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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1072–1075

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dickmann, Ulrich

Titel/Untertitel:

Subjektivität als Verantwortung. Die Ambivalenz des Humanum bei Emmanuel Levinas und ihre Bedeutung für die theologische Anthropologie.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2000. 502 S. gr.8 = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, 16. Kart. DM 128,-. ISBN 3-7720-2584-6.

Rezensent:

Peter Dabrock

Weite Teile sowohl katholischer als auch protestantischer Theologie des 20. Jh.s verbindet das hermeneutische Credo, dass verantwortliche Theologie nicht ohne Anthropologie gedacht und konzipiert werden kann. Weil Gott selbst Mensch wurde - "bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz" (Phil 2,8) - kann intrinsisch von Gott nicht ohne den Menschen geredet werden. Was diese Selbstbindung Gottes an den Menschen jedoch für die Bestimmung des Menschen als Menschen selbst bedeutet, ist und bleibt theologisch sowohl sachlich als auch methodisch hoch umstritten: Darf und/oder muss die Theologie Ergebnisse empirischer Humanwissenschaften theologisch-anthropologisch - und wenn, in welchem Modus - verwenden? Soll sie umgekehrt - und wenn, mit welcher Legitimität und Kriteriologie - die humanwissenschaftlichen Bestimmungen souverän gewichten und beurteilen? Braucht sie dazu als Vermittlungsinstanz die Philosophie und wenn, welche? Ist sie a priori auf Transzendentalphilosophie - und wenn in welcher Form - angewiesen? Wenn bereits das Ineinander humanwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Rede inklusive ihrer Deutungshierarchien und Argumentationsvektoren hoch umstritten ist, um wie viel verworrener wird die Lage, wenn man dann noch den Bruch jeden gesamt- oder grundordnungstheoretischen Verstehens, "Auschwitz", als schmerzenden "Stachel des Fremden" (Waldenfels) verwinden muss. In dieser nahezu aporetischen Situation mit Hilfe der Philosophie des Anderen von Emmanuel Levinas (L.) identitätsverbindliche und relevanzeröffnende Perspektiven für die Theologie zu erschließen, ist das beabsichtigte Ziel der 1997 von der Tübinger kath. Fakultät angenommenen und 1999 veröffentlichen Dissertation von Ulrich Dieckmann (D.) "Subjektivität als Verantwortung".

Um die eigene Klärung dieser Fragestellungen zu operationalisieren, konzentriert sich der Vf. auf die aus der Theologiegeschichte (man denke nur an den flacianischen Streit) sattsam bekannte Verhältnisbestimmung von Gottebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit. Exemplarisch ausgewählten neueren theologischen Anthropologien (Pannenberg, Pesch, Rahner, Biser) bescheinigt D., an der unter 1. skizzierten Problemkonstellation gescheitert zu sein (11-50). Während Pannenberg kurzschlüssig aus den Humanwissenschaften theologische Konklusionen ableite (24-32), Pesch im Gegenzug die Ergebnisse der empirischen Anthropologien dogmatisch (christologisch und gnadentheologisch) ausbremse (32-39), gelänge es Biser und Rahner zwar, eine auf philosophischer Reflexion aufbauende fundamentaltheologische Zwischenebene zwischen Dogmatik und Anthropologie einzufügen. Biser jedoch unterliefen nicht nur methodische Ungenauigkeiten, sondern er gehe auch von dem unbiblischen Axiom menschlicher Perfektibilität aus (39-42). Rahner hingegen schließe unberechtigterweise von transzendentalen Möglichkeiten auf die legitime Kategorialität des Christlichen zur Bestimmung des Menschen (42-47). Wegen dieser methodischen Defizite gelänge es keinem der Ansätze, die Ambiguität von Gottebenbildlichkeit und Sünde so zu denken, dass sie zudem gegenwartsorientiert (und das heißt: nach Auschwitz; 47-50) binnen- und extratheologisch verantwortet werden kann. Diese nach D. noch ausstehende Vermittlung kann jedoch s. E. die Verarbeitung der levinasschen (l.) Philosophie des Anderen innerhalb einer transzendental argumentierenden Dogmatik leisten.

Zum Zwecke der Vertiefung dogmatischer Reflexion durch die Integration der philosophischen Einsichten stellt der Vf. zunächst in einem ersten Überblick die Intention und Methode des l. Denkens vor (51-150): Gemäß dem phänomenologischen Axiom, dass Zugangsart und Sachgehalt einander bedingen, wird auf die konstitutive Verwurzelung der l. Phänomenologie im Judentum rekurriert (53-110). Weil es L. trotz methodischer und sachlicher Akzentverschiebungen durchgehend um die ",Rettung' menschlichen Personseins" (111) gehe, sei seine Methode als "Transzendentalismus, der mit dem Ethischen beginnt" zu charakterisieren (107). Für die Erhellung der theologisch-anthropologischen Ambiguität von Gottebenbildlichkeit und Sünde hilft nach D. eine dem l. Transzendentalismus abgerungene Ambivalenz von ontologisch beschriebener Selbstgenügsamkeit menschlicher Subjektivität einerseits und ethischer Konstitution des Subjektes aus dem unabweisbaren Anspruch des Anderen, für ihn Sorge zu tragen, andererseits. Dieser drückt sich im imperativischen Indikativ aus: "Du sollst/wirst mich nicht töten!" Die Ambivalenz des Menschseins nach L. wird im Abschlussteil (441-479) auf die theologische Anthropologie derart übertragen, dass die von L. vorgelegte ontologische Deskription des selbstgenügsamen Menschen (die zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Verantwortung anerkannt wird; 449, 454) theologisch als Sündhaftigkeit reinterpretiert wird, während - und das ist sicherlich der größere Erkenntnisgewinn - die Gottebenbildlichkeit mit der nicht abweisbaren ethischen Verantwortung für den Anderen identifiziert wird. Mit diesem doppelpoligen Entsprechungskonstruktivismus kann zum einen sowohl der biblische Befund, dass die Ebenbildlichkeit keine ontologische Statusaussage, sondern funktional eine ethische Verantwortungszuschreibung formuliert, ernst genommen werden; zum anderen artikuliert diese extraordinäre Verantwortungsfunktion die Würde eines jeden menschlichen Individuums (459-479). Weil sich die Gottebenbildlichkeit nach D.s L.-Interpretation gerade in der unabweisbaren Verantwortung für den Anderen entdecken lässt, geht sie auch nicht durch die an der ontologischen Dimension der Selbstgenügsamkeit festgemachten Sündhaftigkeit verloren - womit D. die "Ambivalenz des Humanum" abschließend nicht nur dogmatisch erklärt, sondern auch durch die ethische Perspektivierung vor dem Stachel "Auschwitz" lebensweltlich verantwortet sieht.

