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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1026 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lapsley, Jacqueline E.

Titel/Untertitel:

Can These Bones Live? The Problem of the Moral Self in the Book of Ezekiel.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XI, 208 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 301. Lw. DM 158,-. ISBN 3-11-016997-5.

Rezensent:

Thomas Krüger

Das Buch des Propheten Ezechiel galt lange als ein Markstein der atl. Ethik: Mit seinem ,Individualismus' und seiner ,Gesetzlichkeit' habe es den ,Abstieg' vom Ethos des alten Israel zur ,jüdischen' Moral eingeleitet. Mit Recht ist diese Beurteilung des Ezechielbuchs in der neueren Forschung kritisiert und revidiert worden. Gleichwohl bleibt diese im Rahmen des AT in mancherlei Hinsicht höchst eigenständige Schrift für Theologie, Anthropologie und Ethik von großem Interesse. Darauf macht Jacqueline E. Lapsley in ihrer hier anzuzeigenden Dissertation (PhD Emory University) eindrücklich aufmerksam.

Dabei konzentriert sie sich auf die unterschiedlichen Konzeptionen des Menschen als ethischer Instanz ("moral self"), die in verschiedenen Texten des Ezechielbuchs erkennbar werden. Hier fällt vor allem ins Auge, dass eine Reihe von Texten (insbesondere die ,Umkehr'-Texte Ez 3,16 ff.; 18 und 33,1 ff., aber z. B. auch Ez 14,12 ff.) dem Menschen die Fähigkeit unterstellen, moralisch zu urteilen und zu handeln, während eine Reihe von anderen Texten davon auszugehen scheinen, dass er dazu nicht in der Lage ist (z. B. Ez 16; 23 und 24; L. rechnet dazu auch Kap. 20, das aber m. E. ein anderes Konzept entwickelt). L. charakterisiert diese beiden Konzeptionen (vielleicht nicht ganz glücklich) als "virtuous moral self" ("language of repentance") und "neutral moral self" ("language of determinism"). Während die Annahme einer Urteils- und Handlungsfreiheit des Menschen dem 'mainstream' der Anthropologie und Ethik im AT entspricht, wird die ,deterministische' Gegenposition weitaus seltener vertreten; L. verweist auf "some narrative texts, very small portions of Deuteronomy (e. g., 30:6), a few psalms (e. g., 51, 106), some Proverbs, and small segments of the prophetic traditions, including Isaiah and Second Isaiah" (53). Dem Befund bei Ezechiel vergleichbar finden sich beide Konzepte nebeneinander in der Urgeschichte und bei Jeremia.

Verglichen mit diesen Textbereichen zeigt das Ezechielbuch nicht nur eine Zuspitzung des Konflikts zwischen beiden Menschenbildern, die L. auf die Erfahrung des Exils zurückführt. Es entwickelt auch Ansätze zu einer Überwindung dieses Konflikts und entwirft (bes. in Ez 11 und 36-48) wenigstens in Umrissen das Bild eines ,neuen Menschen' ("new moral self"), der - jenseits von ,Freiheit' und ,Determination' - von Gott zu moralischem Urteilen und Handeln in Stand gesetzt wird. Neben dieser Verschiebung des "Ursprungs" ("origin") ethischer Kompetenz vom Menschen hin zu Gott zeichnet den ,neuen Menschen' eine Verschiebung der "Form" ethischer Kompetenz vom Handeln zur Erkenntnis aus, näherhin zur Gottes- und Selbsterkenntnis, aus der sich das rechte Handeln dann gleichsam von selbst ergibt. Dabei sind "Ursprung" und "Form" des "new moral self" in dem Sinne miteinander verbunden, dass Gottes ungeschuldetes (!) kreatives Handeln, wie es etwa in Ez 36f. vielfältig und differenziert beschrieben wird (Ersetzung des menschlichen "Herzens" und "Geistes"; Auferweckung; äußere Wiederherstellung Israels u. a.), den Menschen zur Einsicht in und Scham über sein bisheriges Verhalten führt und ihn damit zu rechtem (thoragemäßem) Handeln befreit und herausfordert. Abgesehen von diesen Grundlinien bleibt das "new moral self" bei Ezechiel allerdings ein etwas blasses und abstraktes Idealbild, dessen Realisierung in der Zukunft von Gott erwartet (freilich in gewisser Weise schon in der Person Ezechiels vorweggenommen) wird. Unklar bleibt auch, ob und wie der Mensch allenfalls an seiner Transformation zu einem "new moral self" durch Gott beteiligt ist: "Ezekiel ... does not present human beings as receptive or unreceptive to divine action - it simply happens to them" (188, Fn. 3).

Der hier in seinen Grundlinien zusammenfassend skizzierte Gedankengang wird von L. in klarer und konziser Argumentation mit Blick auf die atl. Texte entwickelt und abschließend kurz zu heutigen ethischen Problemstellungen in Beziehung gesetzt. Dabei wird eine Auswahl der einschlägigen (v. a. englischsprachigen) Sekundärliteratur rezipiert und diskutiert. Die Frage der Entstehungsgeschichte des Ezechielbuchs bleibt ausgeklammert. (L. deutet aber an, dass sie davon ausgeht, das Buch habe vor 520 v. Chr. etwa in seiner heutigen Gestalt vorgelegen.) Aus der Sicht einer redaktionsgeschichtlichen Forschung, wie sie im deutschsprachigen Raum heute verbreitet ist, wäre zu diskutieren, ob die verschiedenen anthropologisch-ethischen Konzepte im Ezechielbuch möglicherweise eine längere geschichtliche Entwicklung reflektieren. Diese historischen Probleme (und einige exegetische Detailfragen) treten aber in den Hintergrund gegenüber der sorgfältigen, klaren und zu weiteren Überlegungen anregenden konzeptionellen Rekonstruktion, die L. mit diesem Band vorgelegt hat. Es wäre zu wünschen, dass er dazu beiträgt, dem Ezechielbuch in der (nicht nur biblisch-)theologischen Ethik und Anthropologie die ihm gebührende Beachtung zu sichern.