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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1152 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haufe, Günter

Titel/Untertitel:

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. XVI, 112 S. gr.8 = Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, 12/1. Kart. DM 35,20. ISBN 3-374-01743-6.

Rezensent:

Wolfgang Schrage

In der Reihe des Theologischen Handkommentars zum Neuen Testament ist dies die erste Bearbeitung des 1Thess überhaupt. Während vor dem Zweiten Weltkrieg nur einzelne Bände der Reihe erschienen sind, hieß es 1968 im Vorwort der neu begonnenen Serie von E. Fascher im Kommentar von W. Grundmann, dass G. Haufe die Thessalonicherbriefe bearbeiten würde. Nun, was lange währt, wird endlich gut. Denn dieser Kommentar, an dem der Vf. offenbar viele Jahre gearbeitet hat, ist zweifellos ein guter geworden. Die gründliche philologische und theologische Kommentierung des vermutlich ältesten Paulusbriefes ist mit großer Sorgfalt erarbeitet und lässt wenig Wünsche offen.

Auf Inhalts- (VI f.), Abkürzungs- (VIII-X) und Literaturverzeichnis (XI-XVI) folgt wie üblich die Erörterung der sog. Einleitungsfragen, wo der Vf. sich auf einen breiten Forschungskonsens stützen kann.

I. ("Der literarische Charakter des Briefes") behandelt 1. neben der wenig umstrittenen Frage der Echtheit auch die nach dem fast durchgängigen Wir-Stil und kommt zum Ergebnis, dass Paulus "der Hauptautor des Briefes" ist (mit Verweis auf 5,27), was aber nicht ausschließe, dass das Wir ein echter Pural ist. Der 2. Punkt ("Integrität") diskutiert kritisch mögliche Interpolationen (auch die Judenpolemik in 2,13-16 bzw. 2,15 f. lässt der Vf. mit guten Gründen nicht als Fremdkörper gelten, erst recht nicht den angeblichen Einschubcharakter von 5,1-11) und die Frage einer Kompilation (Teilungshypothesen finden keine Zustimmung). 3. belegt der Vf. den Rückgriff auf Traditionen (die Trias in 1,3; 5,8, die Zusammenfassung der heidenchristlichen Missionspredigt in 1,9 f., das Osterkerygma in 4,14, das Sterben Christi "für uns" in 5,10 f., bekannte Gebote in 4,1 f.9, "das Wort des Herrn" in 4,15-17 und traditionelle Taufparänese) und schließt sich 4. bei der Struktur des Briefes der üblichen Zweiteilung an (1,2-3,13+4,1-5,23); hier hätte die heute gewiss oft überbetonte, aber nichtsdestoweniger sinnvolle Frage nach der Einordnung in die antike Brieftypik und Rhetorik m. E. eine etwas ausführlichere Behandlung verdient gehabt. Der Vf. begnügt sich mit der kurzen Charakterisierung des 1Thess als "Mischbrief" und seiner Zuordnung zum genus deliberativum.

Teil II gilt der Vorgeschichte des Briefes, also 1. der Gründung der Gemeinde nach dem Zeugnis des Briefes und der Apg, 2. der Gemeinde und den Missionaren zwischen Trennung und Briefabfasssung (vgl. dazu auch 59, Anm. 214: Abfassung des Briefes in Korinth kurz nach der Rückkehr des Timotheus), 3. Datierungsvarianten (der Vf. optiert für die herkömmliche Frühdatierung, allerdings nicht, wie verschiedentlich angenommen, im Jahr 41, sondern 48/49) und 4. der Abfolge von 1Thess und 2Thess. Alles ist gründlich abgewogen und solide begründet und lässt auch die Forschungsgeschichte zu ihrem Recht kommen. Im Unterschied etwa zu den beiden Kommentaren von Pokorny in derselben Reihe verzichtet der Vf. am Schluss auf eine kurze Darstellung der Wirkungsgeschichte und eine Skizze der theologischen Bedeutung des Briefes in der Gegenwart.

