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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1082 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mogk, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Allgemeingültigkeitsbegründung des christlichen Glaubens. Wilhelm Herrmanns Kant-Rezeption in Auseinandersetzung mit den Marburger Neukantianern.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XIII, 480 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 106. Geb. DM 228,-. ISBN 3-11-016757-3.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Die Münchener Dissertation stellt einen glänzenden Beitrag zur Erforschung des Denkweges von Wilhelm Herrmann (H.) dar. Die Arbeit fokussiert auf drei Brennpunkte: Erstens auf die Erforschung der theologischen Kant-Rezeption; zweitens auf die Allgemeingültigkeitsbegründung des christlichen Glaubens (AcG), drittens auf das Verhältnis H.s zum Neukantianismus (1-3). Der Schluss behandelt die Kontinuität zwischen H. und seinen Schülern Barth und Bultmann.

In einem Kapitel zu H.s Biographie mit einer Einführung in den Neukantianismus und in die Philosophie Lotzes (38-97) wertet M. eine Fülle von neu aufgefundenen Archivalien aus. Diese tragen auch (aber nicht nur) das 3. Kapitel der Arbeit (98-146): H. verfasste 1868 und 1870 je eine philosophische Preisschrift über Kant (K.). Diese und H.s Examenshausarbeit über Paulus und K. (1871) interpretiert M. als erster und kommt dabei zu dem Ergebnis: H. übernimmt wesentliche Positionen aus K.s theoretischer Philosophie, zuerst die Unmöglichkeit einer rationalen Theologie (105.120). H. wirft K. sogar in hyperkritischer Weise vor, in den Fehler des Dogmatismus zu verfallen (145). So etwa, wenn K. die Kategorie der Kausalität auf die Seele als Subjekt der Kategorien anwende und zu einem absoluten Ding an sich komme. Eine Lehre vom Ding an sich könne nicht theoretisch begründet werden (102-104). Derselbe Fehler liege vor, wenn K. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als real ausgebe. Denn aus der Realität des sittlichen Pflichtgefühls könne die Realität der von der praktischen Vernunft postulierten Gegenstände nicht erschlossen werden (106.115). Mit Schleiermacher bestreitet H. auch, dass das Sittengesetz konkretisierbar sei. H. hält K.s Ethik zwar im Wesentlichen für richtig, aber für ergänzungsbedürftig (145.114.122). Die Hauptkritik H.s an K. besteht darin, dass K. die Religion zu einem Anhängsel der Moral mache und damit die geschichtliche Offenbarung Gottes nicht recht würdige (111.145). Zustimmung äußert H. dazu, dass K. wie Paulus einen bloßen Autoritätsglauben ablehne; vielmehr müsse es etwas Vermittelndes zwischen glaubendem Subjekt und geschichtlicher Offenbarung geben (141.144.146).

Das vierte Kapitel (147-424) zeigt, wie stark H.s frühe K.-Studien in seine spätere wissenschaftliche Arbeit einfließen. Zuerst entwickelt M. die grundlegende Lösung des Problems der AcG in H.s Frühwerk (161-292). Es steht für H. fest (Einfluss Jacobis?), dass der Glaube schon in sich selbst seine Gewissheit trage; für den Bestand der Gemeinde und für die Mission sei es aber notwendig, dass diese Gewissheit argumentativ entfaltet werde (119.151). Deshalb stellt H. die AcG sich als Lebensfrage und der systematischen Theologie als Hauptaufgabe (35 f., 147-150).

