Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1142–1144

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dechow, Jens

Titel/Untertitel:

Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. XII, 323 S. gr.8= Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 86. Geb. DM 128,-. ISBN 3-7887-1779-3.

Rezensent:

Gudrun Guttenberger

Eine neue, "theozentrische" Interpretation des Markusevangeliums vorzulegen und sich mit dessen christozentrischer Deutung kritisch auseinander zu setzen, ist das Ziel Jens Dechows in seiner Dissertationsschrift (1997 in Bethel bei A. Lindemann), die er für die Veröffentlichung noch einmal leicht überarbeitet hat. Er untersucht das Verhältnis von Christologie und Verkündigung Jesu im Markusevangelium.

Der Untersuchung geht ein Einleitungsteil voraus, in dem der Vf. sein Forschungsinteresse formuliert, seinen methodischen Ansatz skizziert und den Aufbau der Arbeit kommentiert. Die christozentrische Deutung des Evangeliums, die der Vf. als Forschungskonsens einschätzt, versteht er als Folge einer dem Markusevangelium gegenüber unangemessenen Gleichsetzung des Begriffs "Evangelium Jesu Christi" in Mk 1,1 mit dem urchristlichen Kerygma. Durch diese Voraussetzung werde die Verkündigung Jesu der Christologie untergeordnet. Der Vf. demonstriert dies an Argumentationen Gnilkas (Theologie 1984) und Fendlers (Markus-Studien 1991). Er will die "Beziehung und Zuordnung von Botschaft Jesu und hoheitlich charakterisiertem Botschafter Jesus" (9) neu untersuchen. Seine Fragestellung bearbeitet der Vf. mit einer synchronen Untersuchung des Evangeliums. Als Kriterien für eine textgemäße und methodisch kontrollierte synchrone Interpretation bestimmt er Kohärenz und Widerspruchsfreiheit innerhalb der erzählten Welt.

Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht der Vf. Texte aus der ersten Hälfte des Evangeliums. Der letzte ausführlich bearbeitete Abschnitt ist Mk 8,27-9,13. Die Gleichnisrede in Mk 4 bestimmt er als Schlüsseltext für seine Lektüre des Markusevangeliums.

Bereits im ersten Kapitel seiner Untersuchung, das sich mit dem Prolog (bis einschließlich 1,15) beschäftigt, gewinnt er seine These: "Markus geht es in erster Linie darum, die Lesenden mit der eschatologischen Botschaft Jesu zu konfrontieren, die hoheitliche Identität des Botschafters spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle."(42)

Sein wichtigstes Argument greift den Begriff "Evangelium" aus Mk 1,1 auf. Dieser veranlasse den Lesenden zu fragen, worin das Frohmachende der folgenden Erzählung bestehe. Mk 1,14 f. nehme das auf: Frohmachende Botschaft sei das Markusevangelium als Erzählung von dem Verkündiger des Evangeliums Gottes. Dieses richte sich ohne christologische Vermittlung direkt an die Lesenden.

Im zweiten Kapitel untersucht der Vf. die Begriffe aus dem Summarium in Mk 1,14 f.: erfüllte Zeit, nahekommendes Gottesreich, Umkehr und Glauben. Jesus erwarte von seinen Hörern ebenso wie das Evangelium von seinen Lesern die Bereitschaft, sich auf die zukünftige Gottesherrschaft einzulassen, was eine Abkehr von der Unterwürfigkeit gegenüber Dämonen, Not und Naturgewalten bedeute.

Der Vf. bestimmt die erzählte Zeit des Markusevangeliums als eine Zwischenzeit, die durch die Paradiesesvorstellung (Versuchungserzählung Mk 1,12 f.) beschrieben sei. Satan sei zwar anwesend, habe aber nicht die Herrschaft inne. Umkehr erwarte die Abkehr von der Auffassung, dass Satan (Dämonen, Naturgewalten) herrsche, sowie eine Distanzierung von den Gegnern Jesu. Die Glaubensforderung meine die Aufforderung, die Verkündigung Jesu von der Nähe des Gottesreiches für wahr zu halten und sich vertrauend auf sie einzulassen. Die Auseinandersetzung mit der Position, dass sich "Glaube" im Markusevangelium auf die Person Jesu richte, führt der Vf. anhand der Wundererzählungen Mk 2,1-12; 5,21-43 und 10,46-52. Die Wunder drücken nach seiner Meinung die Kongruenz von Verkündigung Jesu und Wirklichkeit aus. Das Vertrauen auf den Wundertäter sei folglich als narrative Umsetzung des Vertrauens in dessen Botschaft zu verstehen. Für den Titelgebrauch in Mk 2,10 (gegenwärtiger Menschensohn) und 10,47 (Davidsohn) findet er neue Erklärungen. Mk 2,10 z. B. verwende den Menschensohntitel in der Absicht, die Hoheit Jesu zurücktreten zu lassen, insofern er für Mk mit Niedrigkeit und Leiden Jesu verbunden sei (103).

Der Vf. unterstützt seine Argumentation mit dem Verweis auf die Verwendung des Glaubensbegriffs in Mk 9,14-29 und Mk 11,20 f. Der Glaube richte sich auf Gott und die Kraft seines kommenden Reiches. Jesu Wundertätigkeit sei nicht an seine Hoheit gebunden, sondern an seinen Gottesglauben, und sei somit paradigmatisch.

