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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1080–1082

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich, u. Enno Rudolph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. VI, 268 S. 8 = Religion und Aufklärung, 7. Kart. DM 74,-. ISBN 3-16-147303-5.

Rezensent:

Thomas Erne

Kultur hat Konjunktur. Das gilt auch für die Theologie. Die theologische Renaissance des Kulturthemas ist allerdings erklärungsbedürftig. Denn lange stand die Theologie im Banne kulturtheologischer Positionen, die sich entweder als abstrakter Gegensatz von Religion und Kultur (Barth) oder als umfassende, religiöse Deutungsperspektive der Kultur (Tillich) entwarfen. Aber weder der "Dispens" der Theologie vom Kulturproblem noch der Anspruch, "der maßgebliche Kommentar" der Kultur zu sein, führen weiter (so die Herausgeber im Vorwort), denn Distanz wie Deutungshoheit der Theologie sind ihrerseits kulturell vermittelt. Die Theologie wird daher das Kulturthema nicht los. Wie also lässt sich Religion in der Kultur verstehen? Für die Beantwortung dieser Frage wählten die Teilnehmer eines Symposions in Zell an der Pram als Referenzrahmen die Kulturphilosophie Ernst Cassirers.

Vier Rekonstruktionen im Blick auf die Stellung der Religion in der Kultur (Richter, Hädrich, Lütterfelds, Rudolph), zwei Aufsätze, die sich systematisch der Frage nach Leistung und Schlüssigkeit von Cassirers Symbolbegriff widmen (Meyer-Blank, Stoellger), historische Fragen nach dem geistesgeschichtlichen Kontext (Laube, Korsch, Voigt, Danz) und ein Versuch, Cassirer für die theologische Debatte fruchtbar zu machen (Gräb), dokumentieren eindrucksvoll, auf welchem Niveau, mit welcher "Lebendigkeit und Wahrnehmungsbreite" in den von Dietrich Korsch initiierten Zeller Treffen diskutiert wird. Was aber empfiehlt Cassirers Kulturphilosophie für die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion? Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist (1.) eine umfassende, aber keine uniforme Kulturtheorie. Sie sucht eine "universale Theorie über jene Art und Weise auszubilden, in der die Wirklichkeit dem Menschen ... gegeben und erschlossen ist" (Lütterfelds, 48). Aber sie tut dies so, dass Kultur mehrdimensional, als nicht aufeinander reduzierbare Sichtweisen der Wirklichkeit konturiert wird, die auf je prägnante Weise als Kunst, Religion, Wissenschaft etc. die Wirklichkeit sinnhaft erschließen und zugleich durch eine gemeinsame Funktion, der Repräsentation von Sinn in Symbolen, aufeinander bezogen sind (vgl. Danz, 217).

Einen konstruktiven Vorschlag, der sich in den Umhof der kategorialen Stärke Cassirers stellt, aber mit Cassirer über diesen hinausgeht, entfaltet Stoellgers brillanter Aufsatz "Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz" (100-138). Cassirers Grundbegriff der "symbolischen Prägnanz" kann seinerseits "mehrdimensional konzipiert werden" (120), wenn das Verständnis von Prägnanz in das metaphorische Ausdrucksgeschehen zurückgeholt wird. Wird so die "Metaphorizität zum Modell kultureller Formvarianz" (120) dann lassen sich auch Phänomene des Unbegrifflichen (vgl. 113) in Cassirers Kulturphilosophie einholen, die sonst der Prägnanz als Reihenbegriff zum Opfer fallen.

