Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1135 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kessler, Rainer

Titel/Untertitel:

Micha. Übers. u. ausgelegt.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1999. 320 S. gr.8 = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Lw. DM 118,-. ISBN 3-451-26849-3.

Rezensent:

Winfried Thiel

Das anzuzeigende Buch eröffnet eine neue Kommentarreihe, die im Herder-Verlag erscheint. Sie wird in der Verlagsankündigung als "ökumenischer Kommentar" bezeichnet, der in einer internationalen Kooperation von jüdischen und christlichen Mitarbeitern entstehen soll. Dabei ist beabsichtigt, den Schwerpunkt auf die Herausarbeitung der Makrostruktur des Endtextes und auf dessen theologische und kanonische Interpretation zu legen. Außerdem soll in der Auslegung die Eigenart des Alten Testaments als Heilige Schrift der Juden und als Teil der christlichen Bibel zum Zuge kommen. Die einzelnen Bände werden zeigen müssen, ob diese Voraussetzungen eingelöst werden konnten.

Bei dem vorliegenden Kommentar ist das unbedingt zu bejahen. Er verbindet in glücklicher Weise die Einzelexegese mit dem Blick auf die Makrostruktur. Bemerkenswert ist die Behutsamkeit, mit der K. die Texte behandelt. Gegenüber textkritischen Korrekturen und literarkritischen Operationen wahrt er größte Zurückhaltung. Manchmal erscheint mir die Vorsicht fast als zu groß. Das ist etwa der Fall, wenn K. einen naheliegenden Texteingriff mit der Bemerkung ablehnt, dass die Textänderung ähnliche Unsicherheiten impliziere wie der hebräische Text. Auch der Verzicht auf literarkritische Entscheidungen innerhalb eines Einzeltextes überzeugt nicht immer (H. W. Wolff ist in dieser Hinsicht weiter gegangen). Dass diese Zurückhaltung aber nicht dogmatisch gehandhabt wird, erweist die Auslegung von 6,9-16. Gegenüber der redaktionsgeschichtlichen Interpretation äußert K. ebenfalls Vorbehalte. Er bevorzugt das Modell einer sukzessiven Fortschreibung und beurteilt die dadurch bewirkten Text- und Kompositionsveränderungen (mit einem Ausdruck von G. Metzner) als "Neukonzipierung ganzer Textgruppen".

Als kritisch gesichertes Minimum eines alten Mi-Textes arbeitet K. die Einheiten Mi 1,10-16; 2,1-3.6-11; 3,1-12 heraus. Sie seien aber schwerlich von Micha verfasst, sondern spiegelten das Bild der Tradenten des 7. Jh.s von ihm wider, das Bild "eines furchtlosen Kritikers der sozialen und politischen Verhältnisse, der in Vollmacht den Untergang Jerusalems ankündigt" (45). Es handelt sich nicht um eine Sammlung von Einzelworten, sondern um eine "Micha-Denkschrift", in der die Tradenten die Botschaft des Propheten (aus der Zeit um 701 v. Chr.) in verdichteter und integrierter Weise wiedergeben. Die These H. W. Wolffs von zu Grunde liegenden "Auftrittsskizzen Michas" wird dementsprechend verworfen.

Die jüngeren Schichten sind als bewusste Neuinterpretationen des jeweils vorgegebenen Textes zu verstehen. Bald nach der Katastrophe Judas von 587/6 wurde die Denkschrift durch 4,8-5,3 ergänzt. Die Texte dieser frühexilischen Fortschreibung (4,8 als "Antiphon"; 4,9 f.; 4,11-13; 4,14-5,3; 5,4 f. als Anhang), wohl aus dem Kreis von Jeremia-Schülern, konstatieren die Erfüllung der Ankündigung Michas ("jetzt" in 4,9.11.14) und entfalten die Hoffnung künftigen Heils.