Der Ausgangspunkt dafür ist bei H. ein stark durch Lotze überformter Kantianismus (161.225.235.270.274 u. ö.). Dieser hat zwei Wurzeln: einmal die Seinsauffassung - Sein ist Stehen in grenzenlosen Beziehungen; zum andern das unmittelbare Selbstgefühl (162-164). Das reine Erkennen ist grenzenlos, da es alles Seiende (die Naturdinge) entlang den Kategorien immer wieder auf vorausgehende Bedingungen zurückführt ad infinitum (171 f.). Erst das Selbstgefühl setzt Grenzen: Zu der Vorstellung eines Dinges an sich kommt es erst, wenn das Selbst in der Grenzenlosigkeit der Erscheinungen ein Gegenüber sucht, das unbedingt ist wie es selbst (180). Das Ding an sich ist damit eine Projektion des Selbst in die Unendlichkeit der Erscheinungen (186). - Das Selbst tritt nicht nur erkennend, sondern auch handelnd aus sich heraus. Dadurch entsteht die Sittlichkeit. Das Selbst will sich selbst als unbedingten Zweck, dem die Natur als Mittel dienen muss. Diesen Wunsch hat es zu rechtfertigen. Das kann nur dadurch geschehen, dass es sich als einheitlich und notwendig handelndes Subjekt erweist, das heißt, wenn es K.s Sittengesetz gehorcht (208-212). Hier kommt es zu einer Aporie, die nur die Religion auflösen kann. Denn das Sittengesetz kann vom Subjekt aus drei Gründen nicht realisiert werden: erstens, weil es keine Anweisungen zu seiner Konkretisierung enthält; zweitens, weil es eine Gesellschaft von sittlichen Subjekten verlangt; drittens, weil das Subjekt sich das Sittengesetz nur als Maxime aneignen kann, wenn es erkennt, dass seine Tugend seine Glückseligkeit nach sich ziehen wird. Die letzten beiden Bedingungen liegen nicht in der Macht des Einzelnen. Damit kann das Sittengesetz wohl a priori entwickelt, aber nicht individuell angeeignet werden (234-240). In dieser Aporie hilft das Christentum: Gott garantiert die sittliche Gemeinschaft und das Glück des sittlichen Subjektes (241 f). Weil somit das Christentum die Aneignung des allgemeingültigen Sittengesetzes ermöglicht, ist es auch selbst allgemeingültig (243 f.).

In seiner mittleren Schaffensphase variiert H. die AcG zum ersten Mal. Auch jetzt löst das Christentum eine sittliche Aporie. Aber es sind nicht mehr überindividuelle Hindernisse, die die Religion überwindet, sondern ein individuelles: Das Subjekt ist in sich unfähig, das als gut erkannte Sittengesetz zu erfüllen. H. rekurriert auf die Sündenlehre und kann mit der Notwendigkeit der Vergebung auch die geschichtliche Gottesoffenbarung in Christus plausibler in den Weg vom Selbstgefühl zum sittlichen Selbst einfügen (293-296.321-325). H. ersetzt in dieser Phase gelegentlich die Deduktion des K.schen Sittengesetzes durch die Analyse des Vertrauensverhältnisses zwischen Personen. Das stellt einen leichter einsichtigen Anknüpfungspunkt für Ethik und Religion dar als philosophische Reflexionen (307-310.339 f.).

In der zweiten Lösungsvariante im Spätwerk knüpft H. die Religion enger an das Selbstgefühl an und verkürzt die ethische Argumentation weiter (ohne sie jedoch ganz auszuschalten, 408). Religion ist jetzt allgemeingültig, weil sie das Wahrwerden der menschlichen Existenz ermöglicht. "Das Selbst kann nur in freier Hingabe an Eines wahr werden" (363). Dieses Eine ist die Macht des Guten (= Gott), die jeder schon einmal im Vertrauen zu einem Menschen oder in der Hingabe an eine Aufgabe erlebt hat. Der Ort der Gottesoffenbarung ist nicht mehr notwendig Christus (370-373). Der Dualismus zwischen erlebendem Selbst und erklärender Wissenschaft und damit der Irrationalismus vertieft sich (417 f).

M. hat in überzeugender Weise die ursprüngliche und bleibende Kantsche Wurzel von H.s Theologie präpariert. Die für H.s Frühwerk angegebene grundsätzliche Zustimmung zu und Kritik an K. setzt sich auch später fort. Dabei ergeben sich freilich komplexe Verschiebungen. In Bezug auf den Neukantianismus beweist M., dass H.s frühe theologische K.-Rezeption nicht durch Cohen und Natorp (wohl aber durch Lotze) beeinflusst war. Es gibt Konvergenzen zwischen H. und den Neukantianern, später einen intensiven Austausch, aber stets auch entschiedene Differenzen (72.179.268.275.378-403). Analog ist der späte H. nicht von der Lebensphilosophie beeinflusst, sondern greift auf die Selbstkonzeption seines Frühwerks zurück (67). M.s Überlegungen zu den Gründen für die Veränderungen in H.s Denken (156 f.290-292.320 f.342 f.) sind teilweise herausfordernd, immer begründet und zu weiterer Interpretationsarbeit anregend.