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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Christian

Titel/Untertitel:

Verheissenes Leben. Bestattungspredigt und Biographie.

Verlag:

Waltrop: Spenner 1999. 385 S. 8 = Wechsel-Wirkungen, Erg.Reihe, 10. Kart. DM 35,-. ISBN 3-933688-15-9.

Rezensent:

Martin Laube

Die Praktische Theologie als "Theologie der Praxis" (Schleiermacher) fußt auf der neuzeitlichen Grundunterscheidung von Theologie und Religion. Erst sie ermöglicht es der Praktischen Theologie, sich als eigenständige Theorie einer ebenso eigenständigen Praxis zu konstituieren. Freilich ist diese Errungenschaft nicht unumstritten geblieben; zuletzt wurde von der Dialektischen Theologie die Forderung erhoben, jene Unterscheidung wieder einzuziehen. Für die Praktische Theologie ergibt sich daraus allerdings eine doppelt ruinöse Konsequenz: Sie verliert dann nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch ihre disziplinäre Selbständigkeit.

Dieser Kollaps lässt sich nun an der Arbeit von S. studieren. Es handelt sich um die unverändert veröffentlichte Fassung einer in Heidelberg bei Christian Möller angefertigten Dissertation. Sie setzt sich zum Ziel, am Beispiel des Verhältnisses von Bestattungspredigt und Biographie die Orientierung der "neoliberalen" (67 u. ö.) Homiletik an den religiösen Bedürfnislagen der Individuen rückgängig zu machen und durch eine strikte Konzentration auf das inhaltlich durch die Kategorie der Verheißung explizierte ,Kerygma' zu ersetzen. Indem S. allerdings das - gerade in jüngster Zeit reichhaltig anschwellende - Forschungsspektrum zur Kasualienthematik teils absichtslos ignoriert und teils absichtsvoll denunziert, gerät ihm sein Programm einer Neubegründung theologischer Kasualhomiletik jenseits des Religionsbegriffs (vgl. 106) zum Dokument einer dogmatisch induzierten Selbstauflösung praktisch-theologischer Denkungsart.

In der Einleitung (11-22) werden unter dem Titel einer "Problemskizze und Aufgabenstellung" zunächst Fragerichtung und dogmatische Prämissen fixiert. Die Ausgangsfrage lautet: "Wie können wir theologisch sachgemäß das Leben eines Verstorbenen in der Bestattungspredigt zur Sprache bringen?" (14) Dabei müsse allerdings "der zugrundegelegte Biographiebegriff ... vom Predigtbegriff her zu interpretieren sein" (ebd.). Die Predigt wiederum verkündige "den Namen Gottes in seiner Bewegung auf die Gemeinde hin" (ebd.). Ihre Basis könne daher "nicht die für sich existierende Geschichte eines einzelnen oder der Gemeinde sein. Vielmehr geht sie von der biblisch bezeugten Gottesgeschichte aus und erzählt diese auf vergangene und zukünftige Menschengeschichte hin" (14 f.). Folglich kehre sich die anfängliche Fragestellung um: "Wie ist die Gottesgeschichte in ihrer Begründung durch das biblische Zeugnis in ihrer Beziehung zur Geschichte des einzelnen der Gemeinde zu predigen?" (16) An dieser Exposition erstaunt die unbefangene dogmatische Setzung, die nicht nur einen eigenständigen praktisch-theologischen Zugang von vornherein unterbindet, sondern zudem bereits zu Beginn als Prämisse deklariert, was doch - wenn überhaupt - erst als Ergebnis der Untersuchung zu gewinnen wäre. Entsprechend lässt S. an dem normativ-präskriptiven Charakter seiner folgenden Analysen keinen Zweifel. Der dogmatische Ausgangspunkt bestimmt die Methode der Predigtanalyse und motiviert die Auswahl der untersuchten Predigten (vgl. 18-21).

Der erste Teil (23-48) präsentiert sodann die exemplarische Analyse einer Bestattungspredigt von Eduard Thurneysen. Ihr entnimmt S. sein das Weitere bestimmende Normgerüst: "Ausgehend von der biblisch bezeugten Verheißung erzählt der Prediger von der erfüllten Verheißung im Leben der Verstorbenen. Die Vita wird nicht aus biographischem Interesse Gegenstand der Predigt ... Die Beziehung auf die Vita steht vielmehr ganz im Dienst der Gemeinde; jene soll durch das mitgeteilte Lebens- und Glaubenszeugnis in ihrem Glauben bestärkt bzw. zu neuem Vertrauen ermutigt werden (Oikodome). Gleichzeitig wird die Gemeinde zum Staunen und Danken geführt und Gott gepriesen (Doxologie)" (299 f.).