Um das genannte Ziel zu erreichen, führt der Vf. die Leser auf eine sorgfältig aufbereitete, allerdings überaus lange exegetische Reise durch das uvre von Levinas (151-440): von der Konstitution des subjektiven Seins aus dem anonymen Il-y-a durch die Hypostase (151-198), über das primordiale Ich, das bei L. nicht nur bewusstseins-, sondern leibtheoretisch reflektiert wird (199-56), hin zur Begegnung mit dem Anderen (257-346), in der das Ich aus seiner Selbstgenügsamkeit gerissen wird und schließlich zur Verantwortung, auf die es sich als ursprüngliche Subjektivität zurückgeworfen sieht (347-406) und worin es nicht aus seiner Natur heraus, sondern im Widerfahrnis dem schon immer vorübergegangenen Gott auf die Spur kommt (407-440).

Nach ca. 15 Jahren der L.-Rezeption sollten Spezialstudien, die (wie die vorliegende Arbeit von D.) dessen Philosophie zum Zwecke einer systematischen Intention nutzen, endgültig darauf verzichten, zum wiederholten Male darin zugleich eine Gesamtdarstellung des l. Werkes liefern zu wollen- derer liegen inzwischen nicht nur genügend vor, sondern das genannte Verfahren behindert durch die ermüdende Redundanz die Rezeption der jeweiligen Untersuchung. Deshalb soll abschließend nur die für das systematisch-theologische Ergebnis relevante (problematische) Weichenstellung der L.-Interpretation von D. herausgestellt und bewertet werden.

Das für die theologisch-anthropologische Applikabilität fruchtbare Ergebnis der "Ambivalenz des Humanum" aus ontologischer Selbstgenügsamkeit und ethischer Verantwortung kann der Vf. nur erzielen, indem er die frühen transzendentalphänomenologischen Konstitutionsanalysen (insbesondere aus "Totalität und Unendlichkeit") mit der sprachphänomenologischen Rekonstruktionshermeneutik aus "Jenseits des Seins", mit der L. die ontologische Sprache der früheren Phase zu überwinden sucht, systematisch-synchron zusammendenkt. Diese Zuordnung dürfte - auch wenn man nicht von einer Kehre in der Philosophie von L. sprechen muss - methodisch äußerst problematisch sein. Gerade in der späteren Schaffensphase von L. wird die Ambivalenz bei der Konstitution von Subjektivität geltungstheoretisch eindeutig zu Gunsten der ethischen Verantwortung aufgelöst. Ist dem so, dann muss man schärfer, als dies D. im Schlussteil herausgearbeitet hat, die nichtreziproke Asymmetrie zwischen Verantwortungssubjekt (Ich als "sich") und -objekt ("der Andere") herausstellen. Wenn in verschiedenen Kontexten beide von L. als Ebenbild Gottes bezeichnet werden, hätte man die Äquivokationen und unterschiedlichen Funktionen dieses einen Labels unterstreichen müssen. Indem D. darauf verzichtet, vielmehr "Ich" und "Anderer" auch noch durch die Begriffe "Person" und "Würde" einem gemeinsamen Bedeutungsfeld subsumiert, wird die l. Philosophie zwar nicht auf eine gesamtordnungstheoretische Ontologie, aber doch auf eine grundordnungstheoretische transzendentale Ethik reduziert. Damit wird die "moralische Urszene" (Waldenfels) zwischen Ich und Anderem, die keine, auch keine ethische Ordnung zulässt, ihrer eigentlichen Provokation beraubt. Durch diese "Ich" und "Anderer" unter die Begriffe "Gottebenbildlichkeit", "Person" und "Würde" zusammenbringende Moralisierung der Philosophie von L. bleibt in der christlich-theologischen Applikation folglich kaum Raum für eine soteriologische Interpretation des Christusgeschehens, das von D. im Wesentlichen vorbild-, im besten Fall urbildchristologisch (476.478) gedeutet wird. Damit bewegt sich D. im Fahrwasser liberaler Theologie des 19. Jh.s, wie die beiden letzten Sätze der Studie veranschaulichen: "Der Mensch, ob Christ oder Jude, ist gerufen, ... dem Messias und Gottesknecht immer ähnlicher zu werden. Hier und Jetzt [sic!] entscheidet sich, ob die Gottesherrschaft Gestalt annimmt." (479) Aber das letzte Wort in der Verhältnisbestimmung von Gottebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit und bei der Verwendung philosophischer Instrumentarien in der theologischen Anthropologie muss ja mit dieser durchaus anregenden Studie noch nicht gesprochen sein.