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Ausgabe:

Oktober/2001

Spalte:

1010–1012

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lexutt, Athina, u. Vicco von Bülow [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kaum zu glauben. Von der Häresie und dem Umgang mit ihr.

Verlag:

Rheinbach: CMZ 1998. 345 S. 8 = Arbeiten zur Theologiegeschichte, 5. Kart. DM 48,-. ISBN 3-87062-030-7.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Dieser dem Bonner Kirchenhistoriker Heiner Faulbach zum 60. Geburtstag gewidmete Sammelband umkreist facettenreich das "sich scheinbar am Rande der Theologie bewegende Thema ,Häresie'" auf eine Weise, dass es "in Wahrheit ganz in deren Mitte führt" (Vorwort der Herausgeber, 1) bzw. führen soll.

In Teil "A. Häresie - Spuren in der Bibel" wird von W. H. Schmidt (19-33) die Gestaltungsfähigkeit des alttestamentlichen Glaubens im nicht nur kritischen Austausch mit seiner religiösen Umwelt betont, die gleichwohl die Frage nach dem Besonderen und Unüberholbaren nicht erübrigt. H. Löhr (34-56) fragt im Sinne des Konzeptes einer dialogischen Theologie des Neuen Testaments nach einem theologisch ernstzunehmenden Wahrheitsanspruch der Häresien in der Bibel, hier speziell dem der "Lehre der Nikolaiten". Deren hypothesenreiche Rekonstruktion führt zur These eines lebenspraktischen Ausgleichs mit der paganen Umwelt auf Grund christlicher Einsicht in die "Fundamentlosigkeit" paganer Theologie und Riten in Abweichung zugleich von judenchristlichen Engführungen.

Im umfangreichsten Teil "B. Häresie - Ein Thema der Kirchengeschichte" wird zunächst von W. Kinzig (59-95) eine bis mindestens Ende des 4. Jh.s nachweisbare, großkirchlich verdrängte judenfreundliche Strömung biblisch-chiliastischer Prägung über das Historiographische hinaus als ein theologisches Modell des Verhältnisses von Kirche und Synagoge gewürdigt. A. Lexutt (96-122) richtet sich gegen eine das legitime Ziel von Inquisiton als "Untersuchung" unterschlagende Engführung des Inquisitionsbegriffs, um vor dem Hintergrund einer knappen, im Einzelnen (vgl. z. B. ad Waldenser) etwas fraglosen Skizze der problematischen Geschichte der Inquisition die theologische Bedeutung des 4. Laterankonzils auch für die Reformation zu profilieren. Die folgenden Beiträge von K.-H. zur Mühlen (123-139), W. H. Neuser (140-161), A. Mühlung (162-170) und H. H. Eßer (171-180) stellen jeweils einen innerreformatorischen, dialogisch-ökumenisch weiterführenden Aspekt des Häresieproblems am Beispiel Ph. Melanchthons, M. Bucers und H. Bullingers sowie den nicht nur rezeptionsgeschichtlich, sondern auch quellenmäßig dunklen Beitrag G. Farels für die Genfer Reformation knapp heraus. Im Sinne eines großen historischen wie sachlichen Sprungs und zugleich einer faktischen Analogie zum Häresieproblem beschäftigt sich der anschließende Beitrag von L. Massmann (181-194) mit dem Problem der Anwendung der Kuhnschen Paradigmentheorie auf die alttestamentliche Exegese des 19. und 20. Jh.s, das ungenannte aktuelle Zuspitzungen hat. Dies gilt auch für die Konfrontation des "Wir verwerfen die falsche Lehre" der Bekennenden Kirche und des "Wir kennen kein damnamus" der in spezifischer Weise einheitsideologischen Deutschen Christen durch V. von Bülow (195-218), der u. a. zugleich an die problematische Rolle O. Webers und - etwas unreflektiert - daran erinnert, dass die antihäretische Funktion von Theologie von einem "rechten ,Ja'" abhängt (218).

