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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1149–1152

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Harrington, Jay M.

Titel/Untertitel:

The Lukan Passion Narrative. The Markan Material in Luke 22,54-23,25. A Historical Survey: 1891-1997.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. XIII, 1003 S. gr.8 = New Testament Tools and Studies, 30. Ln. <¬> 182,00 US$ 212,00. ISBN 90-04-11590-0.

Rezensent:

Manfred Lang

Das opus magnum des Vf.s hat seinen Ursprung in der im Juni 1998 an der Katholieke Universiteit Leuven verteidigten Dissertation, die von Frans Neirynck begleitet wurde. Dabei will der Vf. die synoptische Frage an einem bekanntermaßen problematischen Gegenstand (lk. Passionsgeschichte) überprüfen: "we review their underlying Synoptic theory, their source theory as applied to the passion in general, then the trial of Pilate, and finally any contributions regarding the trial before Herod." (XII) Zugleich nimmt er eine Anregung von Martin Rese auf, der eine forschungsgeschichtliche Aufarbeitung vorgeschlagen hatte. Gerade auf diesem zuletzt genannten Aspekt liegt daher auch das hauptsächliche Interesse der Arbeit, deren erste zwei Kapitel sich immerhin über 688 Seiten erstrecken. Der dritte Teil widmet sich auf 115 Seiten ausführlich dem Herodes-Verhör (Lk 23,6-16). Der vierte Teil bietet neben einem Abkürzungsverzeichnis eine ca. 2.200 Titel umfassende Bibliographie, drei Appendizes und ein Autorenregister.

Der Vf. beginnt seinen "survey of the research 1885-1960's" (1) mit Paul Feines (1891) Vorschlag einer speziellen Lukas-Sonderquelle, die im englischsprachigen Raum von Burton Scott Easton (Kommentar zum LkEv 1926; vgl. seinen Aufsatz von 1910) favorisiert wurde. Mit dieser Position ist der Problemkreis der Markuspriorität eng verbunden, die ebenfalls mit dem ausgehenden 19. Jh. markiert ist und mit Heinrich Julius Holtzmanns Arbeit aus dem Jahr 1863 einen klassischen Vertreter hat. Aus dem frankophonen Raum ist diesbezüglich Firmin Nicolardot zu nennen, der 1908 auf die Überlegungen von Johannes Weiß zurückgriff. Die für das LkEv immer wieder erwogene Sonderquelle, die neben dem eigentlichen Sondergut existierte, wird besonders ausführlich forschungsgeschichtlich aufgearbeitet. Dabei zeigt es sich, dass solchen Erklärungsversuchen auf Dauer die persuasive Kraft fehlt. Das gilt auch für die zwar sehr bedeutsame Drei-Quellen-Theorie Burnett Hillman Streeters, der der Vf. besonders breiten Raum schenkt. Ihren Einfluss auch auf Joachim Jeremias, Friedrich Rehkopf, Vincent Taylor und schließlich Heinz Schürmann will der Vf. erweisen.

Das zweite Kapitel eröffnet der Vf. mit der Gerhard Schneider-David R. Catchpole-Debatte um eine Sonderquelle. Die Positionen von I. Howard Marshall bis Darrell L. Bock gehören insoweit einem ähnlichen Kontext an, da die Hypothese eines "Protolukas" lediglich eine Abwandlung der Überlegung ist, Lukas habe auf eine vorlukanische Sonderquelle zurückgegriffen. Zwischen diese beiden zuvor genannten Positionen werden die Beiträge von Allen F. Page und H. Van der Kwaak in einer sehr knappen Darstellung eingefügt, die durchgängig von lk Redaktion der mk Vorlage ausgingen. Beide richteten sich gegen die weithin akzeptierte These einer lukanischen Sonderüberlieferung, wie sie etwa Vincent Taylor vorgeschlagen hatte. Dieses zweite Kapitel endet mit der Darstellung des aufkommenden sog. "new literary criticism"; bekannte Positionen sind zu verzeichnen: Jean Delorme, Robert Tannehill, John Paul Heil, Bruce Malina, Richard Pervo.

