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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1087–1089

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Huizing, Klaas

Titel/Untertitel:

Ästhetische Theologie. I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie.

Verlag:

Stuttgart: Kreuz 2000. 318 S. m. Abb. 8. Geb. DM 49,90. ISBN 3-7831-1806-9.

Rezensent:

Christian Bendrath

Die "Ästhetische Theologie" des Würzburger Systematikers Klaas Huizing ist insgesamt auf drei Bände angelegt. Es sollen demnächst bereits als Band II eine "Medien-Anthropologie" unter dem Titel "Die Inszenierungsgesellschaft" und etwas später dann als Band III ein multimediales Theaterstück unter dem Titel "Jesus am Kamener Kreuz" erscheinen (28; vgl. auch 295f.). Der seit dem vergangenen Jahr vorliegende erste Band, die "literarische Anthropologie", versucht unter dem Titel "Der erlesene Mensch" den theologischen Darstellungsgegenstand - die christliche Lehre vom Menschen als gefühlskaltem Sünder (64 ff.) sowie von seiner Wiedergeburt zur vollen emotionalen Mitleidsfähigkeit durch die Lektüreerfahrung des Jesusbildes der Evangelien, insbesondere der synoptischen Gleichnisse (149ff.) - und die literaturästhetische Darstellungsmethode (15ff.: "Ästhetik als Elementarwissenschaft der Theologie") einander anzunähern. Deshalb legt H. einen als postmoderne Textcollage kunstvoll gestalteten "Essay" vor (104; vgl. auch 249). Der essayistische Stil soll als ein "dritte[r] Weg" sicherstellen, dass weder "in einem orchideengeschmückten Zimmer mit weltfremden Worthülsen" jongliert, noch "lehnstuhlgerecht der Auswanderung der Theologie in die Religionswissenschaft" zugeschaut werde (10). Als Adressaten sieht H. neben innovationsfreudigen Fachtheologen auch "säkulare Leser", die "mit traditionellen religiösen Bildwelten wenig und zumeist wenig Positives" verbinden (161; vgl. auch 222). Mitten aus dem trotz des Anspruchs auf Allgemeinverständlichkeit sehr dicht geratenen ästhetisch-theologischen Fachjargon heraus werden die "LeserInnen" direkt vom Autor angesprochen (vgl. 24.95 f. u. ö.). Dieser wirbt darüber hinaus in rhetorischer Zwiesprache durch eine Reihe ganz persönlicher Bekenntnisse und intimer Geständnisse um die Gunst seiner Leser (11-14.68.149 f.301).

Das traditionelle Drei-Artikel-Schema der altprotestantischen Bekenntnisdogmatik wird zu Gunsten der zweigliedrigen Schematik der Glaubenslehren des neuzeitlichen Protestantismus aufgegeben. Deren strikte Trennung zwischen der Schrift als dem Formal- und der Rechtfertigungslehre als dem Materialprinzip theologischer Wissenschaft werde jedoch "fortwährend" unterlaufen (26 f.). Damit meint H. offenbar, dass erstens seine "literarisch-anthropologische" (Iser) Fassung der Lehre von der Heiligen Schrift (31 ff.) immer schon eine inhaltliche Bestimmtheit aufweise. Die der Bibel eigene "Inkarnationshermeneutik" verlebendige das Jesusbild durch literarisch gestaltete "Bewegungssuggestionen", die die Leser auf ihr "affektives Betroffen"- und "persönliches Gemeintsein" (Schmitz/Timm) ansprechen (140 ff.). Die leibhaftig angesprochenen Leser könnten nun aus indifferenten Menschen einer oberflächlichen Massen- und Erlebnisgesellschaft wieder zu emotional begabten Christenmenschen werden (36 ff.). Ebenso basiere zweitens die inhaltliche Bestimmtheit der "Phänomenologie der Wiedergeburt" (149 ff.), die an dieser Stelle die Rechtfertigungslehre durch eine szenographische Beschreibung elementarer Ausdrucksgesten des affektiv betroffenen sowie persönlich gemeinten Lesers ersetzt, auf der formalen Gestaltungskraft der Schriftästhetik.

Die Texte der Heiligen Schrift seien immer schon so gestaltet, dass sie im bewusst vollzogenen Leseakt einen neuen Menschen "gebären" könnten (134-163; vgl. Gal 4,19). Inspiriert von Luthers drastischen Metaphern (156) bezeichnet H. seine eigene Schriftsoteriologie als eine "Gynäko-Theologie" (24), um den strukturellen Zusammenhang von Schriftästhetik (Schriftlehre und Anthropologie) und Erlösungsphänomenologie (Inkarnationschristologie und Erfahrungssoteriologie) deutlich zu machen. H.s rhetorische Frage: "Wie wäre es deshalb mit einer sakramentalen Gynäkologie als Lese-Inspirations-Theorie?" (299) enthält bereits folgende Antwort: Die Schrift fungiere insoweit als Mutterleib ihrer Leser, als diese im Vollzug ihrer Lektüre den alten Adam so abstreifen könnten wie eine Schlange ihre alte Haut in einer engen Felsspalte (155).

