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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1154 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hochschild, Ralph

Titel/Untertitel:

Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. X, 297 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 42. Lw. DM 106,-. ISBN 3-7278-1257-5 und 3-525-53942-8.

Rezensent:

Walter Rebell

Das Buch, eine 1993 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommene und von Gerd Theißen betreute Dissertation, zeichnet den Prozess der Institutionalisierung der sozialgeschichtlichen Exegese nach. Dabei wird die Geschichte dieses Forschungsansatzes selber als ein sozialer
Prozess begriffen, beeinflusst sowohl von der Wissenschaftsorganisation als auch von gesamtgesellschaftlichen Faktoren. Dementsprechend greift der Vf. auch auf wissens- und wissenschaftssoziologische Modelle zurück, was der Darstellung eine größere analytische Schärfe gibt, als sie bei Forschungsgeschichten Standard ist. Zum Abschluss kam für den Vf. die Institutionalisierung der sozialgeschichtlichen Exegese Mitte der 80er Jahre. Diese Angabe dürfte konsensfähig sein, zu fragen ist jedoch, ob nicht 1989 für die materialistische Exegese einen Bruch bedeutet (wie für die Befreiungstheologie insgesamt).

Im Einleitungskapitel wird der Versuch unternommen, den komplexen Forschungsansatz "sozialgeschichtliche Exegese" in voneinander abhebbare Richtungen zu gliedern. Der Vf. schlägt folgendes Schema vor: sozialwissenschaftliche Richtung (Soziologie, Kulturanthropologie, Ethnologie; Vertreter: G. Theißen, W. A. Meeks, J. Gager, B. Malina); materialistische Exegese (Literatursoziologie, Strukturalismus, marxistische Gesellschaftstheorie; Vertreter: F. Bélo, M. Clévenot, K. Füssel); sozialdeskriptive Richtung (Palästinakunde, Landeskunde, Kulturgeschichte; Vertreter: M. Hengel, A. Malherbe, C. Burchard); sozialkerygmatische Richtung (Formgeschichte, Redaktionsgeschichte; Vertreter: L. Schottroff, W. Stegemann). - Mit dem Begriff sozialkerygmatisch soll ausgesagt werden, dass die soziale Botschaft des Neuen Testaments nicht wissenschaftlich distanzierend erhoben, sondern aktualisierend auf heutige gesellschaftliche Praxis angewandt wird.

Die sozialgeschichtliche Exegese, wie sie heute betrieben wird, hat eine Reihe verschiedener Wurzeln. Aus dem englischen Sprachraum nennt der Vf. die Chicago-School (erstes Viertel des 20. Jh.s); hier etablierte sich eine bis heute wirksame Forschungstradition, die unter dem Stichwort "Social Gospel" die gesamte Theologie (also nicht nur die exegetischen Fächer) auf soziale und sozialethische Fragen hin orientierte. Aus dem französischen Sprachraum werden jene Sozialhistoriker angeführt, die sich um die Zeitschrift "Annales" gruppierten und in der Geschichtswissenschaft einen Paradigmawechsel einleiteten: weg von einer bloßen Ereignisgeschichte, hin zu einer Sozialgeschichte, die auch gesellschaftliche Basisprozesse von langer Dauer - "longue durée" - berücksichtigt. Was die deutschsprachige Forschung angeht, nennt der Vf. als Wurzeln sozialgeschichtlicher Exegese die Landes- und Territorialgeschichte (mit ihrer Erforschung von Sitten und Gebräuchen), die Volkskunde-Folkloristik, die palästinakundliche Forschung (Begründer: G. Dalman) und die formgeschichtliche Methode.

