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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1077–1079

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jung, Matthias, Moxter, Michael, u. Thomas M. Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. 213 S. 8 = Religion in der Moderne, 6. Kart. DM 39,-. ISBN 3-429-02121-9.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Ernst Troeltsch hat dem neuzeitlichen Selbstverständnis der Theologie eingeschärft, dass die Religionsphilosophie ins methodische Standardrepertoire dogmatischer Prolegomena gehört. "Das Problem der Geltungsbegründung des Christentums kann nur von einer religionsphilosophischen Anschauung über das Wesen der Religion und über das der religiösen Entwicklung gelöst werden" (Die Dogmatik der ,religionsgeschichtlichen Schule', Gesammelte Schriften II, 504). Nach einer vorübergegangenen Phase theologischer Ablehnung der Religionsphilosophie, der ein philosophisches Desinteresse am religiösen Sujet entsprach, ist man gegenwärtig nicht nur zu einer interdisziplinären Aufarbeitung der religionsphilosophischen Probleme übergegangen, sondern es sind auch begrüßenswerte Institutionalisierungsvorgänge zu verzeichnen. In einem solchen Zusammenhang, nämlich der Gründung des Instituts für Relgionsphilosophische Forschung (IRF) an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, ist der vorliegende Band entstanden. Das IRF ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die von Lehrenden der Fachbereiche Evangelische Theologie, Katholische Theologie und des Instituts für Philosophie unterhalten wird und die auch den neuen interdisziplinären Studiengang Religionsphilosophie mit trägt.

Der Eindruck thematischer Heterogenität, den die zwölf Beiträge auf den ersten Blick vermitteln, wird überwunden, wenn man die zwölf, meist sehr instruktiven Aufsätze als Beiträge zur Bestimmung des Begriffs von Religionsphilosophie liest, in denen klassische Theoriekonstellationen vorgestellt, systematische Probleme aufgegriffen, traditionelle und neue Arbeitsfelder vermessen und methodische Varietät angebahnt wird.

Die Reihe der Beiträge wird eröffnet durch eine modernitätstheoretische Begriffsbestimmung von Matthias Lutz-Bachmann unter dem Titel Religion - Philosophie - Religionsphilosophie. Mit dem Auftreten der Disziplin "Religionsphilosophie" im 17. und 18. Jh. schafft sich weniger ein Krisen- als ein forciertes und differenziertes Geltungsbewusstsein Ausdruck. "Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung konstituiert sich der Eigensinn des Religiösen nämlich ungleich schärfer als er in Gesellschaften hervortritt, deren kultureller Differenzierungsgrad insgesamt schwächer ist, auch wenn sie als Ganze von religiösen Mustern stärker bestimmt scheinen" (20 f.). Religion im heutigen Verständnis ist "ein spezifisches Ergebnis der neuzeitlichen Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesse" (21). Neben der Bewältigung des religiösen Pluralismus und der vernünftigen Religionskritik besteht die religionsphilosophische Aufgabe darin, gegen die Überrationalisierung der Philosophie und die intellektuelle Skepsis "Religion überhaupt als eine mögliche Deutung der Wirklichkeit durch den Menschen" (23) zu thematisieren. Darin erweist sich die Religionsphilosophie als Baustein zu einem kritischen Vernunftbegriff, der einerseits "der allgemein anerkannten Krise der Vernunft unter dem Vorzeichen einer ,Dialektik der Aufklärung'" (25) eingedenk ist und andererseits nicht in "ein bloß prozedurales Verständnis von Rationalität" (ebd.) abgleitet.

