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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1064–1067

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schmidtsiefer, Peter

Titel/Untertitel:

Kirche und Gesellschaft im Wilhelminischen Kaiserreich. Eine Analyse der Zeitschrift "Licht und Leben" (1889-1914).

Verlag:

Köln: Rheinland Verlag 1999. IX, 597 S. 8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 139. Geb. DM 37,-. ISBN 3-7927-1779-4.

Rezensent:

Matthias Pöhlmann

Nach Einschätzung von Medienwissenschaftlern sind Studien zur Komplexität und Bedeutung der Zeitschrift als publizistisches Medium noch immer eine Rarität. Insofern kann eine am Einzelmedium orientierte Untersuchung dazu beitragen, die mediale Eigenständigkeit der Zeitschrift neu in Erinnerung zu rufen. Überdies sind solche Beiträge nicht nur in historischer Hinsicht, sondern auch für die Erforschung des evangelischen Presse- und Zeitschriftenwesens und ihrer publizistischen Trägergruppen von Interesse.

Die vorliegende geschichtswissenschaftliche Dissertation analysiert das 1889 gegründete religiöse Periodikum "Licht und Leben" (= LL), das zu den zentralen Zeitschriften der deutschen Gemeinschaftsbewegung zählt. Als "Evangelisches Wochenblatt für das Volk" erlangte es während des Wilhelminischen Kaiserreichs in den Industrieregionen Westdeutschlands große Popularität.

Die Arbeit konzentriert sich auf die Zeit zwischen 1889 und 1914 und gliedert sich in neun Kapitel: Sie setzt mit "Überlegungen zur Analyse von Mentalität im Pietismus" ein (1-25), untersucht "Die Gemeinschaftsbewegung und ,Licht und Leben'" (26-108) und akzentuiert als "Selbstverständigung durch den Glauben" Schlüsselbegriffe gemeinschaftsbewegter Frömmigkeit (109-209). Die Abschnitte 4 und 5 befassen sich mit Einzelaspekten: "Familie und Gemeinschaft" (210-264) sowie "Die ,Soziale Frage' in ,Licht und Leben'" (265-333). Der Vf. untersucht im Kapitel "Die Spiegelung der eigenen Positionen in der Konstruktion des Gegners" insbesondere das von LL entworfene Bild von Sozialdemokratie, Bourgeoisie und Judentum (334-377). Kapitel sieben und acht beleuchten "Erlösung durch das Reich: Nation und Nationalismus" (378-435) sowie unter der Überschrift "Apokalypse 1914" entsprechende Vorstellungen und Erwartungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs (436-523). Das abschließende Kapitel 9 bietet eine im Spiegel von LL gewonnene Charakteristik der "Kleinbürgerliche[n] Mentalität" (524-545). Abgerundet wird der Band durch ein mit biographischen Kurzangaben angereichertes Personenregister (591-597).

Der Vf. begreift in Anschluss an Karl-Hermann Beeck Mentalität als "unreflektierte kollektive psychische Grundbefindlichkeit einer Gruppe innerhalb einer allen ihren Angehörigen gemeinsamen Umwelt" (3). Mentalität dient dem Vf. als heuristische Kategorie; er entscheidet sich für ein kommunikations- bzw. diskursgeschichtliches Vorgehen. Pietismus, Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung werden als Kommunikationssysteme begriffen, wobei die Zeitschrift LL den Zugang zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte vermittelt. Im Zentrum der Untersuchung steht das Kleinbürgertum als Kommunikationssystem innerhalb einer Gruppe von Menschen, die an einer bestimmten Mentalität partizipieren. Religion wird als Symbolsystem betrachtet, "mit dessen Hilfe Kommunikation zwischen den Herausgebern und Lesern und zwischen den Lesern untereinander erst möglich wird" (25).

LL wird insbesondere im Kontext der Gemeinschaftsbewegung untersucht. Die Entstehung der Evangelischen Gesellschaft im Jahr 1848 wird dabei in engem Zusammenhang mit der der Inneren Mission geschildert. Das Konzept der Inneren Mission Wicherns und das der Gemeinschaftsbewegung gelten als "typisch moderne Erscheinungen, insofern sich beide dem Sog der Veränderung ausgesetzt sehen" (34). Ob Wichern die agitatorischen Mittel des gesellschaftlich-religiösen Gegners nicht bewusst aufgenommen habe - so die Behauptung des Vf.s (49) -, muss allerdings nach Ergebnissen publizistischer Einzelstudien, die von einer gezielten Kontroverspublizistik Wicherns ausgehen, bezweifelt werden.

