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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1019–1021

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Waubke, Hans-Günther

Titel/Untertitel:

Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. XIV, 379 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie 107. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-146971-2.

Rezensent:

Otto Merk

Der Vf. hat sich zum Ziel gesetzt, anhand des Pharisäerbildes im 19. Jh. in der deutschsprachigen Forschung aufzudecken, dass "die Einzeichnung zeitgenössischer antisemitischer Stereotype in das Bild des antiken Judentums" "das krasseste Beispiel dafür" ist, "wie weit ein der methodischen Kontrolle entzogenes werthaftes Verurteilen über historische Erscheinungen die Grenze zum Ressentiment und Vorurteil überschreiten kann" (342). An diesem Maßstab, der "Werturteil" und "Werthaftigkeit" zur inneren Leitlinie hat (vgl. z.B. 1 ff.53.70.88.92 f. 142. 176.182.186.191.194.204.208 f.215-219.222.226.256.269. 271-273.288.291 f.298 f. u. ö.), bietet der Vf. eine breite, durch seine Zielsetzung eklektische (11), aber doch repräsentative wissenschaftliche Behandlung des Pharisäerbildes im 19. Jh.

In Kap. I "Die Pharisäer - Problemfall historischer Kritik" begründet der Vf. sein Anliegen, dem "Bild der Pharisäer und seine[n] werthaften Implikationen" nachzugehen (1-14; Zitat 11), das er später im Nachweis der "Umsetzung von theologischer Rede in historische Erkenntnis" (213) bei verschiedenen Forschern konkretisiert.

In Kap. II "Die Vorgeschichte: Das Erbe der älteren Forschung" (15-43) wird Andreas Georg Wähner (1693-1762) als Begründer der These, die Pharisäer seien eine "superstitiöse Sekte" (wobei diese Bezeichnung stärker auf den Verfasser als auf W. zurückgeht) vorgestellt, dann J. S. Semlers Verständnis des Pharisäismus und schließlich Semlers wie Schleiermachers grundlegende (negative) Beeinflussung der Beurteilung der Pharisäer für das 19. Jh. (Allerdings ist Semlers diesbezüglicher Einfluss auf die Neologie zu pauschal gefasst; vgl. z. B. die objektiv-freundliche Einschätzung der Pharisäer bei G. L. Bauer; auch ist der in J. H. Zedlers ,Grossem vollständigen Universal-Lexikon ...', Bd. 27, Leipzig-Halle 1741 s. v. angedeutete leichte Wandel zu einer positiveren Beurteilung der Pharisäer [Sp. 1759] insgesamt nicht ohne Wirkung in der 2. Hälfte des 18. Jh.s geblieben.)

Kap. III gilt den "Anfänge(n) historisch-kritischer Betrachtung" (44-58): August Friedrich Gfrörer; Matthias Schneckenburger; Hermann Adalbert Daniel, wobei Gfrörers hilfreich objektive Darstellung über Jahrzehnte (bis zu W. Bousset) fast unberücksichtigt blieb.

Das Kap. IV behandelt "Darstellungen im Rahmen der Geschichte Israels" (89-156): E. Reuß (Pharisäer als "Orthodoxe" und "Patrioten", 90 ff.) und Heinrich Ewald (Pharisäer als ,herrschsüchtig' und "Frömmler", 120 ff.) mit Exkursen über Isaak Marcus Jost und Ignaz von Döllinger.

Im Kap. V werden "liberal inspirierte Entwürfe" erörtert (157-195): Abraham Geiger (die Pharisäer als "bürgerliche Demokraten", 158 ff.) und Adolf Hausrath (die Pharisäer als "Demokraten und Reaktionäre", 170 ff., was den Vf. veranlasst, die Problematik politischer Leitbilder in wissenschaftlich historischer und theologischer Diskussion zu beleuchten).

Im Kap. VI "Historismus und Religionsgeschichtliche Schule" (196-290) werden die einschlägigen Positionen von J. Wellhausen, Emil Schürer, Ferdinand Weber und Wilhelm Bousset vorgestellt. Zwei Exkurse über Moriz Friedländer und Max Weber schließen sich an.

Das Kap. VII zeigt (zu knapp) "Systematische Zuordnungen von Christentum und Judentum" bei Adolf v. Harnack und Ernst Troeltsch (291-300), u. a. mit dem wichtigen Nachweis, dass Harnacks Pharisäerbild wesentlich auf Wellhausens Ausführungen beruht.

