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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1016–1019

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Christophersen, Alf

Titel/Untertitel:

Friedrich Lücke (1791-1855). 1: Neutestamentliche Hermeneutik und Exegese im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk; 2: Dokumente und Briefe.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XII, 470 S. u. X, 499 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 94, 1/2. Lw. DM 258,-. ISBN 3-11-016278-4.

Rezensent:

Otto Merk

Seit mehr als 100 Jahren (nach F. Sanders noch immer grundlegender Biographie aus dem Jahre 1891) bietet A. Christophersen wieder eine umfassende biographische, das Werk einschließende Untersuchung über F. Lücke. Sorgfältige Recherchen führen zu einer weithin abschließenden Bestandsaufnahme erreichbarer Materialien zu Leben und Werk des zu seiner Zeit sehr geachteten Gelehrten, der - auch für seine wissenschaftlichen Publikationen bedeutsam - einen Freundeskreis hatte, zu dem Schleiermacher, C. Lachmann, A. Neander, deWette, C. C. J. Bunsen, E. M. Arndt, die ,Göttinger Sieben' u. a. gehörten. - Der erste Teilband verbindet mit den biographischen Sachverhalten eine eingehende Darstellung des Werkes, das den jeweiligen Lebensabschnitten Göttingen (1812-1816), Berlin (1816-1818), Bonn (1818-1827) und wieder Göttingen (1827-1855) zugeordnet ist. Der zweite Teilband bringt, vorzüglich ediert, Dokumente und Briefe, die vielfach den ersten Band anschaulich machen und den Hintergrund beleuchten.

Teilband 1: War Lücke auch zu seiner Zeit Disziplinen übergreifend Theologieprofessor, so sah er sein Lehren und Forschen doch maßgebend auf neutestamentliche Hermeneutik und Exegese ausgerichtet. Der Vf. tat deshalb gut daran, gerade diesen Bereich der Publikationen zu würdigen. - Das Hauptwerk der frühen Göttinger und Berliner Jahre ist Lückes "Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik und ihrer Geschichte" (1817), mit eingehender Widmung an A. Neander und einer weit greifenden Einleitungsrede. Die zu ausführliche Nachzeichnung dieses Werkes ergibt, dass Lücke Hermeneutik als kirchliche Basis-Voraussetzung und -Wissenschaft fasst, dabei einer "Christlichen Philologie" das Wort redet und insgesamt das Aufkommen historisch-kritischer Forschung in seinem Kampf gegen den Rationalismus ausblendet, so wie er auch in seiner ebd. gebotenen Geschichte der Hermeneutik diesen Bereich nahezu vollständig übergeht. Es fehlen bei ihm letzthin die Einsichten in die kritische Schriftauslegung, die wir der ,Neologie' (J. Ph. Gabler; G. L. Bauer u. a.) verdanken (vgl. u. a. F. Lücke, ThStKr 3, 1830, 419-454, hier: 420 ff.), wenn auch am Rande vereinzelte Werke dieser Epoche eher unwillig genannt werden (vgl. z. B. Lücke, Hermeneutik, 74.126.217). Diese Nichtberücksichtigung aber führt - im Gesamtwerk Lückes sich spiegelnd - zu einer einseitigen Bezugnahme auf J. G. Herder, die zwar vom Vf. (102-111) überschätzt, aber immerhin für Lückes Werk nicht unrelevant ist (vgl. z. B. Lücke, Hermeneutik, 73). Inwieweit sich des Freundes deWette im Verlaufe seiner Forschungen verstärkt zurückhaltendere Einstellung gegenüber Herder auch auf Lücke ausgewirkt hat, wäre einer besonderen Untersuchung wert. Insgesamt größer ist "die Bedeutung Schleiermachers für Lückes Hermeneutik" (Vf., 111-120 u. ö.), dessen entsprechendes Werk er postum 1838 herausgab. (Vf. 117 ff.).