Interessante Hinweise zum Medium finden sich in den Abschnitten zu den Herausgebern, zum Periodikum und seinen Rezipienten (60-108): Die Herausgeber der Zeitschrift (Julius Dammann, Dr. Wilhelm Busch und Joseph Gauger) nahmen eine Haltung "zwischen pietistisch-kleinbürgerlicher Herkunft und der durch die akademische Laufbahn scheinbar vorgezeichneten Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum" ein (69). Die Zeitschrift, die im Anschluss an Joh 1,1-5 selbst "Licht und Leben" sein wollte und bei einer Auflagenhöhe von bis zu 20000 Exemplaren rund 60000 Leser hatte, verfügte über einen für die Sonntagsblätter typischen Aufbau, in dem das Erbauliche und das Faktische gleichermaßen Platz fanden. LL repräsentiert einen eigenen Typus, d. h. eine Mischung aus Volks-, Sonntags- und Familienblatt. Sein Selbstverständnis als "liebevoller Volksmund und Erzieher des Volkes" wurde auch dadurch deutlich, dass es in Form der "antizipierenden Dialogisierung" Fragen der Leserschaft aufgriff, so z. B. das Problem spiritistischer Praktiken sowie eschatologische Themen. Insgesamt gibt LL sich damit als repräsentatives Medium der von der "Evangelischen Gesellschaft" getragenen Gemeinschaften zu erkennen. Die Autoren und Rezipienten (u. a. Dienstboten, Knechte, Handwerker) erwiesen sich gleichermaßen als Teil gemeinsamer Klassenzugehörigkeit und gesellschaftlicher Selbsteinschätzung.

Die Analyse von Schlüsselbegriffen gemeinschaftsbewegter Frömmigkeit erbringt Folgendes: Die Grundlage zur Gottes- und Weltdeutung von LL bildet ein Biblizismus, der die Schrift als Mittel zur gegenseitigen Verständigung der Gläubigen bzw. zur Selbstverständigung der erwecklichen Gemeinschaft verwendet. Für den Leser von LL wird die Bibel zur Metapher der eigenen Lebenswirklichkeit bzw. zur Deutungsvorgabe für diese Wirklichkeit. Für den Vf. enthält LL stellenweise panentheistische bzw. pansophische Züge. Die Abgrenzung zu den Gebildeten, eine der wichtigsten Kontrahentengruppen, spielt für LL eine wichtige Rolle. Der liberale Standpunkt gilt als Wissen der Welt und wird daher als unbiblisch verworfen. - Der Aspekt "Familie und Gesellschaft" bildet den Kernbereich des gemeinschaftsbewegten Gesellschaftsbildes: Gemeinschaft wird zum "geistlichen Commercium". Ein Vergleich zwischen dem pietistischen Konventikelwesen und der Gemeinschaftsbewegung im 19. Jh. fördert Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu Tage. In der Perspektive von LL wird die Familie zur positiven Gegenwelt, sie wird sakralisiert. Gleichzeitig zeigt der Vf. die Schatten auf: "Prügel und Gebet, absolutes Vertrauen und Furcht im Kindesalter sind offensichtlich die angemessenen Erziehungsmaßnahmen gewesen." (241). Die Familie diente als Gefäß rigoroser Unterwerfungsmechanismen und entwickelte sich zum Inbegriff und Garanten gesellschaftlicher Sittlichkeit. Dem "Verfall der Familie" im 19. Jh. stellten die Mitarbeiter von LL eine geschlossene Gesellschaft gegenüber.

Der Vf. bemüht sich um den Nachweis, dass die Gemeinschaftsbewegung und die Zeitschrift die Beantwortung der Sozialen Frage mit Hilfe einer "strukturellen Verkleinbürgerlichung" betreiben. Dies wird anhand einer etwas überbordend und nicht stringent durchgeführten Inhaltsanalyse einer Erzählung in LL exemplifiziert. Besonders deutlich wird die Position von LL im Verhältnis der Zeitschrift zu ihren vier "Gegnern" Katholizismus, Sozialdemokratie, Bourgeoisie und Judentum. Im Blick auf die letzte Gruppe wird nachgewiesen, dass das von LL entworfene - durchaus ambivalente - Bild von den Juden "zwischen Antisemitismus und dem Glauben an das Volk Gottes" angesiedelt ist (362-377). Dabei stellen Vergemeinschaftung, Arbeit und Subsistenz die Konstitutiva für das kleinbürgerliche Empfinden dar. Familie, Klasse und Gesellschaft fallen für LL in eins. Das Verhältnis der Autoren zu Nation und Nationalismus wird an ihrer Haltung zu Kaiser, Parlament und Verwaltung sowie zu Mission und Kolonialismus näher bestimmt.

