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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

985–987

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Joppien, Heinz-Jürgen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Ökumenische Rat der Kirchen in den Konflikten des Kalten Krieges. Kontexte - Kompromisse - Konkretionen.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 2000. 325 S. 8 = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 70. Kart. DM 32,-. ISBN 3-87476-360-9.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

Der vorliegende Band ist aus einer von der Evangelischen Akademie in Mülheim an der Ruhr vom 28.-30. Mai 1999 veranstalteten Tagung zum Thema "Der Ökumenische Rat der Kirchen in den Konflikten des Kalten Krieges" hervorgegangen, ist aber nicht als ein Tagungsband anzusehen. Denn auf der einen Seite fehlen wichtige Beiträge, die auf der Tagung vorgetragen und diskutiert wurden: Martin Greschats Einführungsvortrag beispielsweise, inzwischen in der Ökumenischen Rundschau 49, 2000, 7-25 unter dem Titel "Ökumenisches Handeln der Kirchen in den Zeiten des Kalten Krieges" erschienen; Zoltan Balogs Ausführungen zur Ökumenischen Bewegung aus der Sicht Ungarns; Katharina Kunters Beitrag "Die Schlußakte von Helsinki und die Diskussion im ÖRK um die Verletzung der Religionsfreiheit in Ost- und Mitteleuropa 1975-1977" (inzwischen erschienen in der Ökumenischen Rundschau 49, 2000, 43-51) sowie Günther Krusches Ausführungen über "Menschenrechte in christlicher Verantwortung. Die Kirchen in der DDR und die Menschenrechte", erschienen in der Ökumenischen Rundschau 49, 2000, 26-42. Nicht aufgenommen wurden ferner die Thesen von Wolfgang Ullmann zum Thema "Instrumentalisierung der Theologie", ferner ein Bericht über das Zeitzeugengespräch, an dem Günther Schulz, Josef Smolik, André Appel und Heinz Joachim Held teilnahmen, sowie ein Bericht über das Schlussplenum, in dem vor allem jüngere Tagungsteilnehmer aus ost- und ostmitteleuropäischen Ländern zu Wort gekommen waren. Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass alle Referate für den Druck noch einmal überarbeitet wurden.

Fast die Hälfte des Bandes nimmt außerdem ein umfangreiches Exposé ein, das Heinz Joachim Held vor der Tagung erstellt hatte und das er im Anschluss an die Tagung noch einmal überarbeitete. In dieses Exposé sind die persönlichen Erinnerungen von Held eingeflossen, der von 1968-1991 dem Zentralausschuss des ÖRK angehörte und zuletzt, von 1983-1991, als dessen Vorsitzender Verantwortung trug. Held wertete außerdem diverse Materialien und Unterlagen aus. Ergänzt wird der Band schließlich durch drei Berichte, die erst mehrere Monate nach der Tagung erstellt wurden: "Nachgedanken", in denen sich Alfred Kocáb aus dem Kreis der Prager Dissidenten, die Historikerin Katharina Kunter und Konrad Raiser, seit 1993 Generalsekretär des ÖRK, äußern. Zu notieren ist des Weiteren, dass keiner der Beiträge sich mit dem vor kurzem erschienenen Buch von Gerhard Besier, Armin Boyens und Gerhard Lindemann: "Nationaler Protestantismus und ökumenische Bewegung. Kirchliches Handeln im Kalten Krieg, 1945-1990" auseinandersetzt (von mir in der Theologischen Literaturzeitung 125, 2000, 983 -990 besprochen).

Auf der Tagung standen vier Problembereiche im Zentrum: In Sektion I zum Thema "Der ÖRK herausgefordert durch politische Krisensituationen" referierte Rainer Fischer über die "Aufklärung der Vergangenheit als Ausgang aus selbstverschuldeten Zwickmühlen"; in die Sektion II mit dem Thema "Ein Zeugnis für den Frieden geben" führten Joachim Garstecki sowie Laurens Hogebrink ein; in Sektion III mit dem Thema "Genesis, Formulierung und Rezeption des Eintretens für Menschenrechte im ÖRK" diskutierte Uwe-Peter Heidingsfeld die, jedenfalls im Rückblick, für die Beurteilung der Haltung des ÖRK im Zeitalter des Kalten Krieges wohl wichtigste Frage: Wie weit von Genf aus diejenigen, deren Religionsfreiheit und deren Menschenrechte verletzt wurden, Unterstützung erhielten; in Sektion IV zum Thema "Instrumentalisierung der Theologie zu politischen Zielen" erörterte Geiko Müller-Fahrenholz nicht nur das Ost-West-Verhältnis, sondern vor allem auch die Fragen, die das Nord-Süd-Verhältnis in der Ökumene implizierte.

