/Untertitel:

Vollendung des Auferstehens. Eine exegetische Untersuchung von 1Kor 15,51-52 und 1Thess 4,13-18.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. 333 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 97. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-02264-9.

Rezensent:

Günter Haufe

Das hier vorzustellende Buch ist eine im Wintersemester 1994-95 von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt angenommene Doktorarbeit. Der Autor bereitet schon in der brieflich stilisierten Einleitung den Leser auf Überraschungen vor. Seine Gedanken "verlassen in manchen Punkten breit ausgetretene Wege, scheuen nicht davor zurück, ... allgemein geteilte Erkenntnisse exegetischer Forschung in Frage zu stellen, und kommen zu einem Ergebnis, das, gemessen an der üblichen Sichtweise, ungewöhnlich, aber nicht unbegründet ist" (14). Es geht um eine neue Interpretation der theologisch verwandten Texte 1Kor 15,51-52 und 1Thess 4,13-18. Eine Fülle von akribischen Einzeluntersuchungen führt zu einem in sich gewiss stimmigen Gesamtbild, das nichtsdestoweniger sachlich problematisch genug bleibt. Es muss genügen, hier mit den Eckpunkten der neuen Interpretation bekannt zu machen.

S. setzt nicht, wie man erwarten möchte, bei 1Thess 4,13-18, dem älteren Paulustext, ein, sondern bei 1Kor 15,51-52 (16-210). Schon die textkritische Analyse des Kontextes (15,49-57) stützt eine vom allgemeinen Konsens abweichende These, die das ganze Buch durchzieht. S. liest auf Grund der handschriftlichen Bezeugung in V. 49b nicht wie üblich den Indikativ Futur phoresomen, sondern den Kohortativ phoresomen. Er übergeht den didaktischen Charakter des Kontextes und proklamiert: "der Glaubende hat nach der Überzeugung des Paulus (vgl. Röm 6) in der Taufe bereits neues, ewiges, d. h. himmlisches Leben empfangen und trägt deshalb bereits jetzt schon die Gestalt des Himmlischen an und in sich" (22). Doch lassen sich dafür nach allgemeiner Ansicht erst die Deuteropaulinen in Anspruch nehmen (Eph 2,5; 5,14; Kol 2,12-13). Nicht weniger problematisch ist die textkritische Streichung von V. 54a, womit erneut ein eschatologisches Futur verschwindet (27-29). In semantischer Hinsicht plädiert S. dafür, eis nikos V. 54c adverbiell und nicht wie üblich lokal zu verstehen, d. h. im Sinn von "für immer, völlig" (65). Das Stichwort mysterion V. 51 bezeichnet eine zunächst verborgene, nun aber offenbarte Wirklichkeit.

Wichtiger sind S. die von ihm in 1Kor 15,51-52 empfundenen Schwierigkeiten. Noch vor der Behandlung der umstrittenen Textgestalt von V. 51 wendet sich S. dem Widerspruch zwischen V. 51b ("alle werden wir nicht entschlafen") und V. 22a ("wie in Adam alle sterben") zu. Entgegen dem seit J. Weiß vorherrschenden Konsens bezieht er Ôé in V. 51b auf koimethesometha und nicht auf das voranstehende pantes. Zugleich versteht er das Verbum nicht im üblichen Sinn eines intransitiven Passivs (= entschlafen), sondern eines nur selten vorkommenden transitiven Passivs (= unschlafen gemacht werden, = lebendig gemacht, auferweckt werden; 147). Dann aber entfällt der Widerspruch zu V. 22a, da V. 51 nun von einer anderen Thematik als V. 22a handelt. Allerdings ist bei solcher Interpretation, wie S. selber einräumt, die durch das de vorausgesetzte Gegenüberstellung von V. 51b und V. 51c nicht länger einsichtig. Doch auch hier hat S. eine Lösung zur Hand. Sie liegt in der schon erwähnten unsicheren Textüberlieferung. Abweichend vom Nestle-Aland-Text bevorzugt S. für V. 51bc die von P46 vertretene Lesart, die dem zweiten pantes ein ou voranstellt. Bei dieser Textfassung entfällt die von den meisten Auslegern in V. 51 gefundene Naherwartung des Paulus und damit dessen angeblicher Irrtum (157). Nicht recht passen will dann nur die Rede von der Auferweckung der Toten in V. 52b. Aber auch hier findet S. einen Ausweg. Er interpretiert die fragliche Rede im übertragenen Sinn: die "Toten" sind die "Ungläubigen", die am Jüngsten Tag unverderblich zur Hölle auferweckt werden, während die schon seit Bekehrung und Taufe geistlich auferweckten Gläubigen durch Verwandlung die Vollendung ihrer Auferstehung erfahren werden. Nahezu krampfhaft bemüht sich S. darzutun, dass Paulus sehr wohl etwas von einer wachsenden gegenwärtigen Auferstehung wie von einer gesamtmenschheitlichen Auferstehung weiß.