Teil "C. Häresie als Problem der Systematischen Theologie" schließt mit einem Beitrag von G. Sauter (221-239) insofern nahtlos an, als dieser seine systematischen Beschäftigungen mit der gegenwärtig immer programmatischer werdenden kontextuellen Theologie mit dem Rekurs auf die theologischen Entscheidungen des deutschen Kirchenkampfes, insbesondere mit der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung, ebenso verbindet wie mit dem bleibend unerledigten Problem des Historismus und einer natürlichen Theologie. Die auch nach links (vgl. Befreiungstheologie) gerichtete harte Gleichung von kontextueller Theologie und natürlicher Theologie will deren Wahrheitsmoment gegenüber traditionellen Engführungen der Dogmatik nicht leugnen. Sie insistiert aber auf einem primär anderen, dem Anspruch nach präziseren Kontextbegriff (vgl. theologische-sprachlicher Zusammenhang). K. Stock (240-245) dagegen geht in einer leider überknappen Skizze der Frage nach, wie in der gegenwärtigen Weltgesellschaft "der Ausdruck ,Häresie' zu einem deutlichen, diagnostisch hilfreichen und praktisch bedeutungsvollen Begriff entwickelt werden kann" (240), ohne die (neu-)protestantische Auslegung des Christentums zu verraten. In Orientierung an einem an R. Bultmann orientierten Offenbarungsbegriff deutet er eine Antwort an, die F. Schleiermachers Häresiekriterien so aufnimmt, dass das Häresieproblem individualgeschichtlich gebrochen und die Kriteriologie zugleich durch "die im Kanon der Heiligen Schrift begründete Selbstdeutung des Glaubens" in ihrer geschichtlichen Pluralität erweitert wird. Außerordentlich subtil und nicht nur die Schleiermacherforschung anregend sind die Bemerkungen von G. Baader (246-266) zu Schleiermacher in der Leitperspektive ästhetischer statt - so dessen eigene Kontrastierung - teleologischer und entsprechend ethisierter Frömmigkeit. Damit wird faktisch in spezifischer Weise so auf das Häresieproblem und zugleich auf eine Affektenlehre verwiesen, dass eine signifikante systematische "Leerstelle" in der Architektonik von Schleiermachers Glaubenslehre bezeichnet und rekonstruiert wird. Diese Leerstelle wird dann ansatzweise so gefüllt, dass dies gegen allen Anschein einer Lehre vom Worte Gottes gerade nicht widersprechen soll und muss.

Ist Teil "D. Häresie als Gegenstand des Kirchenrechts" in Gestalt eines umsichtigen Beitrags von A. Stein (269-280) speziell dem (Lehrbeanstandungs-)Recht der Evangelischen Kirche im Rheinland gewidmet, so folgen in Teil "E. Häresie als Aufgabe der Praxis" weitere Aspekte des Häresieproblems. W. Thiede (283-313) reflektiert auf das Verhältnis von Häresie, Sektierertum und Sekte, um damit gegenüber einer einseitig ethisch orientierten Pluralisierung des Sektenbegriffs ein Plädoyer zugleich für dessen kritische Retheologisierung zu verbinden. M. Meyer-Blanck (314-327) nimmt mit neuerer Religionspädagogik den Imperativ zur Häresie (im Sinne von P. L. Berger) zwar auf, konstatiert aber auch diagnostisch: "Häresie als Prinzip erzeugt Gähnen" (320), um entsprechend auf "die Chancen von Lehre" zu verweisen (320 ff.): "Ohne Häresie gibt es keinen individuellen Glauben - aber ohne Lehre gibt es auch keine Häresie" (331) im genannten Sinne. Lehre aber hat sich religionspädagogisch im Wechselspiel mit den Jugendlichen und einer bei ihnen vorauszusetzenden theologischen Kompetenz zu vollziehen (323 ff.). H. Schroeter (328-342) denkt in seinem homiletischen Beitrag D. Bonhoeffers These, jede Predigt solle bis an die Grenze der Häresie gehen, zu Gunsten eines "präzisen Postmodernismus" (W. Welsch), also einer offenen, fragilen Agonalität und zugleich Liminalität weiter, die wohl gerade systematisch prinzipieller zu reflektieren wäre. Und zwar nicht ohne Rekurs auf Schleiermachers Zwischen- oder auch Schwellenbegriff der Heterodoxie, zu dem sich faktisch z. B. auch bei K. Barth so manches finden lassen dürfte.

Summa: Man mag in diesem Band zwar historisch wie systematisch mancherlei Wichtiges vermissen oder unausgeführt sehen. Doch handelt es sich immerhin um einen reichhaltigen und z. T. anregenden Blumenstrauß.