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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1042–1044

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ganser-Kerperin, Heiner

Titel/Untertitel:

Das Zeugnis des Tempels. Studien zur Bedeutung des Tempelmotivs im lukanischen Doppelwerk.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2000. X, 410 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen, N.F. 36. Kart. DM 102,-. ISBN 3-402-04784-5.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die zentrale Bedeutung des Jerusalemer Tempels ist schon seit langem als ein besonderes Charakteristikum in der erzählerischen Anlage des lukanischen Doppelwerkes erkannt worden. Die Besonderheit der Dissertation von H. Ganser-Kerperin (1999 bei Karl Löning in Münster) besteht darin, konsequent nach der Funktion des Tempels auf der Ebene der lukanischen Erzählung zu fragen und diese Fragestellung in monographischer Breite aufzuarbeiten.

In einem einleitenden Forschungsüberblick ( 1) bringt der Autor dabei zunächst die verschiedenen Interpretationen zur Darstellung, die zu einer Verhältnisbestimmung der lk Theologie gegenüber dem Stellenwert des Jerusalemer Tempels bislang vorgelegt worden sind. Methodisch schließt sich die Arbeit dem Ansatz von Karl Löning an. Das lk Doppelwerk, verstanden als eine große zusammengehörige Erzählung in zwei Handlungszügen, wird auf der synchronen Ebene interpretiert. Alles Interesse richtet sich dabei auf die narrative Gestalt des Textes, auf Handlungsstrukturen, Textsequenzen, erzählerische Inszenierungen - kurz, darauf, "unter pragmatischem Aspekt den Text als Bestandteil eines kommunikativen Prozesses zwischen dem Autor und seinen Lesern verstehen und beschreiben zu können" (30). Zeitgeschichtliche oder archäologische Einsichten müssen dabei in den Hintergrund treten zu Gunsten der Frage, welche Rolle der Tempel in der lk Erzählfolge spielt, inwiefern er als Ort der Handlung in Erscheinung tritt oder auf welche Weise er durch die redenden Figuren selbst zum Thema gemacht wird.

Als eine Art Grundlegung behandelt 2 zunächst "Die Darstellung des Tempels als Institution der Identität Israels". Die Aussagen, die hier zur Terminologie, zu topographischen Detailinformationen, zu Personengruppen im Umfeld des Tempels sowie zu kultischen Handlungen im Tempel zusammengetragen werden, verbleiben vorwiegend im Rahmen der lk Aussagen. Bezugnahmen auf baugeschichtlich-topographische Erkenntnisse erfolgen hier am Rande. Ein so grundlegendes Werk etwa wie die zweibändige Arbeit von Th. A. Busink (Der Tempel von Jerusalem von Salomo bis Herodes, Leiden 1970/1980) taucht selbst im Literaturverzeichnis nicht auf. Auch die Diskussion um die Tempelschranken im Blick auf ihre Beschreibung bei Josephus bzw. die Auswertung ihrer archäologischen Relikte findet keine Erwähnung, obgleich sie für das Verständnis von Act 21,27-36 doch erhebliche Relevanz besitzt. Vor allem geht es um die Perspektive des Lk auf den Tempel und das dortige Geschehen. Den kritischen Vergleich mit anderen Quellen spart der Autor weitgehend aus. Im Zentrum der Arbeit stehen vier Paragraphen, in denen das Tempelmotiv jeweils am Anfang und am Ende des Lukasevangeliums sowie der Apostelgeschichte untersucht wird. Die Bezüge in Act 15 gliedern sich einer Zuordnung unter den "Anfang" zwar nur mühsam ein - wenn man davon ausgeht, dass der Apostelkonvent formal und sachlich in der Mitte der Apostelgeschichte steht. Ansonsten aber vermag diese Anlage die "conclusio", die durch die Platzierung des Tempelmotives in beiden Teilen des Doppelwerkes entsteht, überzeugend sichtbar zu machen. Schon Lk 1-2 wird von dem Tempelmotiv umschlossen: Das Geschehen im Tempel ist der "starting point" der Erzählung. Der Tempel selbst wird so zum "Kontinuitätssymbol", durch das die Erzählung in der Hoffnungsgeschichte Israels verankert wird. Am Tempel kommen die Heilshoffnungen Israels zur Sprache, hier ereignen sich Offenbarung, Versagen, prophetische Identifikation und erstes Auftreten Jesu unter den Lehrern Israels. Diesem idealen Ausgangspunkt des eschatologischen Heilshandelns Gottes an Israel korrespondiert in Lk 19-21 dann der Tempel als Ort der eschatologischen Heimsuchung Israels. Jesus, der nach dem Einzug seinen Platz gezielt im Tempel einnimmt und dort das Volk unterweist, verbindet in den zunehmenden Konflikten auch sein persönliches Geschick mit dem Geschick des Tempels. Die Hinaufnahme und Inthronisation Jesu sowie die Rückkehr der Jünger zum Gotteslob im Tempel eröffnen neue Verweiszusammenhänge. Als Ort der Sammlungsbewegung eines erneuerten Israel und als Ort der Aggression und Trennung tritt der Tempel am Beginn und am Schluss der Apostelgeschichte in den Blick. Hier stellt der Autor vor allem das Motiv der Tempel-türen heraus, die dem geheilten Lahmen einen neuen Zugang eröffnen, nach der Verhaftung des Paulus dann aber in symbolträchtiger Weise geschlossen werden. Durchgängig findet in diesen Untersuchungen auch die Einspielung alttestamentlicher Texte und Assoziationen Beachtung, unter denen besonders Jes 6 als ein wichtiger Bezugstext erscheint. Die gesamte Darstellung sieht der Autor von zwei erzählerischen Linien geprägt: Am Tempel tritt die heilsgeschichtliche Initiative Gottes offen zu Tage - zugleich aber zeigt sich gerade hier menschliches Versagen gegenüber der Heilsbotschaft in pointierter Weise.