Kap. VIII bietet "Auswertung und Ertrag" (301-342). Hier stellt der Vf. zunächst die verschiedenen Pharisäerbilder der zuvor behandelten Forscher zusammen. Von Gfrörer bis Bousset ist einerseits die Quellenfrage für die Beurteilung der Pharisäer strittig, andererseits der politisch-zeitgeschichtliche Hintergrund, der zur Beurteilung - nach dem Vf. - bei den einzelnen Forscherpersönlichkeiten in den Vordergrund rückt und theologische wie historische Entscheidungen präjudiziert (326 ff.). Der Vf. spürt den seiner Meinung nach leitenden Intentionen der von ihm herangezogenen Forscher zur Sachfrage nach und betont z. B. trotz seines kritischen Pharisäerbildes das persönlich integre Verhalten Wellhausens gegenüber dem Judentum seiner Zeit (225) und kommt bei W. Bousset zu ähnlichem Ergebnis (279 f.). Gleichwohl stehen für den Vf. "die Pharisäer im Brennpunkt der Werturteile", denn "als Grundproblem hinter allen protestantischen Pharisäerdarstellungen ist das letztlich ungeklärt gebliebene Spannungsverhältnis der bibelwissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu ihren theologischen Wurzeln sichtbar geworden: Der Anspruch historischer Objektivität kollidiert mit weiterhin in Geltung stehenden theologischen Wertsetzungen. In diesem Spannungsfeld entstehen geschichtstheologische Deutungsmodelle, in denen theologische Prämissen in historisierter, allgemein gültiger Form wirksam sind" (318). - Man wird dabei sehen müssen: Das Pharisäerbild hat sich in der neueren Forschung erheblich gewandelt (der Vf. weist mehrfach darauf hin, z. B. 4, Anm. 12), die gegenwärtige Interpretation der Quellen und eigene erfahrene Zeitgeschichte lassen innehalten im vorschnellen Werten. Der Vf. behandelt einen Zeitraum, dessen Denkungsart und Hintergrund heute besser eingeschätzt und aufgedeckt werden können, als es den dargestellten Autoren damals u. U. überhaupt bewusst sein konnte. Auch für das 19. Jh. gilt: Ein kritisches Pharisäerbild weist seinen Autor nicht selbstredend in die Gegnerschaft zum Judentum.

Fr. Niewöhner und andere haben gezeigt, wie selbst innerjüdische negative Einschätzung der Pharisäer, von Amsterdam im 17. Jh. ausgehend, sich noch im 19. Jh. erheblich in Deutschland ausgewirkt hat (vgl. z. B. die Beiträge Niewöhners [bei Vf. im Lit.Verz., S. 352]; auch N.s eigene Zusammenfassung in FAZ, 22. Juni 1998, S. 46 [= Nr. 141]). Bessere Einschätzung einer Epoche aus der Sicht der Nachgeborenen leitet an, forschungsgeschichtliche Arbeit in die geistige Bewältigung gegenwärtiger Aufgaben einzubringen und vorangegangener Forschung auch in den Grenzen ihr gewährter Möglichkeiten und Horizonte gerecht zu werden. Hier hätte der Vf. noch stärker differenzieren können, auch wenn es ihm sehr anzurechnen ist, dass er Grenzen eines Verurteilens sieht und sie zu respektieren sucht, dahin gebündelt: "Es bedarf der Integration der Relativität unserer Werturteile in die Theologie, ohne daß diese in Relativismus und Beliebigkeit versinkt ... Wirkliche Antworten auf diese Situation können nur aus der Mitte der Theologie kommen" (340), dabei wohl wissend: "Das Verhältnis des Christentums zum Judentum läßt sich systematisch-theologisch vom gesamtbiblischen Zeugnis her nur als ein Paradox aus Kontinuität und Bruch formulieren" (ebd.).

Des Vf.s sehr lehrreiche (gelegentlich etwas zu breite) Nachzeichnung der Forschung deckt eine Vielzahl anstehender Probleme zum Themenbereich auf. Es wird nicht - und abschließend ist dies doch mit einem gewissen Bedauern gerade um des Differenzierens willen festzuhalten - die ganze Breite der Nuancierungen geboten, zumal die gesamte exegesengeschichtliche Aufbereitung (etwa zu Mt 23 und zu den Pharisäerhinweisen im Corpus Paulinum) und die einschlägige europäische Forschung keine Berücksichtigung finden. Aber das Gebotene genügt, um sehr nachdenklich zu werden. Auch in diesem Sinne sind dem Vf. viele Leser seines wichtigen Buches zu wünschen.