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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1140–1142

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Scholl, Reinhard

Titel/Untertitel:

Die Elenden in Gottes Thronrat. Stilistisch-kompositorische Untersuchungen zu Jesaja 24-27.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XI, 300 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 274. Lw. DM 188,-. ISBN 3-11-016377-2.

Rezensent:

Friedrich Fechter

Die bei H.-J. Zobel 1997 angefertigte und für den Druck überarbeitete Greifswalder Dissertation schließt eine seit D. G. Johnsons Studie (1988) bestehende Lücke in der Forschung zu Jes 24-27. Die Arbeit weist jedoch weit über den genannten Textbereich hinaus.

Die "Einführung" (1-35) stellt sowohl Eigentümlichkeiten wie auch ungelöste Probleme der sog. Jesaja-Apokalypse dar (1-4) und gibt einen Überblick über Hauptlinien der Forschung. Die vier Kapitel seien zwar im Blick auf literarkritische, form- und traditionsgeschichtliche Aspekte, zu wenig hingegen auf ihre Verankerung im Jesajabuch hin untersucht worden. Ihr Verhältnis zur Apokalyptik und ihr religionsgeschichtlicher Ort seien immer noch strittig. S. wolle zum einen den Nachweis der (redaktionell erzeugten) Einheitlichkeit führen, zum andern die Desiderate nach Untersuchung der Querbezüge einerseits und nach sozial- und geistesgeschichtlicher Einordnung andererseits einlösen (35).

Unter "II Exegese" (36-174) analysiert S. kommentarähnlich die vier "Einheiten" Jes 24,1-20; 24,21-26,6; 26,7-21; 27,1-13 in jeweils drei Schritten: Im ersten werden Satzabgrenzung, hebräischer Text, Hinweise auf aufgegriffene Schriftstellen, Übersetzung und metrische Bestimmung in übersichtlichen Parallelspalten dargeboten (Textkritik und Übersetzungsfragen im Fußnotenapparat); der zweite bearbeitet die Literarkritik und grenzt innerhalb der "Einheiten" sog. "Perikopen" ab, die einzelexegetisch, stil- und formkritisch untersucht werden; der letzte Schritt bündelt die Ergebnisse. Exkurse zu zentralen Problemen finden sich am Schluss jedes Abschnitts. Diese übersichtliche Struktur ermöglicht in diesem Teil der Arbeit trotz detailreicher Darstellung eine rasche Orientierung.

Die Verse 24,1-3.4-6.7-13.14-16a.16b-20, "eine Art schriftgelehrte, redaktionelle Prophetie" (64), fasst S. als einheitliche Komposition mit der "Stadtproblematik als betontem ,Scharnier'" auf; Jerusalem sei gemeint, "[p]roduktive Mißverständnisse (Babel?)" könnten gewollt sein (63).

Mit der zweiten Einheit (24,21-23; 25,1-5.6-8.9-10a.10b-12; 26,1-6), in welcher der Duhmschen Unterscheidung von "prophetischen Orakeln und Liedern" ein begrenztes Recht zukäme (78), begegne nach der "pars destruens, 24,1-20" eine "pars construens", die vorwegnehmend den "Antritt der Königsherrschaft Gottes auf dem Zion interpretiere (116). Die alten Mächte (darunter auch das alte Jerusalem) würden durch Gottes richterliches Handeln abgelöst; die Errichtung einer durch Gerechtigkeit bestimmten Weltordnung werde zur "Befreiung einer Gemeinde der Elenden und Bedrückten" aus allen Völkern führen (117). Moab sei "aus für uns nicht mehr einsichtigen Gründen" als einziges Volk vom Heil ausgeschlossen, damit es beim Gericht nicht etwa Gelegenheit bekäme auf das erniedrigte Jerusalem herabschauen zu können (116).