In der frühen Perserzeit wird die Michaschrift auf den Umfang von Kap. 1-5* gebracht, und zwar durch Einfügung von 1,2-9; 2,4 f.12 f.; 4,1-4.6 f.; 5,6 f.9-14. Hier weitet sich der Blick auf die Völker und ihr Verhältnis zu Israel, an dem sich ihr Schicksal entscheiden wird. Die Hoffnung der Heilswende für (ein geläutertes) Israel - Samaria ist davon ausgeschlossen (1,2-7) - wird aufrechterhalten.

Die Erwartung einer Läuterung und einer Heilswende bewahrheitete sich nicht. In dieser Erfahrung wurzeln die ebenfalls perserzeitlichen Texte 6,1-8; 6,9-16; 7,1-7 (von der Mitte oder der zweiten Hälfte des 5. Jh.s). Sie bejahen zwar die Zukunftserwartung, jedoch unter dem Vorzeichen einer erneuerten sozialen Kritik. Die Hoffnung wird nach 7,1-7 an den Propheten gebunden. (Was das unter diesen Zeitverhältnissen konkret bedeutet, bleibt allerdings offen.) Aus der ausgehen- den persischen oder der beginnenden hellenistischen Epoche stammt die Schlussredaktion der Michaschrift. Ihr gehören 4,5; 5,4; 5,8 und 7,8-20 an. In dem sich hier in Bekenntnissen und Gebeten äußernden "Wir" wird "die Gemeinschaft erkennbar, die sich den ihr vorliegenden Michatext zu eigen macht" (47). Gegenüber der These einer gottesdienstlichen Verwurzelung der Texte bleibt K. skeptisch.

Die Michaschrift weist Bezüge zur Amos-, Jesaja- und Jeremia-Überlieferung auf. Zusammen mit Hosea, Amos und evtl. auch Zefanja hat sie wohl eine Teilsammlung des entstehenden Dodekaprophetons gebildet. Sie ist als "Oppositionsliteratur" von Minderheitengruppen zu werten. Die Relevanz der Micha-Texte für die Gegenwart ("Micha heute lesen") verhandelt K. unter den Gesichtspunkten: "Micha feministisch lesen", "Israel und die Völker", "Micha der Kritiker" und "Micha der Visionär", und fasst am Ende zusammen: "Micha ... heute lesen heißt, durch alle Kritik hindurch, die aufzugreifen und weiterzuführen ist, nach Bildern eines guten und friedlichen Lebens zu fragen, die zugleich Hoffnung geben und in politische Bewegung versetzen können. Wer als Christ oder Christin Micha so liest, wird dies nicht an Israel vorbei tun können, sondern wird gerade auf den Zion als Ort des Heils verwiesen werden." (70)

Die Kommentierung ist in die Abschnitte Literatur - Text - Analyse - Auslegung - Bedeutung (zu 4,1-5: Wirkung und Bedeutung) eingeteilt. Besondere Fragestellungen werden in Exkursen verfolgt: "Die These einer Micha-Denkschrift in Mi 1-3*", "Die Zeitstruktur des Michabuches", "Micha in Lateinamerika", "Die These einer frühexilischen Fortschreibung von Mi 1-3* in 4,8-5,3", "Das Wir in den Michatexten". Dass K. seine sozialgeschichtlichen Interessen und Kompetenzen in die Auslegung einbringt, ist selbstverständlich. Seine These, in den Texten sei keine absolute Unheilsankündigung widergespiegelt, sondern es werde zwischen Tätern und Opfern unterschieden, dürfte zur Auseinandersetzung anregen und die Frage aufwerfen, ob die dafür aufgebotenen Beobachtungen und Argumente tragfähig sind.

Noch manches möchte man zur Textinterpretation anmerken, so zur Differenzierung von 2,1-5 in einen alten Bestandteil V. 1-3 und eine perserzeitliche Fortschreibung 2,4 f. oder zur glatten Trennung in 4,14-5,3 (exilisch) und 5,4 f. (Endredaktion). Aber solche Einzelheiten mögen der Fachdiskussion vorbehalten bleiben. Der Kommentierung sind einige Skizzen beigegeben. Ein Register der Bibelstellen schließt das Buch ab. Die damit eröffnete Kommentarreihe ist indessen durch das Erscheinen weiterer Bände fortgeführt worden.