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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1021 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Davies, Andrew

Titel/Untertitel:

Double Standards in Isaiah.Re-evaluating Prophetic Ethics and Divine Justice.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. XII, 226 S. gr.8= Biblical Interpretation Series, 46. Lw. Nlg. 141.04. ISBN 90-04-11581-1.

Rezensent:

Peter Höffken

Das Buch von Davies ist die Frucht einer postmodernen Lesepraxis, die im Kern die These vertritt: Das Buch Jesaja arbeite mit inkommensurablen Moralvorstellungen, die es selber entwerten und unglaubwürdig machen. Denn einerseits lege es im Namen Gottes hohe ethische Maßstäbe an die israelitisch-judäische(n) Gesellschaft(en) an, an die andererseits sich der göttliche Autor oder "character" selber nicht halte. Mit 'character' ist die literarische Gestaltung der Gottesrolle in den Jes-Texten gemeint.

Die an Israel und Juda angelegten Maßstäbe werden in den ersten Kapiteln entfaltet. Dies geschieht - nach der theoretischen Grundlegung einer postmodernen Lesepraxis "gegen den Strich" in Kap. 1,1-33 - in den üblichen Bahnen einer Distinktion von sozialer Ethik (Kap. 2, 34 ff.), politischer Ethik (Kap. 3, 59 ff.) und religiöser Ethik (Kap. 4, 85 ff.). Dabei legt der Vf. entschieden Wert darauf, dass die allermeisten Vorwürfe bzw. ethisch relevanten Gesichtspunkte, die das Buch vorträgt oder zu erkennen gibt, sich an Verhaltensweisen der Oberschicht orientieren - und dann gleichwohl durch das göttliche Initiativwerden die gesamte Bevölkerung dem Unheil oder Gericht ausgesetzt sehen. Das ist unmoralisch. Entsprechendes gilt aber auch für Ideen der Heilsbotschaft, wenn diese auf der Basis einer "Rest"-Größe von einer kommenden Rettung oder Restitution Israels am Zion spricht. Im Weiteren werden diese Momente der Gesellschaftskritik auf die zu Grunde liegenden Motivationen oder Haltungen (wie "Stolz" u.ä.) befragt (Kap. 5, 106 ff.) und dann die Verhaltensweisen der Gottheit beschrieben, die auf die inkriminierten Fehlverhaltensweisen mehr oder weniger exzessiv reagieren (Kap. 6, 129 ff.). Interessant sind in dieser Hinsicht auch die Bemerkungen zur Völkerverkündigung des Buches. Einerseits muss D. klare Kategorien vermissen, auf Grund derer der Gott des Jesaja die Völker in Verantwortung nimmt, zum anderen entdeckt er den Widerspruch in einer positiven Optik gegenüber einer sich zu Jahwe-auf-Zion bekehrenden Völkerwelt: Dieser Widerspruch besteht darin, dass die Sonderbeziehung Jahwe-Israel durch diese umkehrende Völkerwelt unterminiert werde (Kap. 66 könnte dem freilich widersprechen).

Die weiteren Abschnitte des Buches (Kap. 7, 156 ff.) diskutieren Probleme im Jesajabuch, die auf die anvisierte Doppelmoral des Buches so oder so reagieren (also z. B. die Rede vom "verborgenen Gott"; die vom "fremden Werk" Gottes u. a. m.). Das vorletzte Kapitel (8, 173 ff.) versucht sich an einer Kritik der Auffassungen zur Verstockungsbotschaft in Kap. 6 in verschiedenen Kommentaren verschiedenster Statur und Ausrichtung.

Die Kritik an diesen Kommentaren leidet an einem grundsätzlichen Problem. Der Vf. sieht gar nicht, dass er Kap. 6 auf Grund seiner eigenen Prämissen überhaupt nicht als aktuellen Text interpretieren darf, denn er ist ja für einen 435 v. Chr. schreibenden "Jesaja" (vgl. dazu die sehr knappen Bemerkungen, 8) schon deswegen überholt, weil die Verstockungsbotschaft auf die Zeit bis zum "Gericht" (nach Maßgabe der Verse 11-13) begrenzt ist und man zweifelsohne bestimmte Texte in Dtrjes als Aufhebung der Verstockung interpretieren kann, wenn nicht gar muss. Das macht aus dem unethischen Verhalten des verstockenden Gottes grundsätzlich eine jenseits des Gerichts überholte Möglichkeit - worüber man dann auch nachzudenken hätte. Hier rächt sich, dass der Vf. die (durchaus lohnende!) Lektüre des Jes-Buches auf seiner Endstufe (für D. die eigentliche Autorenstufe) viel zu flächig betreibt. Auch müsste das Gespräch zwischen modernen und antik-israelitischen Konzeptionen von "Gerechtigkeit" bewusster thematisiert werden.

Im letzten, abschließenden Teil (Kap. 9, 187 ff.) kommt es dann zu einer mich doch etwas überraschenden Kehre. Nach Bemerkungen zuvor würde man erwarten, dass D. die Rede vom unmoralischen Gott des Jes am ,Evangelikalen Glauben' an einen vollkommen ethischen, gerechten Gott misst (so 156). Aber überraschenderweise lässt er dies dann bleiben (Gründe dafür kann ich nicht erkennen) und kehrt die Position um, indem er diesen Glauben fahren lässt zu Gunsten der Unbegreiflichkeit Gottes, die der kanonische Autor zum Ausdruck bringe (197 f.).

Als Denkanstoß sei noch gefragt, ob wir nicht alle dazu neigen, ethische Kategorien zu überschätzen. "Gerechtigkeit" ist eine wichtige Frage, aber der Maßstab der "Fürsorge" (care) auch, wie man bei C. Gilligan in Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitskonzepten (L. Kohlberg) lernen kann (vgl. G. Büttner, V.-J. Dieterich [Hrsg.], Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs. Stuttgart 2000, 79 ff.). D. streift die Kategorie einmal (192). Vielleicht ließe sich vieles (keineswegs alles!) in Jesaja auch unter diesem Aspekt der care (besser) verstehen, die der Gott des Jesaja(buches) seinem Volke im Guten wie im Bösen widmet? Vielleicht aber wäre es auch lohnend, auf dem Hintergrund des Entwicklungskonzepts Kohlbergs in Hinsicht auf die moralischen Entwicklung nach Zuordnungsmöglichkeiten zu suchen.