H. gelingt eine postmoderne Relektüre der christlichen Glaubenslehre in lebenspraktischer Perspektive. Er kann bis in kulturkritische und leibphänomenologische Konkretionen hinein aufzeigen, wie sich die Lebensführung eines Menschen hier und heute ändert und was in der christenmenschlichen Lebensführung alles neu wird. Die Dramaturgie biblischer Texte (die Selbstvergegenwärtigung Jesu in seinen Gleichnissen) und die dazugehörige "Choreographie" des Leseaktes (der ordo salutis bestehend aus fünf elementaren Gesten des Lesens: Neugier, Kniefall, Umkehr, Kontakt und Offenheit) erreichen schon jetzt eine Erneuerung der Mitleidsfähigkeit des in der heutigen Massen- und Erlebnisgesellschaft gefühlskalt gewordenen Menschen. Sowohl christliche Sündenlehre, als auch Inkarnationschristologie und ordo salutis werden auf diesem Wege einer säkularisierten Öffentlichkeit neu erschlossen. Darüberhinaus bringt H. die biblische Literatur mit der gegenwärtigen Belletristik in ein produktives wechselseitiges Auslegungsverhältnis. In solche Intertextualität kann er dann sogar die bildende Kunst einbeziehen.

Kritisch anzumerken bleiben nur einzelne historische und dogmatische Lösungsvorschläge, die nicht ganz überzeugen wollen: 1. So wird bei H. wieder einmal die lutherische Lehre vom Zorn Gottes als falsche "natürliche Theologie" (220 ff.) denunziert - diesmal mit Rücksicht auf den säkularen Leser. Die moderne reformatorische Theologie hatte doch gerade angesichts der fundamentalen Entfremdungserlebnisse des Massenmenschen diesen Lehrort mit Hilfe von Rudolf Ottos Religionsphänomenologie als einen "Anknüpfungspunkt" (Brun- ner) reformuliert. H.s eigene radikale Kulturkritik an der Moderne (31-47) bleibt durch das Ausschlagen dieses Deutungspotentials theologisch unterbestimmt. In Abgrenzung von Elert spielt H. sogar den Gedanken der Liebe Gottes gegen die "Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) aus, als ob Freiheit auf Grund exklusiver Liebe vernachlässigt werden könnte (vgl. 221). 2. Mit der Reduktion der biblischen Lektüreerfahrung auf eine exklusive Liebesoffenbarung eng zusammen hängt die etwas schmal geratene Textbasis der biblischen Theologie H.s. Selbst bei den von ihm so favorisierten neutestamentlichen Gleichnissen werden diejenigen mit Bezug zur eschatologischen Gerichtsprophetie Jesu einfach weggelassen. 3. Die sensationelle Wiederentdeckung der particula veri der Sündentheologie wird leichtfertig verspielt, wenn dem heutigen Leser biblischer Texte die "Gebärde der Selbstvergessenheit" (223) anempfohlen wird, obwohl der abgebildete Kupfer von Reitz (159) schon zu Beginn der Neuzeit vollkommene Selbsterkenntnis versprach (158). Das delphische "Gnothi auton" ist der Lebenspraxis säkularer Leser sehr wohl vertraut, wie ein ungebrochener Zulauf zur psychotherapeutischen Selbstreflexion belegt. Im ausführlich besprochenen Gleichnis vom verlorenen Sohn (290-295) bildet ebenso gerade das Sündenbekenntnis des Sohnes (Lk 15, 18 f.) die entscheidende Peripetie der Geschichte. 4. Über seiner scharfen Polemik gegen die Unsensibilität "Liberal[er] Theologie" (21) in Bezug auf eine biblische Literaturästhetik unterschätzt H. offenbar, wie sehr sich seine überaus starke Betonung der Philanthropie Jesu der liberaltheologischen Exegese, etwa eines Adolf von Harnack, verdankt.

Von diesen kleineren Kritikpunkten abgesehen, ist der erste Band der "Ästhetische[n] Theologie", die überaus ideenreiche literarische Anthropologie "Der erlesene Mensch", von Klaas Huizing zu einer genussvollen und intellektuell anregenden Lektüre sehr zu empfehlen, was bei den sonst überwiegend trocken gehaltenen Lehrbüchern und Entwürfen zur Dogmatik nicht so ungebrochen ausgesprochen werden kann.