26,7-19.20 f. weise zwar keine inhaltliche, aber eine stilistische (Anadiplosis, 135) Verbindung zum unmittelbar voranstehenden Kontext auf (124), während sich Verbindungen zu 24,1-20 (138) einerseits und eine durch eine paraphrasierende Aufnahme von Hos 13,4-14,10 gegebene Verknüpfung mit 27,1-11 andererseits erkennen lasse (125). Das zweiteilige Gebet (26,7-13: Gerechte und Frevler; 14-19: Geschick der Toten) beklage "konträr zu Jes (40); 54; 62" das Ausbleiben der in Hos 13 f. angekündigten unbedingten Heilszusagen (127), womit S. eine These von J. Day aufgreift. Obwohl es sich bei 26,7-21 um das zentrale Stück von Jes 24-27 handle, blieben die Formulierungen "merkwürdig unkonkret", was u. a. daran liege, dass "theologisches Neuland betreten" werde (140 f.). 26,19a sei als göttliches Heilsorakel, 26,19b als "bekennende Annahme" durch die Gemeinde zu verstehen (134 f.).

27,1.2-6.8-11.12 f. enthielten "nochmals die wichtigsten Themen der vier Kapitel" (174) und beschlössen nicht nur Jes 24-27, sondern auch den Zusammenhang ab Jes 13 (151). 26,20 f.; 27,1.12 f. seien miteinander durch das "Exodusschema" (153) verbunden; die im Endgericht bezwungenen Ungeheuer (27,1) seien Ptolemäer und Seleukiden. 27,2-6 dürften sowohl Umdeutung von Jes 5,1-7 wie auch Auslegung zu Hos 14,4-6 sein (153 f.). Dornen und Disteln (27,4) bezeichneten darin innere Feinde Israels, die aber nach V. 5 eine Umkehrmöglichkeit hätten (155 f.). Mit der in Jes 27 angesprochenen Stadt sei das jahwefeindliche, "personifizierte" Jerusalem gemeint (in Anlehnung an R. Hanhart), dem noch das endzeitliche Gericht Jahwes bevorstehe (158.160-162). Das erneuerte endzeitliche Jerusalem sei Zielpunkt der Diasporasammlung, der Kontrast zur Zerstreuung der Erdenbewohner (24,3) beabsichtigt (164 f.). 27,12 f. seien mit 11,11-16; 35,8-10; 56,8; 66,20 zu vergleichen, die jedoch gegen O. H. Steck nicht auf einer gemeinsamen redaktionellen Linie lägen (165-167).

Zu den Exkursen: Die berit olam (24,5) bezieht S. mit R. Hanhart auf den Sinai-berit und die im Kontext angesprochenen Verfehlungen auf die Sünde Israels, die sich ähnlich wie in Zef 1,2-6 zur Weltkatastrophe ausweite (65-69). - Die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes (104-115) enthalte in einer von Ex 24 beeinflussten (110) Umformung der Chaoskampfvorstellung ein herrschaftskritisches Moment, das sich sowohl auf irdische wie auf himmlische Mächte beziehe (108); die Gerechten/Armen seien diejenigen, die bei dem Krönungsmahl (112) ",oben' auf dem Zion an Gottes Tisch sitzen" (110). Vergleichbar sei die "prophetische Liturgie Ps 82", welche "die Theologie des großen Stadtgedichtes" in nuce enthalte (109).

In "Tod und Auferstehung in Jes 24-27" (141-145; diskutiert werden neben Jes 25,8a ; 26,14.19 auch Ps 22,23-32; 49,16; 73,24) gelangt S. zur Erkenntnis, dass vor allem die Theodizee-Frage den Ausgangspunkt des Nachdenkens über eine Überwindung der Todesgrenze bilde. In Jes 24-27 komme neben der Vorstellung einer nationalen Restauration auch die einer leiblichen Auferstehung zum Tragen; eine ausschließende Alternative sei "unsinnig" (145). Der Exkurs zur Problematik der Stadt in Jes 24-27 (168-174) betont, dass (gegen Hanhart an allen Stellen in Jes 24-27) Jerusalem gemeint sei, das "auch Charakteristika Babylons an sich gezogen hat" (172).

