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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1040–1042

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Faßbeck, Gabriele

Titel/Untertitel:

Der Tempel der Christen. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelkonzepts im frühen Christentum.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2000. XI, 317 S. 8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 33. ISBN 3-7720-2825-X.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die Rezeption von Vorstellungen und Überlieferungen über den Jerusalemer Tempel und den Tempelkult im frühen Christentum ist in den letzten Jahren in einer bemerkenswerten Anzahl von Monographien, meist akademischen Qualifikationsschriften,1 erforscht worden. Nach entsprechenden Untersuchungen zur urchristlichen Bekenntnistradition,2 zur paulinischen Ekklesiologie,3 zum lukanischen Doppelwerk4 zur johanneischen Christologie5 und zur Jesusüberlieferung6 legt die Vfn. nun ihre Heidelberger Dissertation (1996 bei K. Berger unter dem Namen G. Hagenow) in überarbeiteter Fassung vor, die sich vorwiegend mit solchen Textkomplexen befasst, die in den erwähnten Arbeiten, von denen sie nur noch Kraus und Strack benutzen konnte, nur wenig oder gar nicht berücksichtigt worden sind (Hebr 8-10; Apg 7; Eph 2; Barnabasbrief; 2. Clemensbrief; Ignatiusbriefe). Auch in ihrer Zielstellung hebt sich die Untersuchung bewusst ab von einem "rein additive[n] Verfahren" der Zusammenstellung möglichst aller einschlägigen Belege zum Tempel im frühjüdischen und frühchristlichen Traditionsbereich und sichtet stattdessen das Material "unter dem primären Aspekt der Funktionalität des Tempelkonzepts im frühchristlichen Rahmen" (32).

Auf die Einleitung (1-35), die präzise und problembewusst die Forschungsgeschichte skizziert, folgen drei Hauptteile. Der erste (36-110) will unter religionsgeschichtlicher Fragestellung den "Nachweis der engen Verflochtenheit frühjüdischer und früher christlicher Stellungnahmen zum Tempel, bzw. Anwendungen seines theologischen Programms hier und dort" erbringen (33). Die Darstellung ist deshalb thematisch gegliedert, so dass frühjüdische und neutestamentliche Texte nicht aufeinander folgen, sondern jeweils in den Argumentationsgängen miteinander verbunden werden.

Ein erster verfolgt die Traditionslinie, nach welcher der Tempel als irdisches Abbild eines himmlischen Urbildes theologisch legitimiert sei. Sie wurzelt in der biblischen Vorstellung vom göttlichen Bauplan für das Stiftszelt bzw. den salomonischen Tempel (Ex 25,9; 1Chr 28,11-19) und wird in der Exegese des antiken Judentums (Weish 9,1-17; Philo, All III 101 f. u. ö.; syrBar 4,1-6; 59,4-11; LibAnt 11,15) jeweils eigenständig rezipiert. Bei Aufnahme der platonischen Bewertung von Abbild und Urbild konnte diese Traditionslinie auch kritisch gegen den irdischen Tempel gewendet werden (Philon!). In diesen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang gehört die Kulttheologie des Hebr, die ausführlich analysiert und im Vergleich mit weiteren frühchristlichen Texten (Apg 7; Apk 21 f.) interpretiert wird. Dabei zeigt sich, dass "hier Christologie nicht als Konkurrenzmodell zum kulttheologischen Denkansatz entworfen (wird), sondern als dessen Modifikation" (67), die dem soteriologischen Aussageziel des Autors dient.

Die zweite aufgewiesene Traditionslinie, der Tempel als von Gott selbst errichtetes Heiligtum, stellt den Tempel in einen schöpfungstheologischen Zusammenhang (Ex 15,17 f.; Ps 78, 69; 102,17). In frühjüdischer Zeit wird diese Linie eschatologisch weitergeführt (4Q Flor [MidrEschat] III 1-13; 11QT XXIX 7-10; äthHen 85-90). Auch darin ist die Möglichkeit zu einer kritischen Wendung der Tradition gegen den gegenwärtig-irdischen Tempel gegeben, insbesondere unter hellenistischem Einfluss. Dies zeigt sich in der Tempelkritik der Stephanusrede (Apg 7,2-53), aber ähnlich auch in der jüdischen Sibylle (Sib IV 6-17) und auf etwas andere Weise bei Josephus (Bell V 375-419.458 f.).