Das dritte Kapitel (689-804) widmet sich nun einer detaillierten Exegese von Lk 23,6-16. Der Vf. versucht zu zeigen, dass dieser Prüfstein für lukanische Sondertradition am sinnvollsten aus der Kombination folgender Elemente verständlich wird: Mk 6,17-29; 15,16-20; Apg 4,25-27; 25 f.; und lukanische Redaktion. Der Vf. nimmt demnach den Lösungsvorschlag u. a. von Page und Van der Kwaak modifiziert auf.

Im vierten und letzten Kapitel sind neben einem Abkürzungsverzeichnis (807-815), eine Bibliographie (816-890), drei Appendizes ("Appendix I. Special LQ vocabulary and constructions according to J. Weiss" [891-915], "Appendix II. Theories of Lukan priority" [916-928], "Appendix III. The relation of the Herod pericope to the Gospel to Peter" [929-982]) sowie ein Autorenregister (983-1003) enthalten.

Was bleibt nach der Lektüre dieses mehr als 1.000seitigen Bandes? Positiv sind vor allem drei Aspekte zu erwähnen: Ein wahrer ,Literatur-Himalaja' wurde bewältigt und auch verarbeitet: 378 Autoren sind im Inhaltsverzeichnis angeführt und besprochen. Hinzu kommen noch zahlreiche summarische Nachträge weiterer Forscher am Ende einzelner Abschnitte. Auf diese Weise entsteht ein sehr facettenreiches Panorama zu einer wichtigen Debatte historisch-kritischer Exegese. Kein Zweifel, eine solche Präsentation verdient Respekt.

In diesem Zusammenhang sind zahlreiche ,Lesefrüchte' zu verzeichnen, von denen der Rez. nur folgende notieren kann: Bemerkenswert ist die Geschichte der sog. minor agreements, die ihren Anfang demnach im Lukas-Kommentar von Johannes Weiß nimmt, demnach ein Produkt des ausgehenden vorletzten Jh.s ist. Interessant daran ist, dass diese Beobachtung zwar immer wieder in wenigen Zeilen etwa der deutschsprachigen Einleitungen thematisiert wurde, aber eine umfangreiche Diskussion mit monographischem Ergebnis erfolgte erst in den letzten Jahren. Die exegetische These zu Lk 23,6-16 ist überzeugend durch wortstatistische Beobachtungen abgesichert. Minutiös zeigt der Vf. die mk Vorlage auf, die sich vom lk Stil unterscheidet.

Einige kritische Beobachtungen zunächst hinsichtlich des Inhalts:

Es wird nicht recht deutlich, warum das erste Kapitel für den Zeitraum ab 1885 überschrieben ist, dann aber der Haupttext mit Paul Feine (1891) und Johannes Weiß (1892) beginnt. Darüber hinaus mag es der Sache sicherlich dienlich sein, den Ausgangspunkt mit dem endenden 19. Jh. zu nehmen, es kann aber nicht folgenlos bleiben, die komplette vorangegangene Diskussion etwa von Christian Hermann Weiße in wenige Fußnotenzeilen zu verbannen. Dadurch entgehen dem Vf. wichtige Einsichten, die bereits Weiße auszeichneten. So ist es von Relevanz, wenn dieser etwa meint: "Keinem irgend aufmerksamen Betrachter kann es entgehen, daß das Zusammentreffen des ersten und dritten Evangeliums in der Auswahl des von beiden Erzählten sich schlechterdings auf keine andere Weise, als aus einer Gemeinschaftlichkeit der Quellen beider erklären läßt."1

