Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1155–1159

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Labahn, Michael

Titel/Untertitel:

Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. X, 559 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 98. Ln. DM 276,-. ISBN 3-11-016301-2.

Rezensent:

Rainer Metzner

Das vorliegende Buch ist eine bei Georg Strecker begonnene und nach dessen Tod von Eduard Lohse betreute Dissertation. In der Einleitung (1-8) erläutert der Vf. sein Programm. Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu der in der älteren formgeschichtlichen Forschung vernachlässigten formgeschichtlichen Untersuchung der joh Tradition. Dabei geht es dem Vf. um die Untersuchung "einer Geschichte der hinsichtlich ihrer Form analysierten Einzeltexte" (4), weil die Vorgeschichte eines Textes zur Vertiefung seines Verständnisses beiträgt. Dafür bedarf es der Analyse und der historischen Rekonstruktion eines Textes, um ihn in den Gesamtzusammenhang der joh Gemeinde- und Schultradition einordnen zu können.

Im zweiten Teil Historische und methodische Vorerwägungen (9-119) bietet der Vf. eine umfassende Begründung des methodischen Ansatzes der Arbeit und führt zugleich in kenntnisreicher Weise in die Probleme der Geschichte und der Literatur des joh Kreises ein. Dabei wird deutlich gemacht, dass die Einbindung des Johannesevangeliums in eine Schul- und Gemeindetradition begründet nach Traditionen fragen lässt. Theologische Entwicklungen und Konflikte ermöglichen Rückschlüsse auf rezipierte Traditionen. Die sehr gründlichen Überlegungen zu den joh Schriften, ihren Verfassern, zu Zeit und Ort ihrer Entstehung, zur joh Schule und den Konflikten mit Gegnern belegen dem Vf. die Annahme einer Entwicklungsgeschichte der joh Überlieferung, in der Traditionen entstehen, bewahrt und verändert werden konnten. Ausgangspunkt für die historische Rückfrage ist der vorliegende Text in seiner synchronen Gestalt. Doch darf dieser nicht zum autonomen Text werden, um eine diachrone Interpretation zu verwehren; denn der Text des 4. Evangeliums ist in seinem geschichtlichen Zusammenhang von einer Tradition schaffenden, bewahrenden und überliefernden Kraft der Gemeinde her zu verstehen.

In einer überzeugenden, an der gegenwärtigen Diskussion orientierten Kritik an Grundschrift- und Quellenhypothesen, an der Bestreitung nennenswerter mündlicher Tradition im NT und an der Annahme einer grundsätzlichen Diskontinuität zwischen Oralität und Literalität kann der Vf. deutlich machen, dass die Erkenntnis einzelner und z.T. differenter mündlicher und schriftlicher Traditionen die gegenwärtige literarische Einheit des 4. Evangeliums gut erklären kann. Die für die Scheidung von Tradition und Redaktion notwendigen Kriterien wie die theologische Eigenart des 4. Evangeliums, der Zusammenhang mit anderen joh Schriften, sprachliche und stilistische Merkmale, literarische Techniken des 4.Evangelisten, Kompositionstechniken, textliche Ungereimtheiten, gattungskritische Merkmale u. a. stellen der traditionsgeschichtlichen Untersuchung ein gesichertes methodisches Instrumentarium zur Verfügung. Für eine solche Untersuchung bietet sich mit den Wundergeschichten eine Gruppe von Texten an, die als gewichtiges Beispiel des Erzählstoffs quantitativ und qualitativ im ersten Teil des Evangeliums hervortritt (Joh 21,1 ff. bleibt bewusst unberücksichtigt). Wegen ihrer gattungsspezifischen Konsistenz und ihrer formalen und inhaltlichen Parallelen zu den synoptischen Wundergeschichten, die vielfach auf ihre Vorgeschichte hin untersucht worden sind, eignen sich die joh Wundergeschichten, in Analyse und historischer Rekonstruktion eine eigene Geschichte des joh Stoffes nachzuzeichnen.