In Lückes Berliner Zeit ist persönlich die sich ergebende Freundschaft mit Schleiermacher und eines weitgespannten Freundeskreises von bleibendem Gewinn (Vf., 136 ff.), wissenschaftlich die Erlangung des Lic. theol. und der Habilitation (Habilitationsschrift: "Ueber den neutestamentlichen Kanon des Eusebius von Cäsarea ...") sowie die Berufung nach Bonn. Die von Schleiermacher, deWette und Lücke gemeinsam herausgegebene "Theologische Zeitschrift" (1819-1822) steht als Zeichen für die theologische Verbundenheit der Freunde (Vf., 138 ff.).

Die Bonner Zeit ist zunächst durch die nicht einfache Einrichtung der Ev.-Theol. Fakultät im Zusammenhang der dortigen Universitätsgründung geprägt (Vf., 159 ff.), gewinnt dann wissenschaftlich Gewicht durch das von Lücke betriebene Erscheinen der "Theologischen Studien und Kritiken" (von Jg. 1 [1828] bis 109 [1941/42] existierend), als nachmals führendes Organ der Vermittlungstheologie, wobei Lücke selbst den Begriff "Vermittelung" als Programm-Aussage einbrachte (Vf., 178 ff.188 ff.). Dass diese Zeitschrift in den ersten Jahrgängen durch Schleiermachers berühmte ,Sendschreiben an Dr. Lücke' bekannt wurde, erwähnt der Vf. zutreffend, aber zu kurz angesichts dessen Nachwirkens auf Lücke (Vf., 191).

In die Bonner Zeit fällt auch Lückes Johanneskommentar (Bd. 1, 1820; vgl. Vf., 196 ff.), den der Vf. im Lichte der vernichtenden Kritiken von H. E. G. Paulus u. a. und anhand der Reaktion des Autors vorstellt. Der Bd. 2 - die kritischen Beurteilungen des Bandes 1 sachgemäß aufgreifend- wird dann in den Rezensionen weitaus positiver eingeschätzt. Doch ein "Hauptvorwurf" bleibt: "daß er [sc. Lücke] ,noch immer der Dogmatik und kirchlichen Bibelansicht zuviel Einfluß' auf die exegetische Arbeit ,gestattet'. Lücke unterliegt einem ,dogmatischen Vorurtheil'" (Vf., 217). DeWette aber charakterisiert am 8. März 1825 brieflich: "Daß Du Dir bei Deinem frommen Glauben die Freiheit des Geistes bewahrt hast und diese Gerechtigkeit gegen rationalistische Ansichten, freut mich insbesondere" (F. Sander, Lücke, 165; Vf., 218). - Ist auch die 2. Auflage des Kommentars (1833/34) - in die Göttinger Zeit fallend - "in formaler Hinsicht eine völlige Umarbeitung" (vor allem ohne polemische Züge; vgl. Vf., 219ff.), so stellt erst die zweibändige 3. Auflage (1840/43) den exegetischen Höhepunkt in Lückes neutestamentlichem Werk dar. Die sehr genaue Wiedergabe wesentlicher Abschnitte ergibt auch wichtige Ansätze für Lückes Dogmatik und sein Verstehen von Ethik (z. B. Vf., 281, Anm. 317). Das gilt ebenso für die Bearbeitung der Johannes-Briefe (1825; 21836 [31856, hrsg. v. E. Bertheau]), wobei nach Lücke 1Joh für die "Zweckbeziehung der Exegese zur theologischen Lehrbegriffsbildung" (1Joh, 1825, 19) unerlässlich ist. Manche Einzelbeobachtung in Lückes Kommentaren zu den Johannes-Schriften ist als Beitrag zu einer theologischen Exegese zu würdigen, aber dies nötigt nicht zu einer so ausführlichen Nachzeichnung der anstehenden Untersuchungen durch den Vf., die problemgeschichtlich letztlich keine Wirkung gezeitigt haben (Vf., 224-299.301-329).