Im Anschluss an die Einzeluntersuchung der Texte stellt 7 mit der Frage nach dem Tempel in der topographischen Konzeption und einer Systematisierung verschiedener Akzente der Tempeldarstellung noch einmal einige übergreifende Zusammenhänge heraus. Ein letzter Paragraph rückt die Ergebnisse schließlich in eine traditionsgeschichtliche und eine pragmatische Perspektive. Dabei wird der Tempel in der Darstellung des Lk vor dem Hintergrund apokalyptisch-weisheitlicher Tempelkonzepte interpretiert. Gegenüber der eingangs skizzierten Forschungslage vermag die Untersuchung einen wichtigen Akzent zu setzen: Für Lk steht christliche Identität nicht im Gegensatz zu der Bedeutung, die der Tempel für die Identität Israels besitzt. Durchgängig wird die Symbolik des Tempels in positiver Weise aufgegriffen. Auf dem Hintergrund zionstheologischer Vorstellungen von Deutero- und Tritojesaja kommt die Sendung Jesu zu Israel und den Völkern in den wohlüberlegten Bezügen der Erzählung auf den Tempel eindrucksvoll zur Gestaltung. Eine Substitution des Tempels durch die christliche Gemeinde lässt sich bei Lk jedenfalls nicht erkennen.

Durch die Beschränkung der Untersuchung auf die synchrone Textebene bleiben Verkürzungen nicht aus. So findet z. B. die Frage, warum Lk das gewichtige Tempelwort Jesu (Mk 14,57-59/Mt 26,60-61; 27,39-40) auslässt, keine weitere Erörterung. Ähnlich steht es mit den Aussagen zum Schwur beim Tempel (Mt 23,16-22). Warum erfährt die Rolle des Tempels in der Beispielgeschichte Lk 18,9-14 keine eigenständige Behandlung? Zugleich kommt es bei der Konzentration auf narrative Strukturen zu zahlreichen Wiederholungen. Für die Frage nach dem Hintergrund frühjüdischer "Tempelkonzepte" lässt sich das Spektrum sicher noch differenzierter als in 8 beschreiben, vgl. etwa die Diskussion bei G. Faßbeck (geb. Hagenow), Der Tempel der Christen, Tübingen 2000, Diss. Heidelberg 1996. Die Fehler bei den griechischen Zitaten übersteigen ein verzeihliches Maß deutlich. So wird z. B. der für die Untersuchung zentrale Begriff ieron samt der dazugehörigen Wortgruppe von Anfang bis Ende konsequent mit dem falschen Spiritus geschrieben.

Die Untersuchung hat mit der Aufarbeitung des Tempelmotivs in seinen Verflechtungen, Bezügen und Sinnlinien einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des lk Doppelwerkes geliefert, der in der weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema seinen festen Platz einnehmen wird.