Im dritten Teil seiner Arbeit Der Befund: Wundertraditionen und ihre Interpretation im vierten Evangelium (120-465) legt der Vf. eine umfassende Analyse und Rekonstruktion der joh Wundergeschichten nach der Reihenfolge im Text vor. Ausgangspunkt für die Untersuchung älterer Traditionen ist die Wahrnehmung von Kohärenzstörungen, Brechungen und Wachstumsringen, die nach Traditionsbenutzung fragen lassen. Die Ergebnisse recht umfangreicher Detailstudien können hier nur im Abriss wiedergegeben werden:

Das Weinwunder zu Kana (Joh 2,1-11) wird auf eine V. 1*.2*.3a.6aa.7-10* umfassende, in prodoketisch-hellenistischen Kreisen überlieferte Epiphanietradition zurückgeführt, in der Jesus nach dem Vorbild paganer Dionysos-Tradition als auf der Erde wandelnder Gott dargestellt wird. Auf einer zweiten Stufe kommt es zur Verschriftlichung der Tradition im Zusammenhang mit V. 12a und 4,46b ff. Der Evangelist schließlich nimmt die an Kana-Kapernaum situierte Wundersammlung auf, stellt an ihr das erste öffentliche Offenbarerwirken Jesu in Kana dar (Joh 2-4) und ergänzt in V. 1.2 und um 3b-4.6ab.9b.11 zu einer auf Stärkung des Glaubens (V. 11) ausgerichteten Erbauungsgeschichte über die Offenbarung der Doxa im Inkarnierten (1,14) und über Jesus als Spender des Lebens in einer neuen Heilszeit (in Anlehnung an atl. Motive wie: Fülle von Wein und Hochzeit).

Die Heilung des Sohnes des Königlichen (Joh 4,46-54) basiert auf einer aus sekundärer mündlicher Überlieferung von Lk 7,1-10 entstandenen, von prodoketischer Herrlichkeitschristologie beeinflussten und Jesus als göttlichen Wundermann und Lebensspender darstellenden Heilungsgeschichte (V. 46b.47*.50*.51 f.53). Der Evangelist (V. 46a.54) hat durch Eingliederung der Doppelwunderquelle in seine Komposition Joh 2-4 die Heilung als Aktualisierung des lebensspendenden Soter-Seins Jesu erzählt (4,42) und kritisch gegen das Missverständnis eines Mirakelglaubens abgesetzt (V. 48). Eine Interpolation in V. 50b verstärkt diesen Gedanken und setzt gegen den defizitär empfundenen Zeichenglauben einen "dogmatisch korrekten" Wortglauben (212).

Die Heilung des Gelähmten (Joh 5) basiert auf einer Jesus als machtvollen Wundertäter darstellenden Wundergeschichte V. 2-9c*, die auf die durch Jesus geschenkte neue Lebensqualität durch Befreiung von Krankheit und Schuld abhebt (V. 14). Der nicht ursächlich mit V. 2-9c verbundene Sabbatkonflikt V. 9d-16 bildet eine weitere Überlieferungsstufe, in der die ursprüngliche Heilungsgeschichte zu einer um V. 9d-16 und 7,21-24 erweiterten Konfliktgeschichte gestaltet wurde, die das kontroverse Gespräch der erzählenden Gemeinde mit der jüdischen Synagoge um die Rechtmäßigkeit des Sabbatwerkes Jesu widerspiegelt. Der Evangelist schließlich gestaltet Heilung und Konflikt im Zusammenhang der anschließenden Rede zu einer Demonstration des von Gott gesandten Offenbarers (V. 17 f.) und Lebensspenders (V. 21.34.40).

Joh 6 (Speisung und Seewandel) geht auf eine durch sekundäre mündliche Überlieferung von Mk 6,32 ff.45 ff. entstandene Sequenz eines Geschenk- und Epiphaniewunders zurück (Joh 6,5-15* und 6,16-21), die verschriftlicht und durch das Wunderfeststellungsverfahren V. 22-25* ergänzt wurde. Der Evangelist hat die vorliegende Wundersequenz als Präludium zur Brotrede gestaltet, auf Jesus als wahren Lebensspender ausgelegt und durch Petrusbekenntnis V. 68 f. und Verräterhinweis (V. 71) paränetisch akzentuiert. Durch die Glosse V. 23b (vgl. V. 51c-58) soll schließlich eine sakramentale Deutung mit dem Speisungswunder sekundär verbunden worden sein.

