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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1100–1104

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ziemer, Jürgen

Titel/Untertitel:

Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 360 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2147. Kart. DM 43,80. ISBN 3-8252-2147-4.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Ein Buch "ohne Konkurrenz" - so resümierte (noch in PTh H.1/2001, 61) Eberhard Hauschildt in seinem Buchbericht zu Klaus Winklers "Seelsorge" (de Gruyter, Berlin/New York 1997). Doch die Konkurrenz kam schon im letzten Jahr auf den Markt. Sie kann sich sehen lassen, und Dietrich Stollberg hat nun im Hinblick auf diese Konkurrenz seinerseits das Fazit gezogen: "Keine Frage: ... Ohne ,den Ziemer' wird in absehbarer Zeit kein Examen über Seelsorge mehr zu bestehen sein" (WzM H.2/2001, 122).

Möge er Recht behalten, denn das vorgelegte Buch bietet mit seiner didaktisch vorzüglichen Struktur sowohl eine plausible Systematisierung als auch eine konzentrierte Durchdringung dessen, was man über Seelsorge und als Seelsorger und Seelsorgerin wissen sollte. Das geht bereits aus der vorangestellten "ersten Verständigung" über den Begriff der Seelsorge hervor: Hier skizziert der Vf. Seelsorge als zutiefst menschliches wie unverzichtbares kirchliches Handeln, er markiert sie als "Brücke zur entkirchlichten Welt" (15), sieht sie zu Tage treten in den vielfältigen Äußerungsformen des Lebens der Gemeinde, und - at last but not least - erwartet er von ihrer Lehre kritisch-konstruktive Impulse, die nicht nur intern-theologisch stimmig sind, sondern aus der theologischen Auseinandersetzung mit konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten und den spezifischen Lebens- und Leidenserfahrungen des Einzelnen hervorgehen.

Die hier in den Blick genommenen Perspektiven lassen erkennen, dass der Vf. den von Dietrich Rössler seinerzeit analysierten Trends zur Simplifizierung ebenso zu entkommen weiß wie dem der Überspezialisierung, die nur noch die ,Spezialisten' unter den Seelsorgern erreicht.

Dem entspricht es, dass das Buch in seinem 1. Kapitel nicht mit historischen Informationen einsetzt, sondern mit einer Analyse der "Kontexte heutiger Seelsorgepraxis" beginnt (21-40). Damit begibt sich der Vf. in medias res, an die Orte nämlich, an denen der ,Bedarf' von Seelsorge heute sichtbar wird - was nicht heißen soll, dass er allein auf diese Weise auch begründet werden soll. In diesem Zusammenhang spielen der besonders in den Sozialwissenschaften diskutierte Verlust an Sicherheiten und Gewissheiten sowie die Folgen der Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens eine herausragende Rolle, ohne dass Z. je ins Larmoyieren kommt. Für Menschen, die in der Seelsorge arbeiten, ist es zunächst wichtig, sich vor diesem Hintergrund die geänderten Erwartungen an die Kirche zu vergegenwärtigen (ohne sie deshalb ,bedienen' zu müssen), das Problem des Glaubwürdigkeitsverlustes der Kirche sehen zu lernen, ihren Konkurrenzdruck wahrzunehmen, ihre spezifischen Potentiale zu erkennen.

Erst auf der Basis dieses Problemwissens wird der Leser nun mit biblischen Maßstäben für die Seelsorge sowie mit historischen Ausprägungen und Entwicklungen ihres Verständnisses konfrontiert (Kapitel 2). Dabei ist es dem Vf. gelungen, ermüdende Langstreckenläufe durch die Geschichte der Poimenik zu vermeiden (vgl. dagegen K. Winkler, a. a. O., 77-171) und statt dessen die historisch aufweisbaren Ziele der Seelsorge so zu fokussieren, dass sie als Teilaspekte eines Gesamtverständnisses von Seelsorge hervortreten. Vielleicht wäre es noch effektiver gewesen, die Einsichten aus der Geschichte der Seelsorge überhaupt an den Punkten in der Gesamtdarstellung zur Sprache zu bringen, wo es sich aus sachlichen Gründen jeweils anbietet, auf sie zurückzugreifen. In gewisser Weise gilt das auch für Kapitel 3, in dem gegenwärtige Reflexionsperspektiven von Seelsorge (nämlich Seelsorge als "Verkündigung im Gespräch", als "Beratung" und als "biblische Therapie") nacheinander erörtert werden, d. h., man hätte sie auch dort zur Sprache bringen können, wo die Probleme verhandelt werden, für die diese Ansätze eine ,Lösung' zu bieten versuchen. Andererseits kommt der vom Vf. bewusst gewählte Weg zweifelsohne dem Übersichtsbedürfnis Studierender entgegen, die sich u. U. nicht darüber im Klaren sind, dass hinter einzelnen Theorieelementen der Seelsorgedebatte ganze theologische Programme stehen.

