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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1098 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Utsch, Michael

Titel/Untertitel:

Religionspsychologie. Voraussetzungen, Grundlagen, Forschungsüberblick.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 304 S. gr.8. Kart. DM 69,-. ISBN 3-17-014788-9.

Rezensent:

Hans-Jürgen Fraas

Die Religionspychologie (RP) ist ein "dorniges Gebiet", wild wuchernd, weithin ungeklärt im Hinblick auf ihren Gegenstand, ihre Methodik, ihre Zielsetzung und zumal ihre wissenschaftstheoretische Zuordnung, um die Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie konkurrieren.

Utsch unterzieht sich dem ebenso anspruchs- wie verdienstvollen Unterfangen, in diesen Urwald Schneisen zu schlagen. Die "Antiphathie gegenüber Religion" überwiege bei den Psychologen noch immer (40). Den Grund dafür sieht U. in der Scheu, nach der mühsam errungenen Anerkennung der RP als empirischer Wissenschaft sich erneut mit hermeneutischen Fragen zu beschäftigen. Die Forschung kreise um zwei Schwerpunkte: einmal die Differenzierung der Religiosität in ihre wesentlichen Bestandteile, und zum andern die Frage nach dem theoretischen Rahmen für eine Integration der Teilaspekte (32), womit aber empirische und hermeneutische Fragen ineinandergreifen.

U. will einen grundlagenwissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis der psychologischen Aspekte von Religion, Religiosität und Spiritualität im Dialog zwischen Empirie und Anthropologie leisten. Er selbst vertritt ein existentielles Verständnis, "das die anthropologische Bedeutung der menschlichen Bezogenheit auf Übermenschliches betont" (26); die positivistische Tradition eines monistisch-materialistischen Weltbildes wird zurückgewiesen (57). U. geht davon aus, dass empirische Forschung theoriegeleitete Hypothesen voraussetzt und theoretische Modelle von anthropologischen Leitannahmen abhängen, die eine werturteilsfreie Wissenschaft zur Fiktion machen. In der Theologie sieht er die entscheidende Dialogpartnerin für die Psychologie, da er als Autor sich als Christ verstehe, die abendländische Rationalität christlich geprägt und die europäische Kultur und Gesellschaft (bisher noch) überwiegend christlich bestimmt seien.

In drei Teilen behandelt U. die anthropologischen Voraussetzungen (Kap. 2 und 3) und die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer Psychologie der Religiosität (Kap. 4), erarbeitet Kategorien für eine modelltheoretische Systematisierung der RP (Kap. 5), die in einer Darstellung unterschiedlicher Modelle der Verbindung von Theologie und Psychologie (dialogische, integrative, hermeneutische, anthropologische, theologische Integration, Kap. 6), den methodischen Prämissen einer solchen Synopse (Kap. 7) und schließlich in eine tabellarische Übersicht der Modelle (zwanzig gängige Forschungsansätze werden synoptisch-schematisch erfasst, Kap. 8) mündet.

Ausgangspunkt ist die psychospirituelle Einheit des Menschen, deren Nichtbeachtung zu Dualismen führe. Diese zu überwinden dient der Vergleich von Weltbildfragen und anthropologischen Grundmerkmalen in den verschiedenen Entwürfen, die ihn "Bezogenheit" als anthropologisches Grundverhältnis erkennen lassen (67), das dem Verständnis von Religiosität als Rückbezüglichkeit entspreche, wobei das Verhältnis zwischen Mensch und Gott als "Getrenntsein in Bezogenheit" beschrieben werden könne (ebd.). In dieser Dialektik ist der Dialog zwischen Psychologie und Theologie sachlich begründet, der seinerseits eine intensivere Reflexion der wissenschaftstheoretischen Zusammenhänge fordert. Vor allem wird die Frage diskutiert, ob es metaphysische Fragen in der Psychologie geben dürfe oder der Ausschluss der Transzendenz Voraussetzung religionspsychologischer Forschung sei. U. verweist darauf, dass jede Psychologie von metaphysischen Vorentscheidungen lebt (121). Er plädiert mit Wulff für das Prinzip des Einschließens der Erfahrung der Transzendenz als Ergänzung des herkömmlichen Prinzips des Ausschlusses (132). Denn wenn Religiosität auf das beobachtbare Verhalten reduziert werde, verliere sie "das für sie charakteristische Element der subjektiven Bedeutung und des persönlichen Umgangs mit der Transzendenz" und laufe Gefahr, "sie auf eine statistische Hülse so zu reduzieren, die zwar soziologische, aber wenige psychologische Erkenntnisse liefert" (133).

Der Fehler aller Versuche, Transzendenz einzubeziehen, liege in der mangelnden Unterscheidung zwischen Ontologie und Empirie, die zu wissenschaftstheoretisch unzulässigen Vermischungen und damit zu Kategoriefehlern führe (147). Der Vf. plädiert für möglichst klare Trennung der Kompetenzbereiche, die durch die wechselseitige Abhängigkeit von Ontologie und Empirie erschwert wird. Darum favorisiert U. gegenüber den integrativen Betrachtungsweisen die komplementäre und plädiert für eine interdisziplinäre, fundierte Religionspsychologie (188). "Die RP - verstanden als eigenständige psychologische Disziplin - ist auf eine komplementäre Integration der empirischen und hermeneutischen Tradition sowie ihres wissenschaftlichen und weltanschaulichen Standpunktes angewiesen, will sie die objektive und die subjektive Wahrheit der Religion psychologisch erfassen und beschreiben" (193).

Die Arbeit besticht durch die Vielfalt der Perspektiven, die Fülle der eingearbeiteten Literatur, den Gedankenreichtum, den klaren persönlichen Standpunkt im Blick auf eine sowohl empirisch als auch theologisch verantwortbare psychologische Theoriebildung.

Offen bleibt die Frage, ob die Reduktion der psychologischen Methodologie auf die empirisch-quantifizierende denjenigen Arbeiten gerecht werden kann, die bewusst nicht empirisch ansetzen, sondern empirische Ergebnisse verstehend zu bearbeiten suchen - wenn etwa U. den Vorwurf erhebt, dass der empirische Boden verlassen sei, wo er in diesem strikten Sinn gar nicht gesucht war. Er lehnt ein integrativ-synthetisches Meta-Modell mit guten Gründen ab; dennoch: Sind um der Ganzheit des Menschen willen im Hinblick auf eine - immer vorläufig bleibende und der Kritik durch die Empirie ausgesetzte - Persönlichkeitstheorie (18) solche hypothetischen Meta-Modelle nicht unvermeidlich? Von diesen Rückfragen abgesehen setzt diese Arbeit mit ihrem hohen Niveau, ihrem das gesamte Forschungsfeld umfassenden Charakter und ihrem Bemühen um begriffliche und methodische Klarheit und Differenzierung einen Standard wissenschaftstheoretischer Orientierung, der nicht nur eine hervorragende Übersicht über die Forschungslage bietet, sondern zugleich Kriterien entwickelt, an denen keine zukünftige religionspsychologische Arbeit vorbei kann.