Bei der Einzelauslegung wird nach Übersetzung und Literaturangaben zunächst jeweils Form und Funktion der Abschnitte bestimmt und dann dem Gedankengang des Paulus detailliert und mit bewährter historisch-kritischer Methodik nachgegangen, unterbrochen von drei kurzen, aber informativen Exkursen zur "Missionspredigt in nichtjüdischer Umwelt", zum "nichtchristlichen Israel im Urteil des Urchristentums" und zur "Kontinuität und Variabilität in der paulinischen Eschatologie". Allen ausgefalleneren Auslegungen steht der Vf. mit wohltuender Nüchternheit kritisch gegenüber. Auch sachkritische Urteile begegnen selten; von Röm 9-11 her sieht er gegenüber 2,14f. immerhin "ein ganz neues Nachdenken" angestoßen (51). Weitaus charakteristischer aber ist, dass der Vf. sich mit Recht darum bemüht, den Brief nicht von späteren Paulusbriefen her zu interpretieren, sondern im Licht der antiochenischen Theologie und der Missionspredigt, was freilich mit guten Gründen nicht auf Biegen und Brechen durchgehalten wird (vgl. z. B. 101 die Heranziehung von 1Kor 16,15 f.18 zur Erklärung der "im Entstehen begriffenen Leitungsstruktur" in 5,12).

Wenig eingehend werden die textkritischen Urteile begründet. Eigentlich ist das nur zu 2,7 der Fall, wo der Vf. von Nestle/Aland einmal abweicht und epioi bevorzugt. Die Literatur ist durchgehend ausgewertet, wobei man natürlich durchaus das eine oder andere vermisst, etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, zu 2,9 den Aufsatz von W. Pratscher zum Unterhaltsverzicht des Paulus (NTS 25, 1979, 284-298) oder zur philadelphia in 4,9 f. die Untersuchung von K. Schäfer, Gemeinde als "Bruderschaft", 1989, 129-162. Vor allem im Exkurs zum "nichtchristlichen Israel" wäre aus der Diskussion der letzten Jahre einiges nachzutragen (die letzte Angabe stammt hier von 1995). Doch ohne Auswahl geht es hier nicht mehr ab, und der Vorteil ist sicher die erreichte vorbildliche Knappheit. Dass man erst recht in einzelnen exegetischen Fragen das Gewicht der Gründe und Gegengründe auch anders beurteilen kann als der Vf., versteht sich von selbst und lehrt schon der Vergleich mit dem Kommentar von Holtz im EKK. Das gilt vor allem für schon immer kontroverse Punkte wie das Verständnis von skeuos in 4,4 im Sinne von Leib (70 f.) oder von yperbainein kai pleoknektein en to pragmati in 4,8 (nach dem Vf. nicht eine Übervorteilung im Geschäftsleben, sondern "der durch sexuelle Zügellosigkeit bedingte Einbruch in die Ehe eines Mitchristen", 72), ferner für die Annahme, dass der Brief die Thessalonicher erstmalig mit der Auferstehungsbotschaft bekannt machen soll (81 f.), dass proistamenoi in 5,12 auf Leitungsaufgaben zu beziehen (101) und pantas in 5,14 auf die vorher genannten drei Gruppen zu beschränken sei (103).

Der Kommentar ist sorgfältig durchgesehen. An Versehen sind mir außer einigen Akzentfehlern nur aufgefallen: S. 35 Z. 10 muss es richtig heißen agoni und S. 42, Z. 8 KuI statt KuJ; S. 69 Anm.14 Z. 2 muss das hebräische Wort wie in Z. 1 lauten, und S. 98 Anm. 175 ist Linghardt in Klinghardt zu verbessern.

Kurzum, es handelt sich um einen durch Klarheit der Sprache ausgezeichneten, vorbildlich konzentrierten, nüchternen und anregenden Kommentar.