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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1069–1071

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Stössel, Hendrik

Titel/Untertitel:

Kirchenleitung nach Barmen. Das Modell der Evangelischen Landeskirche in Baden.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XIII, 241 S. gr.8 = Jus Ecclesiasticum, 60. Lw. DM 98,-. ISBN 3-16-147215-2.

Rezensent:

Günter Krusche

Anhand der Entstehung der Grundordnung der Ev. Landeskirche in Baden untersucht H. Stössel die Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung (BThE). Ausgangspunkt ist die These: "Kirchenleitung geschieht geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit" (1). St. setzt ein mit der Darstellung der wechselvollen Geschichte der badischen Kirchenleitung (KL) nach dem Ende des landesherrlichen Summepiskopats und zeichnet die rechtstheologischen Debatten der Weimarer Zeit nach, die unmittelbar in die NS-Zeit hineinführten. (Kap. 2). Danach stellt er ausführlich die Auseinandersetzung um "Barmen" dar, die in Baden durch namhafte Persönlichkeiten wie Hermann Weber und Gerhard Ritter wesentlich bestimmt war. Er zieht auch die seltener zitierte "Erklärung zur Rechtslage der DEK" heran, die der "Reichskirche" die Legitimität als KL absprach. Der wichtigste Beitrag in diesem Kap. ist die ekklesiologische Deutung der BThE, vor allem der These III (Kap. 3). Nach dieser Grundlegung stellt St. Modelle für die badische Rezeption der BThE vor; dabei kommen vor allem Bonhoeffer und die Denkschrift der APU "Von rechter Kirchenordnung" vom Januar (!) 1945 in den Blick. St. weist nach, welche entscheidende Bedeutung diese Denkschrift für die Gestaltung der Kirchenordnungen in der Nachkriegszeit, vor allem in den unierten Kirchen, gewann (Kap. 4).

Das 5. Kap., in dem der Rezeptionsprozess von "Barmen" ausführlich und auf Grund ausführlichen Quellenstudiums dargestellt wird, darf wohl als der Hauptteil des Buches bezeichnet werden (56-150). Hier wird vor allem die Entstehung des badischen "Leitungsgesetzes" auf Grund des Quellenmaterials sorgfältig und differenziert beschrieben. In seiner Detailtreue ist dies der aufschlussreichste Teil des Buches. Die verschiedenen Stadien des Leitungsgesetzes werden anhand der (im Anhang dokumentierten) verschiedenen Fassungen nicht nur referiert, sondern auch reflektiert. Im folgenden Kapitel (Kap. 6) wird das badische Leitungskonzept als Modell evangelischer KL exemplarisch vorgestellt und der Versuch unternommen, Konsequenzen für die gegenwärtige Praxis von KL zu ziehen. St. erkennt in den einschlägigen Formulierungen des Leitungsgesetzes als "Grunderkenntnis": "Weder kann und darf das geistliche Element in der Kirche gestaltlos und unverbindlich sein, noch kann und darf sich das rechtliche Element der Hinterfragung auf seine Begründung im Glauben entziehen" (178).

Abschließend konstatiert St. unter Verweis auf Beispiele aus dem Kirchenkampf und auf die gegenwärtig anzutreffende "Desolidarisierung" innerhalb der Kirche die überraschend geringe rechtspraktische Bedeutung der Erkenntnisse von Barmen. Unter dem Thema "Die Versuchlichkeit der Macht" (179 ff.) setzt er sich am Ende mit der Gefahr des Auseinanderklaffens von "Geistkirche" und "Rechtskirche" (R. Sohm) auseinander und plädiert als Ergebnis seiner Studie dafür, dass beide Aspekte - auch im Sinne neutestamentlicher Kybernese - nicht gegeneinander ausgespielt werden. Weder den "Schwärmern" noch den "Technokraten" darf in der Kirche Recht gegeben werden. Denn die Grenze zwischen wahrer und falscher Kirche ist nicht die zwischen Geist- und Rechtskirche. Das "simul iustus et peccator" der Reformation gilt auf allen Ebenen kirchlichen Dienstes. Die praktische Konsequenz daraus muss das geistliche Gespräch in der KL über die KL sein. Wenn dies erkannt und praktiziert würde, könnte der verbreiteten "Rechtsfeindlichkeit des evangelischen Pfarrerstandes" (A. v. Campenhausen) im Interesse verantwortlichen Dienstes begegnet werden.

Diese Studie hat nicht nur Bedeutung für die badische Landeskirche. Sie zeichnet die rechtstheologischen und ekklesiologischen Diskussionen der Nachkriegszeit sehr genau in die zeit- und kirchengeschichtliche Situation ein. Dabei kann St. den Nachweis führen, dass manche Elemente der späteren Diskussion sich bis in die Weimarer Zeit zurückverfolgen lassen, z. B. der Gedanke des Allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, ohne dass damals schon kirchenrechtliche Folgerungen daraus gezogen wurden. Eine weitere Stärke des Buches ist, dass St. die Entwicklung einzelner Persönlichkeiten verfolgt hat, so dass auch Wandlungen von Einsichten im Laufe der Zeit erkennbar werden. Erstaunlich ist im Rückblick die Stringenz und Folgerichtigkeit der Wirkungsgeschichte von Barmen in Baden, die St. überzeugend herausgearbeitet hat.

Die Fokussierung auf die Rezeption von Barmen in Baden macht es möglich, die Entstehung der Leitungsstruktur in der badischen Landeskirche genau und präzis zu verfolgen. Aber St. hat die Entstehung der badischen Grundordnung und des Leitungsgesetzes selbst als exemplarisch für ein verantwortbares Verständnis von KL erkannt und entsprechend dargestellt. Darin liegt auch die weitergehende Bedeutung dieser Studie.

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich St. ganz auf die Rezeption von Barmen in Baden konzentriert. Deshalb werden in seinen Überlegungen nur relativ wenige Bezüge zu der Entwicklung in anderen Landeskirchen hergestellt, wenn man von der abgrenzenden Darstellung der Kirchenordnung von Kurhessen und Waldeck einmal absieht (158 ff.). So wird weder die ökumenische Studie "Mission als Strukturprinzip" aus den sechziger Jahren noch die ausführliche Bearbeitung der Dritten Barmer These durch den Theologischen Ausschuss der EKU in zwei Bänden, obwohl im Literaturverzeichnis aufgeführt (Burgsmüller, A. [Hrsg.], 1981), herangezogen. Es ließe sich auch an die intensiven Debatten im Bund der Ev. Kirchen in der DDR erinnern, in denen um die "Zeugnis- und Dienstgestalt der Kirche" in einem neuen gesellschaftlichen Kontext gerungen wurde. Auch dabei spielten die Erfahrungen des Kirchenkampfes und die Rezeption Bonhoeffers eine tragende Rolle. Im Ergebnis hätte St. viele Übereinstimmungen und Bestätigungen für seine Grunderkenntnisse gefunden.

Korrektur: In der Überschrift zu Kap. 4 (44) muss es heißen: "Modelle für die badische Rezeption. etc."