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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1058 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Vielberg, Meinolf

Titel/Untertitel:

Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur literarischen Form des spätantiken Romans.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2000. 236 S. gr.8 = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 145. Geb. DM 149,-. ISBN 3-05-003492-0.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Zwanzig Jahre nach der Neuauflage von Georg Streckers einflussreicher Monographie "Das Judenchristentum in den Pseudoklementinen" (TU 702, Berlin 1981) ist erstmals wieder eine deutschsprachige Monographie zu dem in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden ersten christlichen Romanwerk vorgelegt worden. Schon aus diesem Grund ist Meinolf Vielberg für seine in derselben renommierten Reihe vorgelegten Studien sehr zu danken und der Wunsch anzuschließen, dass sein Buch dazu beiträgt, die in Deutschland seit langem stagnierende Erforschung der Pseudoklementinen (PsKl) - einst eine Domäne hiesiger Neutestamentler und Patristiker - zu überwinden.

Die Vorzüge des Buches sind jeder Kritik voranzustellen: Die Untersuchungen des Vf.s, die auf einem soliden altphilologischen Fundament aufbauen, sind auch für Nichtkenner der Materie anregend und mit Gewinn zu lesen, da Primärquellen und Sekundärliteratur in den Hauptkapiteln ("Klemens"; "Lehrer und Schüler"; "Heidnische Bildung und christliche Erziehung"; "Rekognitionen und Romanstruktur"; "Gattungstradition und Gattungskontrafaktur"; "Zur Abgrenzung von Homilien und Rekognitionen") ausführlich referiert werden. Die Hauptthese, dass die nur in lateinischer Übersetzung des Rufin von Aquileia überlieferte Romanrezension der Rekognitionen (R) dem literarischen Genus des antiken Entwicklungs- bzw. Familienromans zuzurechnen und von hierher zu interpretieren sei, gewinnt dadurch ein hohes Maß an Anschaulichkeit.

Allerdings erweckt das Buch den Verdacht, dass es nicht in einem Zuge konzipiert, sondern aus selbstständigen Einzeluntersuchungen zusammengefügt worden ist - sehr detaillierte, ja liebevolle Einzeluntersuchungen stehen unausgeglichen neben stark komprimierten, zusammenfassenden Passagen. Letzteres gilt vor allem für die Behandlung der Einleitungsfragen, einer Hauptcrux des Romans. Der Vf. informiert nur knapp über die verschiedenen Rezensionen der PsKl sowie über die komplizierten literarkritischen Fragen, die um das Abhängigkeitsverhältnis der Rekognitionen zu den griechisch überlieferten Homilien (H) kreisen (12-21). Dabei wird Wichtiges übersehen: Zum Status der Schlusskapitel R X 52-65 und 65a-72 (es handelt sich um einen sekundären Nachtrag aus H 20.11-23 bzw. um eine tertiäre Erweiterung) macht sich der Vf. keine Gedanken, sondern schlägt sie (trotz des Hinweises auf die einschlägige Literatur S. 59, Anm. 32) kurzerhand R zu. Manche Passagen des Buches, die sich auf diese R-Abschnitte stützen, wären daher - gerade auch in Hinblick auf die Hauptthese des Buches- neu und vorsichtiger zu formulieren (59-61.177.183). Zur Literarkritik der PsKl sind dem Vf. die neuesten Arbeiten nicht bekannt geworden (z. B. die in der seit 1990 erscheinenden Zeitschrift Apocrypha erschienenen Aufsätze oder die Monographie von F. St. Jones: An Ancient Jewish Christian Source on the History of Christianity. Pseudo-Clementine Recognitions 1.27-71. Atlanta 1995), so dass er von dem Anfang der achtziger Jahre erreichten Forschungsstand ausgeht, der durch die Verabschiedung unhaltbarer Quellenpostulate bestimmt war, ohne eine neue Hypothese zur Entstehungsgeschichte der PsKl anbieten zu können.

Von hierher wird der Untersuchungsansatz des Vf.s verständlich: Er möchte den literarkritischen Aporien ausweichen, indem er sich ganz auf die Figur des Klemens von Rom konzentriert, obwohl er weiß, dass er den Protagonisten von der Entstehungsgeschichte des Romans nicht ablösen kann. Dieses Dilemma schlägt sich in der etwas gewaltsamen Methodik der Arbeit unmittelbar nieder. Der Vf. empfiehlt "ein überwiegend literaturwissenschaftlich orientiertes Vorgehen ..., welches primär nicht nach der Genese der Pseudoklementinen fragt, obwohl es dieser Frage nach wie vor Priorität einräumt" (21).

Die Hauptkapitel der Untersuchung beschränken sich infolgedessen auf eine traditions- und literaturgeschichtliche Analyse der Klemensfigur. Auch wenn die inhaltliche Begründung, Klemens sei in der Forschung bis dato "ein unbeschriebenes Blatt" (22), angesichts der jeweils zweibändigen Untersuchungen von St. Maistre (Saint Clément de Rome, Paris 1883 f.) und J. B. Lightfoot (The Apostolic Fathers I: S. Clement of Rome, London 21890) - beide vom Vf. übersehen - unzutreffend ist, entwirft der Vf. unter verschiedenen Perspektiven (antiker Schulbetrieb, paganer bzw. christlicher Bildungs- und Erziehungsbegriff) ein facettenreiches Bild des fiktiven Ich-Erzählers der PsKl, das eine echte Bereicherung der Forschung darstellt.

Merkwürdig unausgeglichen sind hingegen die Versuche, von der Klemensfigur her das literarische Genus der PsKl zu bestimmen. Hier schwankt der Vf. zwischen einem Familienroman, dem die Entwicklungsmotive untergeordnet seien (123), und einem "Entwicklungs- und Erziehungsroman" (27, 187 u. ö.), der in R in reinerer Gestalt als in H vorliege (188-193; woraus der Vf. literarkritische Schlüsse zu Gunsten der Priorität von R ziehen möchte - die umgekehrte Argumentation wäre genauso plausibel). Da der Vf. den abenteuerlichen Familienroman und den erbaulichen Entwicklungsroman mit guten Gründen auf zwei verschiedene literarische Traditionen zurückführt (139-164), liegt jedoch das Urteil viel näher, dass die PsKl eine originelle Kombination beider literarischen Genera darstellen, nämlich eines Bildungsromans im ersten Teil (R I-VI par. H 1-11) mit einem Familien- oder Wiedererkennungsroman im zweiten (R VI-X par. H 12-20) - diese Einsicht ist freilich so neu nicht (vgl. LThK3 VI, 1997, 128 f.).

Das Buch beschließen ausführliche Register, die wohl computergestützt erstellt worden sind. So finden sich u. a. zahlreiche Belege aus den nicht-existierenden R-Büchern 11-74 (233) - ein lustiges Aperçu zu einer durch ihre Materialfülle beeindruckenden Untersuchung.