Die Göttinger Zeit ist einerseits der Höhepunkt seines Wirkens,1 andererseits aber durch die Unentschiedenheit belastet, die Lücke gegenüber der klaren Haltung der ,Göttinger Sieben' einnimmt. Die letzten Jahre sind ihm zudem durch familiäre Schicksalsschläge und Krankheiten überschattet. Das theologische Hauptwerk der Göttinger Jahre ist die "Vollständige Einleitung in die Offenbarung des Johannes" (1832; 21852), das Lücke als bahnbrechenden Erforscher der Apokalyptik und als maßgebenden Sammler des einschlägigen Materials ausweist, wenn auch in Aufnahme dieses Werkes erst A. Hilgenfeld in "Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwickelung ..." (1857) die problem- und wirkungsgeschichtlich belangvolle Untersuchung vorlegt (vgl. O. Merk, ThLZ 118, 1993, 517-520 f.; Vf., 454-456 passim). - Die vom Vf. auch für dieses Werk Lückes angenommene starke Berührung mit Herders Sicht ist deutlich einzuschränken, sie bleibt beim Autor zurückhaltend allgemein, auch wenn trotz nachgewiesenen Irrtümern Herders dessen "liebevolle Begeisterung" für die Offenbarung des Johannes nicht zu übersehen ist (Lücke, 21852, 1050 f., vgl. ebd. 11.448-450.664 [Anm. 2]. 498 [Anm. 1]. 949.409-418 fehlt ein naheliegender Bezug auf Herder). - Das Übergehen der ,Neologie' ist auch in diesem umfangreichen Werk auffallend, zumal G. L. Bauer in seiner ,Biblischen Theologie des Neuen Testaments' (Bd. 3, 1801) die erste Aufarbeitung der Theologie dieser Schrift bietet (ebd., 1-181). Vielleicht zählte Lücke ihn ohne Namensnennung zu den Vertretern der "untheologische[n] Ungerechtigkeit der Semlerischen Schule in der Beurtheilung und Auslegung der Apokalypse" (Lücke, 21852, 1050). - Teilband 1 beschließt eine Reihe von Würdigungen und Nachrufen für den am 14.2.1855 in Göttingen verstorbenen Gelehrten.

Teilband 2 bringt reiche dokumentarische Aufschlüsse:

I. "Knappe Zeittafel" zur Biographie; II. Eine umfassende "Bibliographie" (11-152); III. "Das Archivmaterial zu Lückes akademischer Entwicklung und seinem Wirken" (153-198); IV. "Briefe von und an Friedrich Lücke sowie andere Quellen verschiedener Archive" (199-427), die der Vf. hervorragend erläutert und belegt. Den Abschluss bilden das Literaturverzeichnis und vier gut aufschlüsselnde Register (Sachen, Bibelstellen, Orte, Namen).

Konnte der reiche Inhalt der beiden Teilbände, in Darstellung wie Eruierung und Edition in gleicher Weise beeindruckend sorgfältig, auch nur im Überblick skizziert werden, so ist festzuhalten: Der Vf. bietet in dieser Biographie und Werkbeschreibung eine wichtige forschungsgeschichtliche Detailarbeit, bei der sich notwendig - zu wenig in ihr hervorgehoben und diskutiert - die Frage stellt: Welchen Ertrag hat sie für die Forschungsgeschichte, die die vorangegangene wissenschaftliche Arbeit im Horizont gegenwärtiger Forschung zur eigenen Problemorientierung und -klärung bedenkt? Auf Lücke bezogen: Nicht in einem Beitrag zur historisch-kritischen Forschung liegt dieses Gelehrten Bedeutung - hier fällt er hinter die Forschung seiner Zeit zurück -, wohl aber darin, dass er den Akzent auf eine ,theologische Exegese' gelegt und gelegentlich ,gesamtbiblische' Aspekte bedacht hat. Aber auch hier bleibt eine Grenze, "weil er die theologische Aufgabe psychologisch und nicht aus dem Wesen der neutestamentlichen Verkündigung begründet"2. In einer Besprechung von F. Sander, D. Friedrich Lücke ..., 1891, heißt es ungleich deutlicher:

