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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

982–985

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Brosseder, Johannes

Titel/Untertitel:

Reformatorischer Rechtfertigungsglaube und seine Kraft im ökumenischen Gespräch der Gegenwart. Ausgewählte Beiträge zur ökumenischen Theologie aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Ch. Funk, D. Ritschl, Th. Ruster, J. Track.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 1999. 478 S. 8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-87476-347-1.

Rezensent:

Theodor Dieter

Unter dem programmatischen Titel "Reformatorischer Rechtfertigungsglaube und seine Kraft im ökumenischen Gespräch der Gegenwart" sind 35 Texte des bekannten katholischen Theologen und Ökumenikers Johannes Brosseder von der katholischen Theologin Chr. Funk, dem katholischen Theologen Th. Ruster und den beiden evangelischen Theologen D. Ritschl und J. Track zusammengestellt und herausgegeben worden. Die gemeinsame Herausgeberschaft an diesem Aufsatzband soll, so die Herausgeber, "ein Zeichen ökumenischer Verbundenheit und des Dankes für diese ökumenische Theologie" (13) sein. Das Vorwort führt knapp und instruktiv in die aus drei Jahrzehnten stammenden Beiträge ein. Von der Fülle an Einsichten, Überlegungen und Kritiken, die in den 35 Texten vorgetragen werden, können im Folgenden nur einige wenige angesprochen werden.

Die erste Gruppe von Beiträgen gilt Martin Luther und der Reformation (15-117). B., der mit einer Arbeit über "Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten" promoviert wurde (veröffentlicht München 1972), erweist sich als guter Kenner Luthers und der Geschichte seiner Rezeption und Interpretation. Er präsentiert sorgfältig und differenzierend Luthers Auffassungen, stellt sie in ihre Zeit hinein und fragt in klarem historischen Bewusstsein unserer Abständigkeit zu Luther auch nach dem "fremden Luther" (vgl. den gleichnamigen Aufsatz: 26-48), freilich nicht, um dessen gegenwärtige Bedeutung zu minimieren, sondern um seine Aktualität und Relevanz heute sachgemäß darlegen zu können. "Die römisch-katholische Kirche ist in der Zeit der Reformation und in den Jahrhunderten danach mit Martin Luther nicht zurechtgekommen. Sie ist aber auch von ihm nicht mehr losgekommen." (24) In diesem Spannungsfeld sieht B. seine Aufgabe, elementare Einsichten Luthers in der katholischen Theologie und Kirche zur Geltung zu bringen. Auch wenn durch das 2. Vatikanische Konzil "[v]iele reformatorische Anfragen ... gegenstandslos geworden" seien, sei dort manches im Zwielicht geblieben, weil das Konzil sich spannungsvoll bis zur Gegensätzlichkeit dazu geäußert habe: "das Verhältnis von Heiliger Schrift, kirchlicher Lehre und Lehramt wie das Verständnis des kirchlichen Amtes" (24 f.). Dabei ist B.s Zugang zu Luther keineswegs unkritisch, was für einen Theologen, der über "Luthers Stellung zu den Juden" gearbeitet hat, auch nicht anders zu erwarten ist. Aber gerade die Studie "Luther und der Leidensweg der Juden" (61-91) beeindruckt nicht nur durch die Kompetenz in der Darlegung, sondern auch durch ihre Fairneß.