Zwei weitere Beiträge sind der methodischen Bedeutung der Religion für die philosophische Bestimmung der Grenzen der Rationalität gewidmet. Hermann Deuser betont in seinen Erwägungen Zum Religions- und Wahrheitsbegriff bei William James den lebensweltlichen Vorrang und Nutzen gelebter Religiosität. Die Religionsphilosophie konzentriert sich daher "auf die praktische Seite des religiösen Glaubens" (163). Im Verhältnis zur strengen Wissenschaft repräsentiert sie - wie lebensweltlich die Religiosität - "das Andere des intellektuellen Begreifens" (164), das konstitutiv für jeden "Begriff einer realistischen Philosophie" (ebd.) ist, den Deuser mit Peirce semiotisch auslegt. Dazu bietet Michael Moxters Beitrag Formzerstörung und Formaufbau: Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer eine phänomenologische Differenzierung. Denn wenn Mythos, Kunst und Religion je für sich und zusammengenommen als "Kandidaten heterogener Andersheit" (165) zu gelten haben, kann die Religionsphilosophie "nicht umstandslos-selbstverständlich als eine regional spezifizierte Teilsdisziplin" (165) der Philosophie gelten. Vielmehr dokumentiert sich im Umgang mit dem rational Widerständigen das Selbstverständnis der Philosophie, das in der Religionsphilosophie reflexiv eingesehen werden kann. Moxter plädiert nun dafür, die "Grenze zum Irrationalsten, zum Anderen der Vernunft, ... so [zu] ziehen, daß über sie auch hinausgegangen wird. Als Grenze trennt sie sozusagen nur, indem sie verwandte Gebiete verbindet" (180). Auf diese Weise kann der "Eigengehalt der Erscheinungsformen religiösen Bewußtseins" (181) gewürdigt werden, freilich um den Preis ihrer Entfremdung aus den religiösen Vollzügen selbst. Dies bedeutet jedoch keine rationale Säkularisierung der Religion. Denn mit Cassirers Symbol- und Religionstheorie geht Moxter davon aus, dass dieser Vorgang von Formzerstörung und Formaufbau der Religion nicht fremd ist, weil sie als Phänomen die symbolische Form vollständig, d.h. in ihrer dreistelligen semiotischen Struktur konstituiert.

Das damit zusammenhängende Problem von Unmittelbarkeit und Reflexion im religiösen Vollzug erörtert Matthias Jung in seinem Beitrag Religiöse Erfahrung: Genese und Kritik eines religionsphilosophischen Grundbegriffs. Dessen fundamentale Bedeutung verbindet sich mit den Merkmalen Existentialität und Präkognitivität. Das Begründungsproblem besteht in der prekären "Bestimmung des Verhältnisses zwischen individueller, perspektivischer Erfahrung einerseits und allgemeinen, intersubjektiv überprüfungsbedürftigen Geltungsansprüchen andererseits" (136). In kritischer Sichtung der Konzepte von Schleiermacher, Dilthey, James und Otto kommt Jung zu einem doppelten Ergebnis. Einerseits ist jede Prätention von Unmittelbarkeit verfehlt: "Bereits die Identifizierung eines Erfahrungsgehalts - die elementare hermeneutische Leistung, etwas als etwas zu verstehen - setzt Intersubjektivität voraus und darf darum keine vermittlungsfreie Unfehlbarkeit beanspruchen" (146). Andererseits ist der Aspekt unmittelbarer Erfahrung nicht völlig abzuweisen, wie Jung im Blick auf die irreduzible Gehaltlichkeit religiösen Erlebens formuliert. Dieser Gehalt aber wird stets "als so-und-so-beschaffen erfahren" (146). Die Deutungskomponente ist daher nicht ein bloß additives Supplement, sie "muß vielmehr selbst als integrale, jedoch im Vollzug unthematische Komponente der Erfahrung betrachtet werden" (146). Die distanzierende Reflexion der Religionsphilosophie hebt diese mitlaufenden Vermittlungsleistungen auf die Ebene des Wissens, ohne aber das Eigenrecht des religiösen Erlebnisses in seiner komplexen Struktur zu unterlaufen. Denn der methodische Mindeststandard besteht darin, "zwischen binnenperspektivischem Vollzug, lebensweltlicher Artikulation und objektivierender Reflexion" (149) ständig zu unterscheiden und die Differenzen, die sich hier dauerhaft einstellen, nicht durch einen "szientifischen Reduktionismus [zu] tilgen" (ebd.).

Zur erfahrungstheoretischen Geltungsbegründung von Religion repräsentiert die absolutheitstheoretische ein konkurrierendes (oder ergänzendes) Modell. Thomas M. Schmidt betont in seinem Beitrag Anerkennung und absolute Religion. Gesellschaftstheorie und Religionsphilosophie in Hegels Frühschriften die grundsätzliche Bedeutung der von Hegel elaborierten Theorie des Absoluten sowohl für das Geltungsproblem der Religion der modernen Gesellschaft als auch für den sozialphilosophischen Begriff ihrer inneren Ausdifferenzierung.