Die Blindenheilung in Joh 9 basiert auf einem traditionellen, am Wundertäter orientierten Wunderbericht (V. 1.6 f.), der durch den Sabbatkonflikt in V. (2-3a)13-17.24-34 erweitert worden ist. Hier wird Jesus in Diskussion mit der sabbattreuen jüdischen Gemeinde gegen den Vorwurf des Gesetzesbruches verteidigt. In einer dritten Phase gesteigerter Distanz zwischen Judenchristen und jüdischer Synagoge (vgl. 9,22 Aposynagogos) wird der Sabbatkonflikt durch V. 8-12.18-23 ergänzt. Der Evangelist hat schließlich die Wunder- und Konfliktgeschichte durch Einschübe wie V. 3b-5 und den Anhang V. 35-41 (mit 10,1-21) zu einer Beispielgeschichte für Offenbarung und Krisis, Glaube und Unglaube, Leben und Gericht geformt, in der Jesus als lebensspendendes Licht der Welt und Hirte der Schafe dargestellt wird.

Die älteste Form der Auferweckung des Lazarus (Joh 11) wird auf einen dem "Geheimen Evangelium des Markus" Frgm. 1 und Joh 11 vorliegenden, am göttlichen Wundermann orientierten Auferweckungsbericht zurückgeführt, dem die in Joh 11 rekonstruierte Tradition (V. 1*.3.5*. 17. 38b.39a.41a.43 f.) noch sehr nahe steht. Durch den Einfluss des Lukasevangeliums wurden in einer weiteren Überlieferungsphase die zunächst anonymen Gestalten mit Lazarus, Marta und Maria identifiziert. Der Evangelist hat schließlich das Lazaruswunder durch Einfügung von Reden und Deutungssignalen (V. 4.7-16.18-31.35-38a.39b-40.41b-42) sowie durch die Eingliederung in den Kontext des gesamten Buches zu einer Demonstration der lebensspendenden Macht der Doxa Jesu aktualisiert und als Vorabbildung von Tod und Auferweckung Jesu gestaltet. Es verbindet die Zeichen-Wunder (Joh 1-11) mit Passion und Auferstehung Jesu (Joh 13-20).

Im letzten Teil seiner Arbeit Zusammenfassung und Ausblick (466-502) ordnet der Vf. seine traditions-, form- und theologiegeschichtlichen Erkenntnisse in ein Modell joh Traditionsbildung ein. Die joh Wundergeschichten gehören mit ihrer Darstellung eines souveränen Wundertäters und ihren gesteigerten mirakulösen Zügen in die Spätphase urchristlicher Traditionsbildung. Sie setzen wenigstens teilweise die Synoptiker voraus oder erscheinen überhaupt als Spätphänomene der frühchristlichen Tradition (Joh 2 und 11). Die entwickelteren Traditionen von Joh 5 und 9 gehören in den palästinisch-judenchristlichen Bereich (Jerusalemer Lokalkolorit, Synagogenkonflikt), Joh 6 (vermutlich) in den judenchristlich-syrischen Bereich und Joh 2; 4 und 11 mit ihrer Herrlichkeitschristologie in den hellenistischen Bereich. Der Vf. rechnet daher damit, dass die judenchristliche Gemeinde (wahrscheinlich durch Abwanderung von Palästina nach Kleinasien) mit einer hellenistisch-heidenchristlichen Gemeinde verschmolzen ist. Die Auswahl der vorhandenen Wundergeschichten (Joh 20,30f.), die an atl. Heilshoffnungen wie Jes 26,19 (vgl. Lk 7,22par) erinnert und auf Jesus als verheißenen Retter deutet, sowie ihre Komposition und Eingliederung in die Jesus-Vita machen sie zu einem konstitutiven Bestandteil des 4. Evangeliums. Der Evangelist verdeutlicht an den Wundergeschichten, dass das Offenbarerwirken Jesu auf die Mitteilung der Gabe des Lebens für die Welt hin orientiert ist. Die Wunder sind "Zeichen" für Jesus als wahren Lebensspender.

Die Grundthese von Jesus als vollmächtigem Spender des Lebens kann überzeugen. Im Einzelnen wird man freilich Anfragen stellen.

