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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1020 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nicolaus, Helmut

Titel/Untertitel:

Hegels Theorie der Entfremdung.

Verlag:

Heidelberg: Manutius 1995. IX, 366 S. 8. Lw. DM 98,-. ISBN 3-925678-56-5.

Rezensent:

Andreas Arndt

"Entfremdung" gehörte einmal zu den prominentesten Schlagworten der Diskussionen im Anschluß an (vor allem den jungen) Marx. Es bildete zugleich eine Brücke zu anthropologischen, soziologischen, geschichtsphilosophischen, existentialistischen und nicht zuletzt religionsphilosophischen Theorien. Diese Prominenz sicherte dem Terminus auch die Aufmerksamkeit der historischen Forschung. Deren Ergebnisse referiert N. im 2. Kap. (13-63), wobei er ganz bewußt "die Begriffsgeschichte von ’Entfremdung’ in die Problemgeschichte der Theodizee" einspannt (Anm. 53, 22 f.) und dementsprechend besonderen Wert auch auf den Zusammenhang von "Gnosis und Entfremdung" (23 ff.) legt.

Überhaupt erscheint die Karriere von Entfremdungskonzeptionen im Zusammenhang geschichtsphilosophischen Denkens seit der Mitte des 18. Jh.s (namentlich behandelt werden Rousseau, Herder, Schiller und Kant) vor allem als Säkularisierung theologisch-eschatologischer Motive (ausdrücklich in bezug auf Hegel 279 f. und 283), wobei jedoch die historische Kritik der Säkularisierungsthese nicht diskutiert wird. Die spezifischen, modernen Erfahrungsgehalte, welche sich in der Rede von "Entfremdung" niederschlagen, kommen kaum zur Sprache, ist N. doch generell der Auffassung, die Geschichte von "Entfremdung" sei "primär nicht die Geschichte eines realen Phänomens, sondern die Geschichte der literarischen Rezeption des Entfremdungsbegriffs" (285).

Diese These bestimmt weitgehend (bis auf die Erwähnung des in der Tat unübersehbaren Einflusses der Französischen Revolution) auch die Interpretation Hegels, der als der eigentliche Urheber einer philosophischen Entfremdungstheorie vorgestellt wird (3. Kap., 64-146). N. bezeichnet sie - ohne auf die deutsche Frühromantik und allgemein auf das Phänomen einer Romantik der Entfremdung einzugehen - als "romantische Theorie der Entzweiung". In ihr verbinde sich die Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling mit Positionen der (vom Herausgeber Hermann Nohl 1907 so genannten) "theologischen Jugendschriften", wobei vor allem das Motiv der Erfüllung (pleroma) als Überwindung der Entzweiung betont wird (60; 274 f.). Diese Synthese wird anhand der Schrift über die "Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie" (1801) dargestellt, in welcher Hegel die Philosophie mit dem Zeitbedürfnis nach Aufhebung der Entzweiung zusammenbringt. Der politisch-gesellschaftliche Zeitbezug Hegels, der auch die Frühschriften durchzieht und besonders in den Fragmenten zur Verfassungsschrift (1800-1802) hervortritt, entzieht sich aber weitgehend dem auf die Säkularisierungsthese fixierten ideengeschichtlichen Blick des Verf. Hätte N. die Entwicklungsgeschichte Hegels besser ausgeleuchtet und besonders die Verfassungsschrift, aber auch den Naturrechtsaufsatz sowie die Jenaer Vorlesungsmanuskripte und Systementwürfe herangezogen, die - einschließlich des für die Thematik zentralen "Systems der Sittlichkeit" - z. T. nicht einmal erwähnt werden, so hätte er auch das fundamentum in re der Hegelschen Rede von "Entzweiung", "Entfremdung" und "Entäußerung" nicht so leicht marginalisieren können.

Diese Versäumnisse beschädigen auch das zentrale 4. Kap., das der "Phänomenologie des Geistes" als dem eigentlichen Ort der Hegelschen Entfremdungstheorie gewidmet ist (147-246), interpretiert N. sie doch vorwiegend subjektivistisch als "Bildungsroman" des Hegelschen Geistes selbst (149), als "Erfahrung des Weges und der Weise, wie der Geist Hegels zum Wissen von sich selbst gelangte" (249). Zwar verkennt N. nicht, daß der Gang der "Phänomenologie" über das endliche Selbstbewußtsein hinaustreiben soll, und er weiß auch um die systematischen Ansprüche Hegels, ist jedoch eher geneigt, den Text als Montage (vgl. 208, Anm. 964,) und die Gestalten des Bewußtseins als Fund- und Sammlungsstücke des Hegelschen Geistes zu betrachten: "Der Geist der Phänomenologie ist ... zunächst der eines Naturkundlers und Sammlers ... Das Bild des Aufsammelns von Fundstücken aller Art entspricht auch am ehesten dem zentralen Hegelschen Begriff der ,Aufhebung’" (151). Demgegenüber erscheint N. dann die von Hegel behauptete immanente begriffliche Notwendigkeit des Fortgangs eher als das "knöcherne Geklapper hegelscher Dialektik" (161), eines "kruden Mechanismus des sich selbst setzenden und negierenden Verstandes[!]" (163, Anm. 676). Die - im einzelnen durchaus erhellende - Musterung der Gestalten des Bewußtseins in der "Phänomenologie" gerät durch diese Prämisse zum Florilegium, wobei dann gerade die in der Tat fragwürdigen systematischen Übergänge - wie z. B. der zum Religionskapitel, das in seiner systematischen Berechtigung umstritten ist - überhaupt nicht mehr in den Blick kommen.

Das 5. Kap. (247-329) behandelt die "Entfremdung nach der Phänomenologie", d.h. in den spätere Schriften Hegels sowie in den nachhegelschen Diskurse, wobei vor allem Marx und Heidegger vorgeführt werden; beide stehen - gemessen an Hegel - für einseitige Entfremdungstheorien: die geschichtliche Aufhebung der Entfremdung einerseits, ihre Verklärung zum Existential andererseits. Demgegenüber falle Hegels Theorie der Entfremdung mit ihrer Praxis im werdenden absoluten Wissen zusammen (254). Ihre "positive Seite" bestehe in der Einsicht, daß erst die Entfremdung von Unmittelbarkeiten Wissenschaft ermögliche (322). Von hier aus setzt N. dann unvermittelt zu einer Zeitdiagnose an, welche die Entfremdung im Widerspruch zu zahlreichen vorherigen Äußerungen als reales Phänomen ansieht und aktuell "im Rücken und im Schutze der entzweiten und entäußerten Wissenschaft" ausmacht (329).

Der Umgang des Vf.s mit den Quellen ist noch besonders zu erwähnen. Die "Differenzschrift" wird nicht nach der seit 1968 vorliegenden Kritischen Ausgabe, sondern nach einem Reclam-Heft zitiert, wie überhaupt die neueren Editionen und Forschungen zum Jenaer Hegel nicht zur Kenntnis genommen werden: Der einzige Hinweis auf die Jenaer Systementwürfe referiert auf die in jeder Hinsicht überholte Ausgabe von Hoffmeister, andere Texte werden nicht einmal erwähnt.