Auch die übrigen Themen der Religionsphilosophie kommen in der Brechung klassischer oder moderner Entwürfe zur Sprache.

Die metaphysische Imprägnierung jeder religionsphilosophischen Position macht Eleonore Stump an einem prominenten Beispiel deutlich. In Nichtcartesischer Substanzdualismus und nichtreduktionistischer Materialismus: Thomas von Aquin über die Seele zeigt die Philosophin aus St. Louis am Beispiel von Thomas' Seelenlehre, dass für die Überwindung des aporetischen Dualismus gedankliche Modelle bereit stehen, die den überkommenen Platonismus hinter sich lassen und an moderne Emergenztheorien angeschlossen werden können.

In zwei Aufsätzen wird das Thema der Gottesbeweise aufgegriffen. Gangolf Schrimpf erörtert das ontologische Argument in seinem Beitrag Die Rechtfertigung des Theismus durch Anselm von Canterbury. Eine kritische Erörterung von Berkeleys Gottesbeweis aus der Empirie bietet Arend Kulenkampff.

Die klassische Religionskritik begegnet in Alfred Schmidts genetisch angelegter und sehr materialreicher Studie Religionskritik als Religionsphilosophie im Werk Ludwig Feuerbachs, in der er zu Recht das religiös affirmative Interesse Feuerbachs herausstellt.

Das Problem der Pluralität der Religionen wird in zwei Beiträgen bearbeitet.

Hermann Schrödter stellt in dem Beitrag Nikolaus von Kues: Religion zwischen Diskurs und Gewalt ein frühneuzeitliches Modell der Diskursform als der "angemessenen Form zwischenmenschlicher Wahrheitsverwirklichung" (83) vor, das wegen seiner Orientierung an substantiellen Inhalten auch geeignet ist, die einseitig auf das Problemlösungsverfahren abstellende Diskurstheorie der Gegenwart zu korrigieren. Edmund Runggaldier macht in Analytische Methoden der Religionsphilosophie: Zwischen Objektivität und Esoterik am Beispiel der "diffusen, schwer überschaubaren ,neuen Religiosität' und esoterischen Praxis" (202) darauf aufmerksam, dass die Religionsphilosophie flexibler Rationalitätskonzepte bedarf, um die stark irrationalen Erscheinungsformen von Religion jenseits der traditionalen Religionskulturen begreifen zu können. Dafür stellt die analytische Philosophie ein beachtliches Potential bereit, sofern sie sich von Engführungen, die Runggaldier beim frühen Wittgenstein, beim logischen Positivismus und bei einem Großteil der gegenwärtigen analytischen Religionsphilosophie identifiziert, frei macht.

Dass die Religionsphilosophie gelegentlich unkonventionelle Wege geht, zeigt Thomas Liesemann in seinem Beitrag Moral - Anerkennung - Poetik, in dem er philosophische Grundgedanken des amerikanischen Gegenwartsphilosophen Stanley Cavell vorstellt. Dieser Beitrag gibt einigen Aufschluss über ein (religions-)philosophisches Programm, das sich als essayistische Reflexion über sprachliche Ausdrucksformen von Alltäglichkeits- und Intimitätserfahrungen realisiert. Die räsonierende Anknüpfung an das Gewöhnliche und Alltägliche unterläuft den universalistischen Absolutheitsanspruch professioneller Theologie und verfasster Religion, führt 'on the long run' freilich dazu, dass das essayistische Philosophieren zum säkularen Religionsersatz wird. Damit wird die Differenz zwischen der lebensweltlich eigenständigen Religion und der philosophischen Metaebene, die von den begrifflich argumentierenden Religionsphilosophen betont wird, eingezogen.

Trotz der vielen Konvergenzen, die insbesondere in der durchweg positiven Würdigung des Phänomens der Religion zu notieren sind, zeigt sich hier, dass sich in bezug auf die Bestimmung ihres Wesens unter dem Dach der Firma Religionsphilosophie gelegentlich kaum noch miteinander zu vereinbarende Konzepte versammeln können.