"Der Theologe, dessen Leben und Wirken hier beschrieben wird, gehört nicht zu den bahnbrechenden Geistern seiner Zeit. Neue erkenntnistheoretische Grundlagen hat er nicht gegeben, und was die kritischen Fragen angeht, welche seine Zeit bewegten, so ist er ihnen mehr aus dem Wege gegangen, als daß er ihnen bis in die letzten Gründe nachgegangen wäre. Er ist der Vermittlungstheologe im eigentlichen Sinne, aber in dieser Hinsicht darf er dann allerdings als ein Theologenhaupt betrachtet werden, das zu seiner Zeit eine weithin gehende Wirkung auch über den Kreis der Provinzialkirche hinaus geübt hat, welche auf die Universität angewiesen war, in der er die größte Zeit seines Lebens gelehrt hat".3

Der Anonymus der Rezension bedauert des Weiteren, wie schnell Lücke zu den Vergessenen gehörte, um dann zusammenzufassen: Es "darf aber auch sein Charakterbild in der Geschichte unserer theologischen Entwickelung nicht fehlen". Dazu hat der Vf. der vorliegenden gelehrten Münchener Dissertation unter der Betreuung von Ferdinand Hahn vielfältig und gewichtig beigetragen, wofür ihm ausdrücklich Dank gebührt.

Leider ist dem Werk kein Bildnis Lückes beigegeben (vgl. dazu Vf., Teilbd. 1, 7 Anm. 3). An weiterer Literatur zu Lücke ist hilfreich: W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 1: From Deism to Tübingen, Minneapolis 1992, 229 ff.; W. Ziegler, Die "wahre strenghistorische Kritik". Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft, Hamburg 2000 (= Diss. theol. masch. Erlangen 1993).

Fussnoten:

1) In einem, soweit ich sehe, noch nicht registrierten und publizierten Brief Lückes vom 24. Juni 1832 schreibt er anlässlich der Ablehnung des Rufes nach Erlangen an die Theologische Fakultät u. a. "... Desto mehr thut es mir leid, daß ich nicht im Stande bin, einem so ehrenvollen Rufe zu folgen. Ich bin hier in Göttingen, so schwer es mir anfangs wurde, doch jetzt ganz eingebürgert, äußerlich und innerlich. Da ich geglaubt habe, die Reihe der Grundveränderungen in meinem Leben sey mit der Berufung nach Göttingen geschloßen, so habe ich mich seit Jahren hier angekauft, habe Haus u. Hof u. Garten und richte mich ein, hier mein Leben zu schließen. Mein Wirkungskreis ist hier bestens u. erfreulich; er kann beschränkt aber nicht aufgehoben werden, so lange ich gesund und rüstig bin. Dazu kommt, daß mir die Regierung sehr viel Vertrauen geschenkt hat, das ich alle Ursach habe zu belohnen. Meine collegialischen Verhältnisse sind angenehm und erquicklich. Und die Nähe meiner und meiner Frau Familie, die mich zum Theil bestimmt hat, das reizende Bonn zu verlaßen, ist ebenfalls ein Moment, wodurch ich an Göttingen gefeßelt werde. Ich lege Ihnen offen und unumwunden vor, was mich bestimmt, hier zu bleiben. So darf ich auch hinzufügen, daß mein Gehalt und meine dortige Einnahme von der Art sind, daß ich mit meiner Familie bequem und angenehm leben kann. Ich würde also, deucht mir, Unrecht thun u. Gott versuchen, wenn ich es wagen wollte, eine so erfreuliche Lage des Lebens zu ändern ..." (Archiv der Theol. Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg).

2) So W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, 21970, 142.

3) Literarisches Centralblatt für Deutschland, 1891, (Nr. 24), 809-810 (Zitate: 809).