Solchermaßen gestärkt, macht sich S. - nach einem knappen Exkurs zur Geschichte der biographischen Bestattungspredigt (49-63) - im zweiten Teil (65-132) daran, das Verhältnis von Bestattungspredigt und Biographie in der neueren Homiletik zu erörtern. Als Deutungsschlüssel dient ihm die schlichte Formel ,Kasus versus Kerygma', um - ebenso holzschnittartig - eine "kerygmatische" und eine "neoliberale " Kasualhomiletik einander gegenüberzustellen. Dabei kämen zwar beide Richtungen in der "Überordnung des Kerygmas über den Kasus" (82) überein; gleichwohl sei in den neoliberalen Ansätzen "das Kerygma inhaltlich so weit entleert ..., daß es faktisch doch zu einer Auslieferung des Kerygmas an die Situation kommt" (300). Schuld daran trage der unselige Einfluss eines "funktionalistischen " (90 u. ö.) Religionsbegriffs. Der führe zu einer ,Verfälschung' (vgl. 85) wichtiger dogmatischer Inhalte, und nun gewährt S. einen tiefen Blick in seinen theologischen Giftschrank: Es werde "das Theologische ... in Anthropologisches aufgelöst" (97) und nur "immer von neuem der alte Adam beschworen, statt in Vollmacht die neue Existenz in Christus anzusagen" (100). Sein Antiserum gewinnt S. demgegenüber im Rückgriff auf die Kategorie der Verheißung. Sie allein erlaube eine theologisch angemessene Verknüpfung von Bestattungspredigt und Biographie. Dabei suche die Predigt "nach Spuren erfüllter Verheißung im vergangenen Leben ... Als Zeugnis des Handelns Gottes hat die Lebens- und Glaubensgeschichte des Verstorbenen in der Predigt ihren wichtigen und guten Platz: Das beendete Leben bezeugt der Gemeinde das Handeln Gottes entsprechend dessen Verheißung" (132). Allerdings sei damit "der Zwang zur biographischen Predigt um jeden Preis" (121) durchbrochen; es dürfe sogar "viel seltener biographisch gepredigt werden als de facto gepredigt wird" (123).

Der umfangreiche dritte Teil (133-298) bildet den Mittelpunkt der Arbeit. Er bietet eine Analyse von neun - im Anhang abgedruckten - Bestattungspredigten. Das Gliederungsschema ihrer Anordnung gewinnt S. aus dem Begriff des Handeln Gottes. Das biblische Zeugnis dieses Handelns finde sich "systematisch komprimiert ... in der ökonomischen Trinitätslehre: Gott handelt am Menschen als creator, redemptor und sanctificator" (128). Bezogen auf die Predigtanalyse ergebe sich daraus folgende Fragestellung: "Wie erweist sich Gott in der Vita als redemptor, sanctificator und creator?" (129 Entsprechend behandelt S. unter dem Titel "Rechtfertigung" je eine Predigt von Karl Barth und Ulrich Wilckens (133-194); unter dem Titel "Heiligung" folgen die Analysen je einer Predigt von Manfred Seitz, Rudolf Landau und Werner Krusche (195-240); den Abschluss bilden die Bearbeitungen je einer Predigt von Paul Schempff, Kurt Marti und Katharina Hübner unter dem Titel "Führung und Erhaltung" (241-298). Die einzelnen Predigtanalysen werden so durchgeführt, dass auf eine Nachzeichnung des Gedankengangs eine dogmatisch-theologische Kritik folgt. S. löst damit seine fragwürdige methodische Prämisse ein, die Predigten jeweils an dem von ihm dekretierten Predigtbegriff messen zu wollen (vgl. 18 f.). Die Predigtanalysen entspringen so nicht einem unbefangenen Interesse an der modernen Predigtpraxis, sondern dienen vielmehr der Exekution einer vorgefassten Predigtdogmatik.

Im vierten Teil (299-319) werden unter dem Titel "Grundzüge biographischer Bestattungspredigt" die dogmatischen Prämissen nochmals als Ertrag der Untersuchung präsentiert. Die Predigt "verkündigt der Gemeinde Gottes die Geschichte Gottes mit seinem Volk und ist in solchem Verkündigen auf zukünftige Geschichte Gottes mit seiner Gemeinde und auf Lob Gottes aus" (304). Für die Rezeption der Vita ergebe sich daraus die Grundfigur des erzählenden Bezeugens - mit einer bezeichnenden Einschränkung: "Soll die Vita die Wahrheit des biblischen Wortes bezeugen, muß sie zeugnisfähig sein. Dies setzt eine entsprechende Glaubenserfahrung des verstorbenen Menschen voraus ... Es liegt auf der Hand, daß von dieser Bestimmung her biographische Predigt im eigentlichen Sinn die Ausnahme sein wird" (308 f.).

Die angedeuteten Probleme lassen sich nun allesamt auf den Umstand zurückführen, dass S. die Unterscheidung von Theologie und Religion aus der theoretischen Grundlegung seiner kasualhomiletischen Überlegungen eskamotiert.

Er begibt sich damit zunächst (1.) der Möglichkeit, die Bestatungspredigt in den Horizont des religiösen Rituals zu stellen und von dessen soziokulturellen oder anthropologischen Bedingungen her zu erhellen. Folgerichtig kommt es zu einer thematischen Verengung; S. beschäftigt sich allein mit der Frage einer dogmatisch-theologischen Adäquanz der Bestattungspredigt. Die mangelnde Unterscheidung von Theologie und Religion wirkt sich darüber hinaus (2.) in dem methodischen Entschluss aus, die Predigtpraxis nur unter dem normativen Primat eines vorgefassten dogmatischen Predigtbegriffs in den Blick zu nehmen. An die Stelle einer konstruktiven Erschließung der vielfältigen Predigtwirklichkeit tritt damit die Proklamation eines wirklichkeitsfernen Predigtkonstrukts. Besonders gravierend schlägt schließlich (3.) zu Buche, dass sich S. genötigt sieht, die Perspektive des religiösen Individuums theologisch zu delegitimieren und die tief greifenden Veränderungen der neuzeitlichen Religionskultur fortwährend zu diffamieren. Auf diese Weise entgleitet ihm nicht nur die kirchliche Praxis; mehr noch verliert er so den ureigensten Gegenstand der Praktischen Theologie - die Praxis der gelebten Religion - aus dem Auge.

Damit bleibt als Leistung von S.s Studie lediglich festzuhalten, dass sie zeigt, wohin es führt, wenn sich die Praktische Theologie ihrer eigenen Theoriegrundlagen entledigt.