Im dritten Kapitel setzt sich der Vf. mit der Messiasgeheimnistheorie schwerpunktmäßig anhand der Parabeltheorie (Mk 4, 10-12) auseinander. - Das Geheimnis der Gottesherrschaft sei nicht nur dem Jüngerkreis, sondern vielmehr der zuhörenden Menge gegeben. Von den Bildworten Mk 4,21-25 her versteht er das Geheimnis der Gottesherrschaft als auf Öffentlichkeit hin angelegt. Bedingung für die Teilhabe sei die Bereitschaft, sich vertrauend auf sie einzulassen. Die Erzählungen von der Stillung des Seesturms, die Speisungswunder und die Erzählung vom Seewandel stellten nicht die Hoheit Jesu heraus, sondern kritisierten, dass die Jünger nicht selbst Wunder vollbringen. Der Abschnitt Mk 8,27-9,13 erschließt sich dem Vf. von Mk 9,7 her. Der Akzent liege auf der Aufforderung, auf Jesus zu hören. Auch hier stehe also die Botschaft Jesu im Zentrum des Interesses (259).

Das vierte und letzte Kapitel widmet der Vf. einer Untersuchung des Begriffes Evangelium. - Evangelium meine zuerst die Verkündigung vom kommenden Gottesreich und schließe in nachösterlicher Zeit die Person Jesu als Verkündiger dieser Botschaft ein; von der Person Jesu sei das Evangelium jedoch in jedem Fall als eine unabhängige Größe klar zu unterscheiden.

Die Arbeit wird mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse abgeschlossen. Erstens erweise sich die erzählte Welt des Markusevangeliums als kohärent und widerspruchsfrei. Zweitens stehe in ihrem Mittelpunkt nicht die Christologie, sondern die Verkündigung Jesu von der kommenden Gottesherrschaft, die von den Lesenden Umkehr und Glauben fordere. "Die Christologie scheint von Markus ganz auf die im Zentrum seines Denkens stehende eschatologische Botschaft hingeordnet zu sein - der gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes charakterisiert seine eschatologische Botschaft, und die Hoheit des Botschafters hat die Funktion, diese als von Gott autorisierte Botschaft verstehen zu können." (288) Das Buch wird durch ein Stichwort- und Stellenregister erschlossen.

Der Vf. setzt sich von der Markusforschung mit Emphase ab (vgl. z. B. S. 146 zu Mk 15,32) und macht die Auseinandersetzung mit der christozentrischen Deutung ausdrücklich zu seinem Ziel. Gegenüber diesem Anspruch erscheint mir die Wahrnehmung der Markusliteratur als wenig differenziert und die Auseinandersetzung mit ihr als unzureichend. Bereits der Einleitungsteil macht das mit seiner Beschränkung auf ganze drei Arbeiten als Belege für den christozentrischen Konsens deutlich. Im Hauptteil hat das Gespräch mit der Forschung seinen Schwerpunkt bei den Kommentaren und klassischen Monographien. Besonders bedauerlich ist, dass der Vf. andere synchron ausgerichtete Arbeiten und ihre Ergebnisse, die in der Markusforschung schon seit vielen Jahren eine wichtige Rolle spielen, nicht rezipiert. Der Markuskommentar von Bastiaan Martinus F. van Iersel kommt selbst in den Fußnoten nur sehr gelegentlich vor, die bereits klassische Arbeit von David Rhoads und Donald Michie, Mark as story (1982), wird nicht zum Gesprächspartner, und eine so leicht zugängliche Arbeit wie Klaucks Vorspiel im Himmel (1997) begegnet nicht einmal im Literaturverzeichnis. Eine Ausnahme macht nur die Untersuchung von Zwick, die Kategorien aus der Filmwissenschaft zur Deutung des Markusevangeliums verwendet. Obwohl der Vf. seine Arbeit in die Debatte um die Verhältnisbestimmung von "geglaubtem Christus und geschichtlichem Jesus" (2) einordnet, wird die Frage nach der Gattung des Evangeliums nicht einmal gestellt. Hier klaffen Anspruch und Ausführung m. E. deutlich auseinander.

Ihre Stärke hat die Arbeit in der Textbeobachtung. Der Vf. nennt eine ganze Reihe von interessanten Beobachtungen, und seine sehr eigenständige Interpretation macht auf Aussagen und Bedeutungsnuancen aufmerksam, die bisher nicht gesehen oder nicht hinreichend gewürdigt worden sind. Sein Hauptanliegen, die Bedeutung der Theologie im engeren Sinn für das Markusevangelium aufzuweisen, ist m. E. plausibel geworden, auch wenn mir seine Antithetik und Absetzung von anderen Markusdeutungen ebenso unnötig wie unangemessen erscheint.

Die Argumentation im Einzelnen hat mich jedoch, auch wenn der Vf. viel Wert auf eine stringente Gedankenführung legt, nicht immer überzeugen können. Die Forderung, dass die erzählte Welt kohärent und widerspruchsfrei sein müsse (14 f.), zwingt den Vf. zu zuweilen waghalsigen Interpretationen (z. B. 103.111 zu Mk 2,10; 10,46 ff.). Es bleiben zwei grundlegende Merkmale des Markusevangeliums, die durch die Interpretation des Vf.s nach Auffassung der Rezn. nicht hinreichend gewürdigt werden: 1. Der Umfang der Logientradition ist gering im Vergleich zu dem der Wundertradition. Letztere der Verkündigung bzw. der Paränese vollständig zu subsummieren, erscheint mir nicht überzeugend. 2. Die Passionstradition ist ebenfalls umfangreich und tief ins Evangelium hinein verwoben. Ihrem Gewicht wird die knappe Deutung des Vf.s, Nachfolge führe in die Welt und damit ins Leiden (267), nicht gerecht. Dass Mk 10,45 ebenso wenig berücksichtigt wird wie Mk 14,22 f., ist folgerichtig.