Die konzeptionellen Anfragen sind noch grundsätzlicher und weitreichender: Wenn der Vf. die quellenkritischen Lösungsversuche zum Thema seiner Untersuchung wählt, muss es überraschen, wenn die formgeschichtlichen Arbeiten von Martin Dibelius, Karl Ludwig Schmidt und Rudolf Bultmann vorgestellt werden: Sicherlich sind forschungsgeschichtlich Literarkritik und Formgeschichte der Frage nach dem historischen Jesus verpflichtet, nicht jedoch der Rekonstruktion vermeintlicher Quellen. Wer hier etwa Äußerungen von Dibelius zur Rekonstruktion eines vormk Passionsberichtes anführt, verkennt, dass es Dibelius nicht um ein historisch-quellenkritisches Vorgehen ging, sondern um die Ermittlung der Rahmenbedingungen, die die Tradierung jenes Stoffes im mündlichen Stadium steuerten! Ähnlich wäre auch hinsichtlich seines Abschnittes zum sog. new literary criticism zu fragen: Besteht dort das Interesse an der Komposition oder an der Dekomposition? Damit wird die zugrundeliegende Problematik angesprochen, ob nicht die Abschnitte über die lk Redaktion mk Materials (1. Teil Kapitel 6 [364-409]; 2. Teil Kapitel 8 [488-496]) stärker hätte profiliert werden müssen gegenüber den Thesen einer Sonderquelle (Kapitel 9; 497-565) bzw. deren Derivat einer Sonderüberlieferung (278-363; 413-487). Auf diese Weise wäre deutlicher geworden, ob der sog. new literary criticism an der Komposition oder Dekomposition interessiert ist. Zudem hätte der Vf. leichter die lediglich sammelnden Nachträge einzelner Autoren vermeiden können, deren Positionen in den Fußnoten präsentiert werden.

Die vorgestellte Methodik des Vf.s im dritten Kapitel wirft die Frage auf, ob strenge Wortstatistik allein genügt, um die lk Redaktion eines Textes zu erweisen. Ergänzend hätte das Verhör Jesu vor Herodes in die gesamte lk Theologie eingezeichnet werden müssen. Hier bleiben die Überlegungen des Vf.s jedoch eher blass.

Die Bibliographie ist insgesamt etwas unübersichtlich gestaltet, da Beiträge aus Sammelbänden abgekürzt und unter dem Herausgeber in vollständiger Literaturangabe zitiert werden. Bei Festschriften muss sogar im Abkürzungsverzeichnis nachgeschlagen werden, bis alle Angaben entschlüsselt sind. Es hat wenig mit Beckmesserei zu tun, wenn das Fehlen der Kommentare zum MtEv, MkEv und zur Apg aus dem EKK moniert wird. Dies um so mehr, da etwa Ulrich Luz nicht nur in seinem Matthäuskommentar mit diesem Phänomen konfrontiert ist, sondern auch, weil er die ebenfalls nicht angeführte Arbeit seines Schülers Andreas Ennulat (Die "minor agreements". Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems, WUNT 2.62, Tübingen 1994) anregte.

Bei einem Buch dieser Preisklasse ist auch ein Blick auf Typographie und Layout zulässig: Besonders im Fußnotentext ist der Spiritus asper bzw. lenis auch in Kombination mit dem Zirkumflex nicht gut erkennbar, er verschwimmt fast zu einem Akut. Dagegen ist das völlige Fehlen der Hurenkinder-/Schusterjungen-Regel ein Mangel, der auf den Seiten 126; 130; 141; 149; 190; 209; 221; 624; 719; 766; 956; 965 ganz besonders unschön zutage tritt. Noch mehr hat den Rez. unangenehm berührt, dass die Fußnoten offensichtlicher Regent über den Haupttext sind: Gerade bei summarischen Nachträgen einzelner Autoren in Gestalt von Aufzählungen am Ende der Kapitel wird der Haupttext oft fast komplett von der Seite verdrängt.

Der Vf. hat eine umfangreiche Arbeit vorgelegt, die geeignet ist, einen sehr detaillierten Einblick in die bislang geleisteten Beiträge zum Problemfeld der lk Sonderquellen zu gewinnen. Die Anfragen werden den konstruktiven Umgang mit dem Band fördern.

Fussnoten:

1) Christian Hermann Weiße, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet I, Leipzig 1838, 85.