Auf dem Weg zu ihrer Institutionalisierung durchlief die sozialgeschichtliche Exegese einen für die Etablierung neuer wissenschaftlicher Richtungen typischen "Fahrplan" (der Vf. folgt hier einem Modell von G. Namer): Anerkennung in der Wissenschaftlergemeinschaft, Anerkennung in den Massenmedien (für eine theologische Disziplin: in den Medien der kirchlichen Öffentlichkeit), Anerkennung bei den Rezipienten der Medien. Die Anerkennung der sozialgeschichtlichen Exegese auf der ersten Ebene zeigt sich z. B. darin, dass renommierte wissenschaftliche Buchreihen sozialgeschichtliche Themen aufnehmen, die Anerkennung auf der zweiten Ebene darin, dass kirchliche Praxishilfen dies tun, die Anerkennung auf der dritten Ebene darin, dass sozialgeschichtlich erarbeitete exegetische Ergebnisse in der Predigt Anwendung finden.

Den Werdegang der sozialgeschichtlichen Exegese von ihrem Beginn bis zur heutigen Etablierung im Wissenschaftsbetrieb teilt der Vf. in fünf Phasen ein, denen er jeweils ein eigenes Kapitel widmet: 1. Anfänge sozialgeschichtlicher Exegese: Wilhelm Weitling und Friedrich Lücke (In der Mitte des 19. Jh.s wird angesichts der sozialen Probleme, die die beginnende Industrialisierung mit sich bringt, auf Modelle urchristlichen Gemeinschaftslebens zurückgegriffen.); 2. Sozialgeschichtliche Exegese im Lichte der Sozialen Frage. Die Anfänge eines wissenschaftlichen Diskurses über die Sozialgeschichte des Urchristentums (Realgeschichtlicher Bezugspunkt ist immer noch die soziale Frage des 19. Jh.s; in Weiterführung der Ansätze von Weitling und Lücke, die noch am Rande der exegetischen Diskussion lagen, wird aber nun der Diskurs in der Wissenschaft selber eröffnet. Namen: C. F. G. Heinrici, G. Uhlhorn, H. J. Holtzmann.); 3. Die Verwissenschaftlichung der sozialgeschichtlichen Exegese um die Jahrhundertwende (Eine "volkskundliche" Form sozialgeschichtlicher Exegese entsteht, verbunden mit den Namen E. von Dobschütz und A. Deißmann. Ferner greifen mit grundlegenden Arbeiten E. Troeltsch und M. Weber in die Debatte ein.); 4. Sozialgeschichtliche Exegese in der ersten Hälfte des 20. Jh.s (Unter dieser Überschrift werden u. a. die Landeskunde Palästinas und die Formgeschichte behandelt.); 5. Sozialgeschichtliche Exegese und Zeitgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s (Der Vf. entfaltet in diesem Kapitel u. a. die These, dass sozialgeschichtliche Exegese zwar bezogen ist auf gesellschaftliche Verhältnisse - intensivierte Rezeption aufklärerischer Traditionen seit den sechziger Jahren-, sich aber dennoch zu zeitgeschichtlichen Voraussetzungen und Interessen in einem Distanzierungsprozess befindet.).

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die von R. Hochschild vorgelegte Forschungsgeschichte der sozialgeschichtlichen Exegese eine empfindliche Lücke in der Literatur schließt. Der Vf. geht souverän zu Werke, insbesondere hat er dem Schematismus, der jedem Projekt einer Forschungsgeschichte droht, gegengesteuert durch anspruchsvolle methodologische Vorgaben. Einige Akzente hätte man freilich anders setzen können: Manche Position mit nur wenig wissenschaftlichem Gewicht ist zu breit dargestellt (z. B. der religiös-sozialistische Ansatz W. Weitlings), hingegen wird die sozialgeschichtliche Exegese der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, also die eigentlich entscheidende Phase, auf ganzen 26 Seiten abgehandelt. Hier hätte man mehr Ausführlichkeit gewünscht, außerdem grundsätzliche hermeneutische Reflexion: Wie funktioniert sozialgeschichtliche Exegese im Zusammenspiel mit den klassischen exegetischen Methoden? Welchen Zugewinn bringt sie? Wo sind ihre Grenzen, wo ihre Möglichkeiten? Wie weit ist nicht nur ihre Institutionaliserung gelungen, sondern auch ihre Integration in den für exegetische Arbeiten verbindlichen Methodenkanon?