Der Vf. bestreitet, dass der Evangelist die von der Herrlichkeitschristologie geprägten Wundertraditionen (Joh 2; 4 und 11) antidoketisch interpretiert hat, weil der Inkarnierte auch für den Evangelisten nicht ohne göttliche Doxa vorstellbar ist (203.479 ff.). Wenn aber Johannes seine Wundertraditionen in die auf Passion, Kreuz und Auferstehung zulaufende Jesus-Vita eingeordnet hat, ergibt sich die Frage, ob nicht diese narrative Einbindung in der Tat einen stärkeren kritischen Akzent gegenüber den vermuteten Herrlichkeitschristologien einbringt, als der Vf. annimmt.

Vielfach wird die Freude an traditionskritischer Schichtung überzogen. Joh 4,50b lässt sich im Erzählzusammenhang gut als Vertrauensäußerung des königlichen Beamten verstehen, so dass die Annahme einer postevangeliaren Interpolation (wie auch im Fall von 6,23b) und einer Kritik am Mirakelglauben nicht nötig ist. Auch 4,48 äußert keine solche Kritik. Der Vers lässt sich gut als positive Regel verstehen, wonach der Weg zum Glauben über die Erfahrung von Zeichen führt. In diesem Sinne passt sich V. 48 in das joh Verständnis von Zeichen und Glaube ein. - Ob 7,21-24 die ursprüngliche Fortsetzung des Sabbatkonfliktes gebildet hat, bleibt zweifelhaft. Das Stück 7,21-24 ist mit dem Kontext 7,19 f. enger verbunden, als der Vf. meint, denn Mose ist hier gleichartig als Gesetzgeber vorgestellt (vgl. 7,19.22: "Mose hat euch gegeben ...").

Die Unterscheidung zweier Überlieferungsphasen in 9,8-34 (Sabbatkonflikt: V. 13-17.24-34; Bestreitung des Wunders und Bekenntnissituation: V. 8-12.18-23) wirkt künstlich. Der Fortschritt im Verhör zwischen V. 8 ff., V. 13. ff., V. 18. ff. und V. 24. ff. kann als erzählerische Dramatik verstanden werden, die die Rekonstruktion zweier verschiedener Traditionsschichten nicht notwendig macht. - Die Zurückführung von Joh 11 auf eine im GEvM aufgenommene Tradition ist problematisch. Die Erzählzüge sind - gerade auch im Blick auf den Auferweckungsvorgang - z. T. so unterschiedlich, dass man nur schwer eine gemeinsame Auferweckungstradition voraussetzen kann. Die Anhäufung synoptischer Motive im GEvM lässt eher an eine sekundäre Nachbildung des Auferweckungsberichtes auf der Grundlage der kanonischen Evangelien denken. Für Lazarus hat das GEvM den (aus Mt 19) bekannten reichen Jüngling eingebracht, an dem sich die durch die Auferstehung geschehene Wende zu einem neuen Leben bestens darstellen ließ. - Schließlich wird man der Siebenzahl der aufgenommenen Wunder doch ein stärkeres Gewicht beimessen können, als es der Vf. tut (493). Johannes dürfte mit der Auswahl von sieben Wundern die Fülle und Vollendung (vgl. Gen 2,2; ApkJoh) der Offenbarungen Jesu in den Zeichen symbolisch zur Geltung bringen.

Trotz dieser nicht die Substanz betreffenden Einsprüche macht die vorliegende Arbeit in hervorragender Weise deutlich, wie die Anwendung der formgeschichtlichen Methode auf das Johannesevangelium zu fundierten und diskutablen Ergebnissen gelangen kann, die die Kenntnis über die Geschichte und Theologie des joh Kreises fördern. Dem Vf. gelingt es in erfreulicher Weise, durch kompetente und kenntnisreiche Detailstudien den Leser in die komplexen Probleme der joh Wundertraditionen hineinzuführen und ein beeindruckendes Bild joh Traditionsbildung zu entwerfen. Bemerkenswert ist die umfangreiche Kenntnis und Verarbeitung der Primär- und Sekundärliteratur. (Allein das Literaturverzeichnis bemisst 54 Seiten!) Die zahlreichen, den Umfang des Buches beinahe sprengenden Petit-Passagen geben von der Belesenheit und Kompetenz des Autors ein eindrückliches Zeugnis. Das Buch kann in Methodik, Argumentation und Ergebnis in weiten Stücken überzeugen und dürfte für eine weitere Beschäftigung mit der joh Wunderüberlieferung unerlässlich sein.