Im zweiten und dritten Hauptteil sollen "christliche Neuprägungen des Tempelkonzepts" (111) analysiert werden. Zunächst werden unter dem Begriff "initiative Funktion" solche Texte besprochen, die mit dem Stichwort metanoia im Zusammenhang stehen (Barn 16 und 6; 2Clem 8 f.14; Herm vis III; sim IX). Sodann geht es unter dem Begriff "integrative Funktion" um Texte, die der Beschreibung christlicher Existenz dienen (Eph 2,11-22 [hier findet sich auch ein kurzer Blick auf die ekklesiologische Verwendung des Tempelkonzepts bei Paulus]; Joh 17 [mit relativ ausführlichen religionsgeschichtlichen Exkursen zum Hohenpriester und zum Einheitsideal bei Philon und in weiteren frühjüdischen Schriften]; IgnEph 9,1; 15,3; IgnMagn 7,2; IgnPhld 7,2).

In diesem letzten Teil der Textanalysen gerät die Vfn. bei all ihren traditionsgeschichtlichen Vor-, Rück- und Querverweisen ein wenig in die Gefahr, den Faden ihrer Untersuchung zu verlieren. Immerhin greift sie ihn in der knappen "Schlußbetrachtung" (299-302) noch einmal auf und nennt drei Gesichtspunkte zur theologischen Leistungsfähigkeit des Tempelkonzepts im frühen Christentum: "1 Das Tempelkonzept wird eingesetzt, um den postkonversionalen Status der Gläubigen vor Gott zu beschreiben." "2 Das Tempelkonzept erfüllt die Funktion, die Heilsbedeutung des Christus zu erklären." "3 Mit Hilfe des Tempelkonzepts wird eine theologische Verhältnisbestimmung zwischen Christus und den Gläubigen vorgenommen."

Insgesamt ist der Vfn. der Nachweis gelungen, dass die Eigenart der frühchristlichen Rezeption der Tempeltraditionen (und der Kultrealität!) des Frühjudentums verfehlt wird, wenn sie auf Begriffe wie "Tempelkritik" oder auch "Spiritualisierung des Kults" reduziert wird. Vielmehr lassen sich vielfältige Formen produktiver und konstruktiver Rede vom Tempel mit verschiedenen Funktionen in christlich-theologischen Zusammenhängen aufweisen, die zusammengenommen als eigenständige Weiterentwicklung des Tempelkonzepts gewertet werden müssen. Besondere Stärken der Arbeit liegen bei den gründlichen Textanalysen von z. T. in der Forschung eher vernachlässigten Belegen. Die Vfn. legt hier umfassende Vertrautheit mit den Quellen an den Tag und zeigt sich auf der Höhe der aktuellen Forschungsdiskussion, und dies in einem insgesamt sehr weiten Feld.

Ungern und nur mit erheblichen methodischen Bedenken folgen würde ihr der Rez. allerdings auf den bisweilen verschlungenen, oft große Sprünge erfordernden und gelegentlich frei über geschichtlichen Abgründen schwebenden Wegen ihrer traditionsgeschichtlichen Analysen und Exkurse. Wenn - um nur ein Beispiel zu nennen - unter dem Begriff "kultisch-apokalyptisches Weltverständnis" ein "Traditionsmilieu" zusammengefasst werden soll, "in dem Schriften wie Jub, Test XII, äthHen, slavHen, z. T. auch das Qumran-Schrifttum entworfen wurden", und wenn dabei das "gemeinsame Interesse an kultischen Vorgängen im Horizont endzeitlicher Heilserwartung ... als hinreichendes Kriterium zur Zusammenfassung dieser Schriften" bezeichnet wird (184 mit Anm. 207), dann würde er jedenfalls auf eine solche traditionsgeschichtliche Brücke seinen Fuß nicht setzen wollen.

Fussnoten:

1) S. aber auch die einschlägigen Sammelbände: Templum Amicitiae. Essays on the Second Temple (FS E. Bammel), hrsg. von W. Horbury (JSNT.S 48), Sheffield 1991; Gemeinde ohne Tempel/Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, hrsg. von B. Ego, A. Lange, P. Pilhofer (WUNT 118), Tübingen 1999.

2) W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991.

3) W. Strack, Kultische Terminologie in ekklesiologischen Kontexten in den Briefen des Paulus (BBB 92), Weinheim 1994.

4) H. Ganser-Kerperin (s. die folgende Rezension von Ch. Böttrich).

5) J. Frühwald-König, Tempel und Kult. Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums (BU 27), Regensburg 1998 (ThLZ 125, 2000, 163 f. [K. Haldimann]).

6) J. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion Jesu und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung (WUNT II/119), Tübingen 1999 (ThLZ 126, 2001, 1035 ff [Th. K. Heckel]); K. Paesler, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament (FRLANT 184), Göttingen 1999 (ThLZ 126, 2001, 286-288 [O. Böcher]).