Dass die eben angesprochene Frage der Aufnahme seelsorgegeschichtlicher Aspekte vom Vf. gerade so gelöst wurde, hat darüber hinaus den positiven Effekt, dass in den problemorientierten Kapiteln des Buches das Eigenprofil seines pastoralpsychologisch fundierten Seelsorgeverständnisses umso stärker hervortritt. Die pastoralpsychologische Perspektive wird nicht als eine unter vielen erörtert, sondern ist für das ganze Werk leitend. Was heißt das? Z. vermag in sorgfältiger Sondierung bereits bekannter pastoralpsychologischer Impulse zu neuen, spezifischen "Optionen für die Zukunftsentwicklung einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge" vorzudringen (96-108). Dabei wird "ethischen Fragestellungen" und der "Pluriformität" in der Praxis der Seelsorge (das heißt u. a. Einbeziehung von Laien), "gesellschaftlichen, politischen und ökono- mischen Kontexten", dem Verständnis von Seelsorge als einer Form "aktiven, sozialpolitischen Engagements" und der Notwendigkeit zu "interkulturellem Dialog" besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. 106). Der Vf. löst hier vieles von dem ein, was er in früherer Zeit als Desiderat poimenischer Forschung und Konsequenz pastoralpsychologischer Überzeugungen markiert hat: "stärkere Aufmerksamkeit für die strukturellen Probleme der Gesellschaft", Wiedergewinnung des gemeindlichen Kontextes als Ursprungsraum der Seelsorge u.a.m. (vgl. J. Ziemer, Zwischen Kontext und Text. Erwägungen zu den künftigen Wegen der "Wege zum Menschen", in: WzM, H. 8/1998, 458-467, 461 f.).

Ein besonderes Verdienst des Buches ist es, einige irreführende alternative Problemanzeigen für Theologie und Psychologie bzw. Seelsorge und Psychotherapie (perpetuiert nicht zuletzt durch überalterte Examensreader - Anm. des Rez.) mit überzeugender Selbstverständlichkeit zu überwinden (109-149). Das geschieht, indem die theologischen Aspekte von Seelsorge (Kapitel 4) zunächst so herausgearbeitet werden, dass sie die Seelsorge als ein theologisches Fach bzw. als ein Handeln aus Glauben plausibilisieren; gleichzeitig aber wird Seelsorge als emanzipatorischer Akt im Interesse des Menschen, als Befreiungsgeschehen, als Orientierungsarbeit und solidarische Gemeindepraxis verdeutlicht, wobei Wirkungen und Ziele angesprochen werden, die durchgängig psychologische Kehrseiten und teilweise psychotherapeutische Effekte haben. Von dort aus wird konsequenterweise weitergefragt: "Welche Psychologie braucht die Seelsorge?" (Kapitel 5) Auf der Basis eigener Kriterien für eine poimenische Rezeption der Psychologie beschreibt Z. schließlich das Proprium christlicher Seelsorge vom Glauben her: Den Heilswillen Gottes als unzweifelhafte Gewissheit seelsorgerlichen Handelns vorausgesetzt, sind es bestimmte Erscheinungsweisen des Glaubens, die der Seelsorge einen spezifischen Bezugsrahmen verleihen, der in der Therapie so nicht vorausgesetzt werden kann: der Glaube des Seelsorgers, der ",objektive' Glaube der Gemeinde" (in deren Auftrag die Seelsorge geschieht) und der "potentielle Glaube" des Ratsuchenden (vgl. 142 f.). So gewiss Seelsorge psychologische Arbeit sein muss, erschöpft sie sich darin nicht, sondern geschieht immer "im Vertrauen auf die für den konkreten Mitmenschen relevante heilende Gegenwart Gottes" (143).