Der weitaus größte, zweite Teil des Bandes gilt Fragen des ökumenischen Gesprächs: Eine erste Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit Sachfragen (119-255), eine zweite Gruppe mit Methodenfragen (257-366). In der ersten Gruppe kommt der Studie "Konsens im Rechtfertigungsglauben ohne Konsens im Kirchenverständnis? Zur Bedeutung des Rechtfertigungsstreits heute" (157-173) im Zusammenhang des Bandes besondere Bedeutung zu. Sie expliziert den Titel, den die Herausgeber dem Band gegeben haben, und drückt den Kern von B.s ökumenischem Anliegen aus. B. insistiert darauf, dass dem Konsens in der Rechtfertigungslehre ein Konsens im Kirchenverständnis folgen müsse, und zwar ein Verständnis der Kirche als "reine Instrumentalität" (166, 170). Das ",Richteramt' des Rechtfertigungsglaubens" besage, "daß z. B. alle kirchlichen Traditionen, Institutionen, Ordnungen und Riten dem Kriterium zu unterstellen sind, daß sie die rechte Verkündigung des Evangeliums ermöglichen, die Bedingungslosigkeit des Heilsempfangs nicht verdunkeln und nicht als Heilsbedingungen auferlegt werden dürfen" (169). Hier verbindet sich für B. ökumenische Theologie mit scharfer Kritik an der eigenen Kirche. Freilich ist es schade, dass B. den Zusammenhang von Rechtfertigungslehre und Kirchenverständnis eher thetisch vorstellt, als in detaillierter Argumentation darlegt.

In der Gruppe "Methodenfragen" findet sich u. a. eine Studie zur katholisch-kirchenamtlichen Rezeption des Dokuments "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" (267-283, v. a. 275-277), die B. "gemessen an den ausgesprochenen und dadurch geweckten Erwartungen - als geradezu mißlungen" (277) bezeichnet.

Damit die Geschichte den Kirchen nicht im Weg steht, macht er eine Reihe von Vorschlägen: "Für alles in der Kirche ist die Heilige Schrift letzter Maßstab" (279), die Unterscheidung von Aussagegestalt und "durch sie angezielte[r]" Sache (280) ist konsequent zu berücksichtigen, ebenso ist eine mit der "hierarchia veritatum" verbundene "hierarchia der Verpflichtungsansprüche" (281) zu konzipieren, der Katholizitätsbegriff soll so gefasst werden, dass "für die Wiederherstellung der Gemeinschaft der Kirchen" der Glaube genügt, der allsonntäglich im Credo von allen bekannt wird, "unbeschadet der Tatsache, daß in den einzelnen Kirchen darüber hinaus lokale Glaubensformen in Umlauf sind, die eben nicht von allen geteilt werden und auch nicht geteilt werden müssen ..., wenn und insofern sie sich auf den Glauben, den alle teilen, zurückbeziehen ließen" (281f.; vgl. 334-340). Das sind anregende Überlegungen, und man wünscht sehr, dass B. sie einmal umfassend entwickelt und dabei auch auf die Probleme, die sich bei ihrer Durchführung ergeben, eingeht, was natürlich in einem Aufsatz nicht möglich ist. So steckt etwa beim zuletzt genannten Vorschlag das Problem in der Fassung des "Sich-zurückbeziehen-Lassens" der "lokalen Glaubensformen" auf den "Glauben, den alle teilen". In den Reformationskontroversen haben beide Seiten diesen Anspruch je für sich erhoben, und sie haben jeweils der anderen Seite abgesprochen, dass sie diesen Anspruch einlöse.