In allen Beiträgen, auch in dem langen Exposé von Heinz Joachim Held, wird festgestellt, dass die Politik des ÖRK gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts im Zeitalter des Kalten Krieges viele Fragen aufwirft. Unterschiedlich ist freilich die Beurteilung dieser Fragen. Heinz Joachim Helds materialreiche Ausführungen sind in durchaus defensivem Ton gehalten. Zwar konzediert auch er, "daß es im ÖRK über wenige Ansätze hinaus zu keiner grundsätzlichen theologischen und politischen Ideologiekritik des Sozialismus gekommen ist" (47); zwar verschweigt er nicht, dass die Delegierten der Russischen Orthodoxen Kirche "direkt oder indirekt politischen Weisungen unterlagen und womöglich sogar für den heimatlichen Geheimdienst tätig waren" (54). Held beschreibt aber vor allem ausführlich das, was er als die "Zwangslage" bezeichnet, "politische Rücksichtnahme zu üben", das heißt, wenn man die "ökumenischen Beziehungen zu den Kirchen in den osteuropäischen Ländern nicht belasten oder zerstören wollte", entweder "zu schweigen oder verschlüsselt zu sprechen" (57). Rainer Fischer nennt dies die vom ÖRK "selbstverschuldeten Zwickmühlen" (167), selbstgeschaffene Dilemmata, die dazu führten, dass denjenigen, die auf Hilfe aus Genf besonders angewiesen waren, solche Hilfe versagt wurde.

Aufschlussreich ist, dass in dem Bericht von Held der "Prager Frühling" und der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts keine Zäsur bilden. Für viele ökumenisch gesinnte Theologen ostmitteleuropäischer Staaten, allen voran J. L. Hromádka, wurde 1968 dagegen zum Schicksalsjahr. Entsprechend pointiert sind die Formulierungen von Alfred Kocáb in seinen "Nachgedanken". Er verschweigt nicht, wie weit Hromádka den kommunistischen Regimes entgegengekommen war. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass die Prager christliche Friedenskonferenz "zum verlängerten Arm der östlichen kommunistischen Geheimdienste" wurde und dass "kompromissfreudige östliche Kirchenvertreter" zusammen "mit führenden Persönlichkeiten der Dritten Welt de facto eine lobbyistische informelle Gruppe" aufbauten, "die stark genug war, um eine Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in den kommunistischen Ländern zu vereiteln." "Besonders beschämend" ist es für Kocáb, dass der ÖRK schwieg, "als die Forderungen nach allgemeinen Menschenrechten in der Charta 77 in der ehemaligen CSSR konkrete Gestalt angenommen" hatten und dass in Genf "Hilferuf und Bitte um elementare Solidarität mit den Verfolgten, Geächteten, Eingekerkerten und der Freiheit Beraubten" nicht gehört wurde. Für Kocáb hat der ÖRK somit in einer entscheidenden Situation "versagt": "Die prophetische Stimme erklang in der Stunde der Bewährung und Versuchung nicht" (314).

Es ist eine Stärke des vorliegenden Bandes, dass beide Seiten ausführlich zu Wort kommen: Diejenigen, die nach wie vor überzeugt sind, dass der ÖRK nur so handeln konnte, wie er gehandelt hat, wenn der Weltfrieden nicht gefährdet werden sollte, und die deshalb keinen Anlass sehen, dass der ÖRK nachträglich gegenüber den Dissidenten seine Schuld bekennen möge; sowie diejenigen, die dem ÖRK schwere Versäumnisse speziell im Hinblick auf eine Unterstützung der Dissidenten in den osteuropäischen Ländern vorwerfen und die von den führenden Genfer Vertretern eine Art Schuldbekenntnis einfordern. Beide Seiten sind sich freilich in zweierlei einig: Dass das Gespräch über diese schwierigen Fragen fortgesetzt werden muss und dass, ehe eine endgültige Bewertung vorgenommen werden kann, gründliche historische Forschungen notwendig sind. Das ist auch der Tenor der "Nachgedanken" von Konrad Raiser.