In Anbetracht der immensen Bedeutung, die das Gespräch als zentrales Medium der Seelsorge für die Gestaltung und den Verlauf poimenischer Prozesse hat, ist es angemessen, in einem eigenen Kapitel (6.) auf das Verhaltensrepertoire von Seelsorgern in der Gesprächssituation einzugehen. Ohne die Konturen spezifischer Elemente des seelsorgerlichen Gesprächs - die andernorts nur bestimmten Ansätzen der Seelsorge zugesprochen werden - zu verwischen, gelingt es Z., eine überzeugende Synthese geistlicher, therapeutischer und ,strategischer' Aspekte des seelsorgerlichen Gesprächs herzustellen. Hier zeigt sich in besonderer Weise der Gewinn einer integrativen, pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge und ihrer Maximen (101-106).

Im Interesse einer Erweiterung und Vertiefung der dabei angesprochenen Möglichkeiten der Gestaltung eines seelsorgerlichen Gesprächs (vgl. die Übersicht 168 f.) wäre es vielleicht günstiger gewesen, dieses Kapitel - im Sinne eines Resultats aus allen vorausgehenden Abschnitten - weiter nach hinten zu stellen oder zumindest das Kapitel von der Person des Seelsorgers (vgl. 7.: Der seelsorgerliche Beruf) vorzuziehen. Denn erst, wenn man sich seiner Ambivalenzen (z. B. des eigenen Mitbetroffenseins) bewusst ist, wenn man etwas über seine eigenen Ängste und falschen Selbstbilder weiß, kann man im Gespräch ,in Person' in Erscheinung treten und in personaler Kompetenz handeln, die für das seelsorgerliche Gespräch unerlässlich ist und von kommunikativer, hermeneutischer und schließlich auch geistlicher Kompetenz nicht getrennt werden kann. Auch das Gelingen und Scheitern der notwendigen Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe im seelsorgerlichen Gespräch hängen ja zumindest teilweise mit Problemen zusammen, die in der Persönlichkeitsstruktur des Seelsorgers liegen. Da der Vf. diese Zusammenhänge selbst sieht und präzise erläutert, könnte dem auch durch die Struktur der Gliederung noch stärker Rechnung getragen werden.

Es ist ausgesprochen hilfreich, dass Z. im Kapitel über "den seelsorgerlichen Beruf" nicht nur die hier anzusprechenden, im weiteren Sinne persönlichkeitspsychologischen Fragen erörtert, sondern einen entscheidenden Schritt weitergeht: Er verbindet diese Fragen mit der Didaktik der Seelsorge und kommt ausführlich auf Aspekte der Aus- und Fortbildung zu sprechen; er zeigt - von der Biographiearbeit über den reflektierten Umgang mit gottesdienstlichen Ritualen bis hin zur Supervision - konkrete Lernfelder für die Theorie und Praxis der Seelsorge auf, auf denen ein professioneller Umgang mit den zuvor analysierten Problemen erworben werden kann (185-194).

Die knappe Hälfte des Buches ist den "Lebensthemen der Seelsorge" (8.) und der "Seelsorge in unterschiedlichen Lebenssituationen" (9.) gewidmet. Dieser Teil des Werkes knüpft konsequent an die Problemstellungen des 1. Kapitels an. Er gründet sich ebenso auf die zuvor erörterten theologischen Prämissen und Maximen wie er auf die bereitgestellten humanwissenschaftlichen Einsichten zurückgreift, um nun die quasi pragmatischen Dimensionen der Seelsorge in verschiedenen Kontexten aufzuzeigen. Solche Kontinuitäten sind wichtig nicht nur für die innere Stringenz eines Lehrbuches der Seelsorge, sie üben den (u. U. noch studierenden) Leser auch in ein Zusammenhangsdenken ein, das für eine so komplexe Angelegenheit wie die der Seelsorge unerlässlich ist.