Mit "Apokalypse 1914" wird die geschichtstheologische Deutung von LL kenntlich gemacht. Hier kommen kleinbürgerliche Bedrohungs- und Ohnmachtsgefühle in den Blick. Der Militarismus erweist sich bei näherer Betrachtung als "Radikalisierung kleinbürgerlicher Vorstellungen"; die von LL bewusst erzeugte Parallele zwischen Militär und erwecklicher Gemeinschaft wird vom Vf. überzeugend nachgewiesen. Der Krieg erweist sich als Vollzug der Apokalypse: Für LL werden Krieg und Militär zu umfassenden Deutungskategorien der Gegenwart (485 ff.). Als überraschend erweist sich jedoch, dass sich bei Kriegsausbruch von den Herausgebern (v. a. Gauger) eine eher distanzierte, fatalistisch gestimmte Haltung beobachten lässt.

Abschließend beleuchtet der Vf. in einer überzeugenden Zusammenfassung die "Kleinbürgerliche Mentalität". Zunächst wird dem Begriff des Kleinbürgertums nachgegangen und dem kulturgeschichtlichen Ansatz ein ökonomistisch orientierter gegenübergestellt, wobei der Vf. sich für eine Verknüpfung von Mentalität und Klasse entscheidet: Das Kleinbürgertum versuche in Auseinandersetzung mit Bürgertum und Proletariat sich selbst zu definieren. Der Kleinbürger geriert sich als eigentlicher Bewahrer der ursprünglich bürgerlichen Werte, die das Bildungs- und Besitzbürgertum verraten habe. Im Fall von LL handelt es sich um Kleinbürger der zweiten Generation. Der Vf. wagt sogar die These, "daß das deutsche Kleinbürgertum wie auch das deutsche Bürgertum, insofern es zwar entkirchlicht, aber gewiß nicht entchristlicht war, christliche Konzepte benötigte, um die eigene nationale Befindlichkeit für sich angemessen zu formulieren" (534). In LL wird nach Ansicht des Vf.s ein "Neo-Konservativismus" deutlich, der sich national bzw. an der preussisch-deutschen Reichsgründung orientierte.

In einer Art Ausblick wird die weitere Entwicklung kleinbürgerlicher Mentalität im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit skizziert. Der Vf. weist darauf hin, dass die Herausgeber und Leser von LL - anders als z. B. Teile der Gemeinschaftsbewegung im Oberbergischen - dem Nationalsozialismus gegenüber resistent blieb: "Der totalitäre Charakter nationalsozialistischer Ideologie kollidierte mit dem fundamentalistischen ,Weltanschauungstotalitarismus'" der Zeitschrift (540). Darüber hinaus macht die Untersuchung - insbesondere bei ihren abschließenden, m. E. interessanten mentalitätsgeschichtlichen Anmerkungen zur Nachkriegsgeschichte im geteilten Deutschland - darauf aufmerksam, "daß die Geschichte des Kleinbürgertums ein wesentlicher Bestandteil deutscher Geschichte ist" (544).

Fazit: Die Studie bietet eine Fülle an mentalitätsgeschichtlich grundlegendem Material, das in historischer Perspektive sehr umsichtig eingeordnet und kritisch gewürdigt wird. Gelegentlich vermisst man aber - anders als der Untertitel es erwarten lässt - die Konzentration auf das Kommunikationsmedium selbst. Zwar weist der Vf. auf die Gründung und Struktur der Zeitschrift, ihre Verbreitung, Herausgeber und Leserkreise hin (75-108), doch fehlt eine Reflexion darüber, welcher medienspezifischer Methodik sich die publizistische Trägergruppe bediente, um ihr Ziele besser vertreten zu können. Dabei hätte die mentalitätsgeschichtlich dominierte Studie weitere interessante und die Analyse bereichernde Impulse von publizistik- bzw. medienwissenschaftlicher Seite (z. B. Medien- und Zeitschriftentheorien) aufnehmen und erweitern können.