Cassirer verbindet (2.) eine an Kant und den Neukantianismus (vgl. Korsch, 168 ff.) anschließende Konstitutionstheorie, "wonach wir es bei einem Symbol mit einer immer schon vollzogenen Synthesis von Sinnlichem und Sinn zu tun haben" (Lütterfelds, 50), mit einem phänomenologischen Zuschnitt. Nach Cassirer hat Husserl den Blick geschärft "für die Verschiedenheit der geistigen Strukturformen und für ihre Betrachtung einen neuen, von der psychologischen Fragestellung und Methode abweichenden Weg gewiesen" (Cassirer PsF II, 16 Anm. 1). Cassirer sieht daher in den Kategorien des Gegenstandsbewusstseins nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern eine in allen Formen kultureller Sinndarstellung zu entdeckende Formierungsleistung. Mit dieser Erweiterung des Rationalitätsbegriffs schreitet Cassirer, so eine oft zitierte Formel, "von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur" fort (Danz, 317). Und schließlich entwickelt Cassirer (3.) mit seinem philosophischen Hauptwort, "symbolische Form", einen Symbolbegriff, der an elaborierte Zeichentheorien anschlussfähig ist. Die dreistellige Relation, etwas steht für etwas anderes auf Grund eines dritten, charakterisiert Cassirers Symbolbegriff als Kritik an einem "naiven Realismus" (Rudolph, 81) und an "jeglicher Art von Abbildtheorie" (Meyer-Blank, 92). Die durch Symbole erschlossene Wirklichkeit stellt nicht eine natürliche Verweisung von Ding und Zeichen dar, sondern sie ist "eine kulturelle Formierung, eine Semiotisierung der Realität" (ders., 93), auf Grund bestimmter prägnanter Sichtweisen und Codierungen. Diese Kulturtheorie verbindet Cassirer nun (4.) mit einer originellen religionsphilosophischen Perspektive, die er im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen in Auseinandersetzung mit dem Mythos entwickelt (Richter, 25 ff.). Die Religion bringt gegenüber dem Mythos nicht nur die Einführung neuer Zeichen (Jesus Christus, Inkarnation, Auferstehung), sondern vor allem eine "veränderte Stellungnahme" (Hädrich, 41) zu allen Zeichen. So wie Erkenntnis sich gegen Sprache, so wendet sich Religion gegen eine mythische Ununterscheidbarkeit von Zeichen und Sinn. In der Negation mythischer Bildwelten vollzieht sich die Religion als eine gesteigerte Bewusstheit des Zeichens. Der Fortschritt an Selbstreflexivität vom Mythos zur Religion erweist sich dabei als Freiheitsgewinn (Gräb, 244), insofern die "jüdisch-christliche Bilderwelt" sich aus dem Bann des mythischen Denkens löst. Zugleich aber bleibt die religiöse Negation der mythischen Bilder aufs Bild angewiesen. In dieser prinzipiell unauflösbaren Dialektik einer "gleichzeitigen Erfülltheit und Unerfüllbarkeit symbolischer Formen" liegt nach Lütterfelds (73) die Eigenart, die symbolische Prägnanz, der Religion. Religion ist damit als symbolische Form für die Kultur unverzichtbar. Sie ist als eigenständige symbolische Form, indem sie ganz bei ihrer Sache bleibt, um mit Barth zu reden, zugleich auf andere symbolische Formen bezogen. Denn sie bringt in einer spezifisch gesteigerten Weise die Selbstreflexion der symbolischen Rationalität zum Ausdruck, also das, was auch alle anderen symbolischen Formen betrifft, ohne sie deshalb als religiös imprägniert verstehen zu müssen.

Eine alternative Lesart der Prägnanzthese bietet Stoellger (138). Die Prägnanz der Religion besteht für ihn nicht in einer eigenständigen symbolischen Form, sondern in einer basalen Formierung von Sprache, die quer zu allen symbolischen Formen liegt und zugleich in ihnen präsent und mitgesetzt ist.

Eine Krux der religionsphilosophischen Position Cassirers liegt darin, dass sie in Abgrenzungsprobleme mit der Kunst führt. Das Ineinander von Formaufbau- und Formkritik, das den religiösen Zeichengebrauch auszeichnet, scheint in der Kunst beschwichtigt zu sein. Wonach die Religion in der Auseinandersetzung mit dem Mythos strebt, "zum reinen Sinnbewußtsein zu werden" (Gräb, 246), das wird im Ästhetischen erreicht. Der Weg vom Mythos über die Religion führt so zur Kunst, in der alle vorhergehenden Stufen aufgehoben werden. Mit dieser Lesart wird aber Cassirers Mehrdimensionalitätsthese revoziert. Der Ausweg, die Religion aus dem Konflikt von Sinn und Zeichen zu entlassen und allein auf den "existentialen Sinnbezug" (ders., 248) ihrer Bildwelten abzustellen, käme einer "völligen Negation religiöser ,symbolischer Formen' gleich" (Lütterfelds, 74). Es könnte aber auch sein, dass die Kunst "nur eben beschwichtigt", was in der Religion als Konflikt präsent bleiben muss, damit die Kunst nicht in ästhetischem Eskapismus endet.

Zu Cassirers Religionsverständnis und der Abgrenzung von Religion und Kunst vgl. M. Moxter, Formzerstörung und Formaufbau: Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer, in: Matthias Jung, Michael Moxter, Thomas M. Schmidt [Hrsg.], Religionsphilosophie, Würzburg 2000.

Dieser Aufsatzband zu der Kulturphilosophie Cassirers und der in ihr eingelagerten religionsphilosophischen Implikationen macht auf überzeugende Weise deutlich, wie leistungsfähig diese Plattform ist für das Gespräch von Religionsphilosophen, systematischen und praktischen Theologen (es fehlen leider die Exegeten). Er macht aber auch deutlich, welche Chancen Cassirer bietet, die Debatte über die Prägnanz der Religion in der Kultur mit anderen Disziplinen aufzunehmen, etwa den Religionswissenschaften. Insofern empfiehlt sich dieser Band einem breiten Publikum zur Lektüre.