Es entspricht der pastoraltheologischen Grundlegung des Buches, dass am Anfang der Überlegungen eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Identität des Menschen steht, denn Seelsorge ist - in welchem Kontext sie auch angeboten oder wahrgenommen wird - immer auch ein Ringen um die Identität des Ratsuchenden: in Beziehungen lebend (207-215), auf der Suche nach Sinn (216-223), im Umgang mit eigener Schuld (223-237) und beim "Glauben lernen" - in jedem Fall geht es auch um die Frage, dass und inwieweit der Einzelne "eine von Gott unwiderruflich anerkannte Person" ist. Dies darf und muss Konsequenzen in den angesprochenen Lebensthemen haben. In dem von Z. angezeigten Vierschritt von "Selbstbegegnung" - "Selbsterkenntnis" - "Selbstveränderung"- "Selbstannahme" liegen in der Tat Hilfen, in denen theologische Argumentation und humanwissenschaftliches Wis-sen einander ergänzen. Zu fragen wäre freilich, ob die Selbstannahme nicht vor der Selbstveränderung stehen müsste, sofern es zum Kern des protestantischen Rechtfertigungsverständnisses gehört, dass sich der Mensch in seinem ,Sosein' als angenommen erfahren darf - nicht (erst) als der, der er gern werden möchte oder gar als der, für den er sich hält. Die Schwierigkeiten der Selbstannahme gründen ja gerade darin, dass man sich- entgegen der populären Formel: Nimm dich, wie du bist - gerade nicht als der anzunehmen bereit ist, der man (als Sünder) ist. Rechtfertigung heißt hier: Der Sünder, der sich selbst nicht anzunehmen bereit ist, ist für Gott annehmbar.

Es ist wichtig, dass die potentiellen Nutzer dieses Buches sich der Mühe unterziehen, in den Kapiteln 1-8 zu lesen, bevor sie sich - mit dem Gelesenen hinreichend ausgerüstet - der "Seelsorge in unterschiedlichen Lebenssituationen" (Kapitel 9) zuwenden. Hier findet sich das, wonach Examenskandidaten zuerst suchen und gern als Spezialgebiet für mündliche Prüfungen angeben, dessen Bedeutung aber nicht hinreichend ermessen werden kann, wenn man sich nicht zuvor mit dem theologischen bzw. pastoralpsychologischen Hintergrund des Vf.s befasst hat. Die sich auf die Lebensphasen des Menschen, auf die Situation der Kindheit, der Trauer und der Krise orientierenden Überlegungen des Vf.s führen konzentriert in entsprechende Modelle und Perspektiven von Seelsorge ein. Die am Beginn stehende Bezugnahme auf die Altersseelsorge ist bei Z. insofern spezifisch, als sie einerseits immer als "Seelsorge der Gemeinde" zur Sprache kommt (also nicht nur als professionelles Gespräch unter vier Augen) und andererseits mit dem Ertrag gängiger Biographiemodelle und Fragen des Kasualhandelns der Kirche zusammengeführt wird. Das hat zur Folge, dass z. B. "Seelsorge mit Kindern" ebenso im Rahmen christlicher Unterweisung reflektiert als auch vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung, Probleme, Bedürfnisse und Ängste erläutert wird.

Was dieses Kapitel besonders lesenswert macht, ist der gelungene Versuch, den Leser fortlaufend in einen theologischen Diskurs über Fragen des Umgangs mit kranken Menschen, der Wahrnehmung von Krisen und Trauersituationen usw. zu verwickeln und gleichzeitig in die humanwissenschaftlichen Aspekte der angesprochenen Probleme einzuführen. Hier wird in einem theoretischen Entwurf das geboten, was durch Pastoralpsychologen wie Oskar Pfister, Joachim Scharfenberg und andere wiederholt eingefordert wurde: eine Seelsorge, die den Ratsuchenden nicht isoliert betrachtet, die sich für ihn nicht nur als Kranken, als Sünder oder Irrenden interessiert (und sich dementsprechend aufs Heilen, Vergeben und Belehren spezialisiert), sondern - und zwar aus theologischen Gründen - ebenso situationsorientiert wie personenbezogen angelegt, ebenso auf den ganzen Menschen wie auf den konkreten Fall ausgerichtet ist. (Vgl. hierzu pars pro toto den Exkurs über "psychische Krankheiten in der Seelsorge", 278-284).

Eine Darstellung der institutionalisierten Formen seelsorgerlicher Arbeit (Krankenhausseelsorge, Telefonseelsorge, Gefängnisseelsorge, seelsorgerlicher Dienst an Soldaten u. a.) runden das Buch ab. Schließlich ist auf hilfreiche Informationen über psychologische Beratungsstellen sowie auf ein umfangreiches Sach- und Personenregister zu verweisen, das ,den Ziemer' zu einem gediegenen Arbeitsbuch macht.