In einer weiteren Studie (284-303) kritisiert B. die sog. Konsensökumene, weil sie unausgesprochen die Erwartung hege, "daß der Dialog erst dann an sein Ziel gekommen ist, wenn man sich auf das geeinigt hat, was der eigenen Tradition entspricht" (289), und weil sie annehme, dass erst dann Gemeinschaft der Kirchen möglich sei. Positiver beurteilt B. das Projekt "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?": Indem es die Frage prüfe, "ob die im 16. Jahrhundert ausgesprochenen Lehrverurteilungen den heutigen Partner noch treffen" (291), laute die Aufgabenstellung: "Trennung muß in jedem Einzelfall gerechtfertigt werden, nicht jedoch die Einheit" (ebd.) - diese werde vielmehr als gegeben vorausgesetzt. Gemeinschaft der Kirchen sei so auch bei verbleibenden Lehrgegensätzen denkbar. In beiden Zugangsweisen aber vermisst B. "klare Angaben in dem aller kirchlichen Lehre vorausliegenden Grundsätzlichen" (293), und zwar einen Grundkonsens "über den Stellenwert aller kirchlichen Lehre, nämlich über ihre Bezogenheit, über ihre Relativität", d. h. dass "die kirchliche Lehre nicht identisch mit Gott selbst und seinem Heilshandeln" ist und dass sie "bezogen [ist] auf das Ursprungszeugnis der Heiligen Schrift". B. meint, dass die Kirchen "auch bei differenten Einzellehren dennoch gemeinsam den sachlichen und historischen Grund ihres Glaubens" (295) dann bezeugen, wenn sie diese doppelte Relativität kirchlicher Lehre zum Ausdruck bringen können. Aber es genügt nicht, die Lehre nur vom Grund des Glaubens zu unterscheiden, um deren Bezogenheit auf jenen Grund zu bezeugen. Der Streit um Lehrinhalte geht ja gerade darum, ob diese sich tatsächlich auf den Grund des Glaubens beziehen oder ob sie ihn verfehlen. Man entkommt den inhaltlichen Fragen der kontroversen Lehren in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft der Kirchen nicht, indem man sich auf Fragen der Konstitution derselben konzentriert.

Was die Zielvorstellungen des ökumenischen Bemühens betrifft, favorisiert B. das Modell einer communio von Kirchen, wobei gilt: "Solche Gemeinschaft besteht grundlegend in der Gottesdienstgemeinschaft und erwächst aus ihr" (364). So sagt B. auch: "Aus der erfahrenen und gelebten eucharistischen Gemeinschaft der Kirchen könnte doch sehr wohl eine Gemeinschaft der Kirchen erwachsen, die sich ihre Rechtsform erst sucht" (216).

Der dritte Teil (367-421) enthält vier Beiträge "zur christlich-jüdischen Thematik" (367). Darin vertritt B. u. a. die Meinung: "Während die vielen Widersprüche im Neuen Testament in Person und Geschick Jesu zusammengehalten sind, sind die Widersprüche zwischen Altem und Neuem Testament in Gott selbst zusammengehalten." (421) Eine solche Unterscheidung ist für die christliche Theologie hochproblematisch, wie denn auch B.s Vorschläge zum christlich-jüdischen Gespräch Fragen und Einwände gegen seine Hermeneutik der Gottesoffenbarung provozieren.

Der vierte Teil (423-454) enthält drei Texte unter der Überschrift "Bewährungen" - von "Das Antirassismus-Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen" (425-432) bis zum Thema "Kirche des Geistes - eine ökumenische Utopie?" (445-454). Dieser den Band abschließende Text enthält eine glänzende "theologische Exegese" (450) der Vertonung des "Et in Spiritum sanctum ... Et unam sanctam, catholicam et apostolicam ecclesiam" in Bachs h-moll-Messe. Der letzte, für B.s Theologie programmatische Satz lautet: "Kirche des Geistes ist dort, wo immer Menschen über die Barrieren der Konfessionsgrenzen hinweg diese evangeliumsgemäße Predigt zu hören bereit sind und aus diesem Hören und im Hören und Zuhören verbleibend Gemeinschaft, Kirche miteinander wagen" (454). - Der Band schließt mit einem "Schriftenverzeichnis Johannes Brosseder" (459-478).

B. will die Gräben zwischen den Kirchen überwinden helfen, indem er - in klarer Kenntnis der traditionellen Kontroversen - nach vorne, auf die heute zu bedenkende "Sache" schaut, die kontroversen Positionen aber als besondere und begrenzte Weisen des Zeugnisses von dieser "Sache", die letztlich Gott und sein Heilshandeln ist, versteht. Auch wer bei diesem Weg nicht immer mit B. mitgehen kann, sondern ihm widersprechen muss, wird seine Texte mit Gewinn studieren. So stellt der Band mit den 35 Beiträgen aus dem umfangreichen Werk B.s ein schönes Geschenk an den Autor wie an uns, seine Leser und Leserinnen, dar.