Die sorgfältig gearbeiteten Exegesen setzen S. in Stand, in "III Jes 24-27 als Kompositorische [sic] Einheit und Teil einer größeren Redaktion" (175-255) eine sehr komplexe Sicht nicht nur seines Untersuchungsbereiches, sondern des gesamten Jesajabuches vortragen zu können. Leitwörter (175-179) und Themenbezüge (180-184) erwiesen die stilistische Einheit von 24-27. Der Verankerung im Jesajabuch und der inneren Kohärenz widmet S. den folgenden Abschnitt (185-223): Es handle sich um schriftgelehrte Prophetie (223), nämlich redaktionelle Fortschreibung älteren Materials (u. a. Jes 1,2-28: 186-188; 4,2-6: 188 f.; 6 i. V. m. 40,1-11: 196-199; 35: 204; 54 f.: 216 f.; zu weiteren Texten vgl. 192 [Tabelle], 207-210 und 215-219), und liege auf gleicher Ebene wie Jes 1,29-31 (188); 12 (195 f.); 13,1b-16.22b; 14,5.20b.21 (199-207; hier beruft sich S. auf Vorarbeiten von B. M. Zapff); 29,17-24 (208 f.); 33 (210-214); 56,1-8 und 65 f. (220-222). Jes 24-27 gehöre gemeinsam mit den genannten Texten zur "Schlußredaktion des Jesajabuches" (223), die entgegen K. Koenen "in erster Linie Gericht und nicht Heil zu verkündigen" habe (279).

Es zeigten sich Anleihen anderer Stücke aus dem AT: Jer 48,43 f. (224 f.); Hos 2; 4; 13,4-14,10 (225-229); Am 5,1-17 (229 f.); Nah 2,11 und Gen 7,11.16 (230 f.), die S. zu der Vermutung führen, er sei einer prophetischen Gesamtredaktion auf der Spur, die er v. a. im Dodekapropheton (erwähnt sei bes. der Abschnitt zu Zef [237-246] und zum Psalter [248-254]) findet.

"IV Zum Wurzelboden von Jesaja 24-27" (256-284) versucht das "Stadtgedicht" geistesgeschichtlich zu verorten. "Musivstil" (in Anlehnung an L. Alonso-Schökel), Eschatologisierung und die (behauptete) Kenntnis spätnachexilischer Texte (Jes 34 f.; Joel; Ob 15-21) legten es nahe, dass die Redaktion im Jerusalem der frühen Ptolemäerzeit (258-268; S. greift Thesen von J. Nogalski und O. H. Steck auf) in Kreisen oberschichtkritischer Armentheologie zu suchen sei (268-273). Sie habe eine nicht für den Tempel, sondern für "Gemeinschaftsgottesdienste" (276) bestimmte "prophetische Liturgie" geschaffen (in Anlehnung an R. Albertz), weshalb Jes 24-27 keinesfalls "Apokalypse" genannt werden dürfte (280-283 im Vergleich mit Sach 14).

Mit einem knappen, leider nicht alle Aspekte erfassenden "Ergebnis" (285-288) und dem Literaturverzeichnis endet diese inhaltsreiche Arbeit.

S. liefert ohne Zweifel einen wichtigen, wenn auch im Detail vielleicht nicht immer zustimmungsfähigen exegetischen Beitrag. Ob die z. T. sehr weit gefassten redaktionsgeschichtlichen Thesen tragen, muss gefragt werden. Hier wäre bisweilen ein vorsichtigeres Urteil wünschenswert. Während die ohnehin zahlreichen Textbezüge im exegetischen Teil in den meisten Fällen zumindest kurz erörtert werden, fehlt Entsprechendes z. B. zur behaupteten Beziehung zu Jes 34 f. ganz. Der bloße Verweis auf O. H. Stecks Arbeiten kann dies nicht ersetzen. Im Übrigen ist die für diese Frage wichtige Arbeit von C. Mathews, Defending Zion, BZAW 236, 1995, übersehen worden.

Es fällt die für die Reihe ungewohnt nachlässige Form auf: zahlreiche Druckfehler (auch bei Stellenangaben), unausgeglichene Literaturangaben und v. a. das völlige Fehlen eines bei dieser Weite des Zugangs eigentlich unbedingt notwendigen Registers stören doch sehr. Trotz der genannten Einschränkungen stellt die Studie einen sehr wichtigen Beitrag zum Verständnis von Jes 24-27 dar.