Die Frage liegt nahe, in welchem Verhältnis das anhand von 1Kor 15,51-52 gewonnene Ergebnis zu 1Thess 4,13-18, dem zweiten Kronzeugen paulinischer Naherwartung, steht (211-302). Man ahnt im voraus, dass S. den zu erwartenden
Widerspruch ausräumen wird. Wieder wird der Leser von ungewöhnlichen Thesen überrascht. Hinsichtlich der Gattungsbestimmung sieht auch S. im Blick auf den Rahmen eine Mahnrede. Dagegen bestreitet er, dass in V. 15-17 "eine kleine Apokalypse" vorliegt. Die Ähnlichkeiten mit 4Esra 13 reichen dafür nicht aus. Beachtlicher sind nach S. die Übereinstimmungen mit der Sinaitheophanie Ex 19. Vor allem das Herabsteigen des Kyrios vom Himmel rechtfertigt es, auch hier von der Gattung Theophanie zu sprechen. Eng verbunden mit dieser These ist die andere, dass das in den V. 15-17 fünfmal ohne Namen vorkommende Wort Kyrios sehr wahrscheinlich Gott und nicht Jesus meint. Anders als 2,19; 3,13; 5,23 ist hier von nicht weniger als der Parusie Gottes die Rede. Anders als in der Regel angenommen zitiert Paulus nicht einen Prophetenspruch, sondern spricht selbst prophetisch. Anstoß und Inhalt der Rede kommen von Gott. Die Hauptaussage liegt in V. 15b. Wieder vom Konsens abweichend bezieht S. das "in Christus" V. 16d nicht auf "die Toten", sondern auf den Auferstehungsvorgang. Der Ort der immerwährenden Gottesgemeinschaft (V. 17b) wird mit einer übertragen gebrauchten Wendung ("in Luft" = "ins Freie, Weite") angegeben, womit Paulus die Frage nach dem Ort offen lassen will. Bei der Rede von den "Wolken" könnte er sogar an den Heiligen Geist denken. In V. 14b liest S. bei axei ein logisches Futur, gleichsinnig mit aneste in V. 14a, und anschließend das Reflexivpronomen syn auto. Gott muss die Entschlafenen mit sich führen, womit wie in V. 15-17 der Gottesbezug im Mittelpunkt steht. Die Wendung von der "Parusie des Herrn" V. 15b deutet S. ganz ungewöhnlich im Sinn von Gegenwart Gottes. Die in der Regel aus V. 15b herausgelesene Naherwartung bringt S. zum Verschwinden, indem er das attributive Partizip perileipomenoi im Sinn einer Einschränkung versteht: "wir Lebenden, insofern wir Übrigbleibende sind" (297). Paulus vertritt s. E. eine dem Jesuswort Mk 13,31 entsprechende Offenheit hinsichtlich des Endtermins - anders nach S. allerdings ein Teil der Gemeindeglieder, die aus der starken Kraft- und Herrlichkeitserfahrung des neuen Lebens sehr wohl die Überzeugung von der Nähe des Jüngsten Tages ableiten. In diese Hochstimmung bricht unversehens der Tod einiger Gemeindeglieder ein. Die sich ausbreitende Trauer (V. 13) ist Ausdruck einer "Glaubenskrise" (287). Die den Heiden fehlende "Hoffnung" bezieht sich auf den ihnen fehlenden Glauben. Die von der Glaubenskrise nicht erfassten Gemeindeglieder befähigt Paulus durch seine Unterweisung betreffs der Verbindung von Auferstehung und Jüngstem Tag zur geistlichen Ermunterung der Angefochtenen (V. 18).

Die Hauptthesen der Arbeit - der Gegenwartscharakter der Auferstehung, die Textlesung in 1Kor 15,51, die Bestreitung der Naherwartung, der Theophanie-Charakter von 1Thess 4, 15-17 sowie der Bezug der dortigen Kyrios-Aussagen auf Gott- haben den Rez. nicht überzeugt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hermeneutische Probleme exegetisch ausgeräumt werden sollen.