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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

979–982

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Birmelé, André

Titel/Untertitel:

La Communion Ecclésiale. Progrès cuméniques et enjeux méthodologiques.

Verlag:

Paris: Cerf; Genève: Labor et Fides 2000. 401 S. 8 = Cogitatio fidei, 218. Kart. fFr 190.-. ISBN 2-204-06435-1u. 2-8309-0979-8.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Der Dekan der protestantischen theologischen Fakultät der Universität Strassburg legt eine umfangreiche Arbeit zur ökumenischen Theologie vor, in der es, wie im Titel und Untertitel angekündigt, um den ökumenischen Fortschritt und die damit verbundenen methodologischen Fragen und Herausforderungen im Blick auf das Konzept und die Wirklichkeit von Kirchengemeinschaft geht. Die drei Kapitel über die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre bilden einen ersten Hauptteil des Buches. Der zweite Hauptteil behandelt in fünf Kapiteln miteinander zusammenhängende methodologische und inhaltliche Fragen der gegenwärtigen bilateralen theologischen Dialoge der Reformationskirchen und die Rezeption von deren Ergebnissen durch die beteiligten Kirchen in der Form von Kirchengemeinschaft, die das Modell der "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" in kirchengeschichtliche Realität umsetzt. Auch in diesem zweiten Teil werden immer wieder methodologische und inhaltliche Probleme aus dem lutherisch-katholischen Dialog aufgenommen, die in den drei Kapiteln über den Rechtfertigungsdialog angekündigt wurden. Auf diese Weise erreicht der Vf. eine eindrucksvolle Kohärenz und Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Kapiteln, was allerdings nicht ohne manche Wiederholung abgeht.

Im ersten Kapitel beschreibt und analysiert der Vf. den Prozess, der den lutherisch-katholischen Konsens in der Rechtfertigungslehre vorbereitet hat und der sich auf drei wegbereitende Dialoge stützte: den internationalen lutherisch/römisch-katholischen Dialog vor 1985 und die beiden lutherisch/ römisch-katholischen Dialoge in den USA und in Deutschland. Dem folgt im zweiten Kapitel eine Darstellung und Interpretation der Ergebnisse des internationalen lutherisch/römisch-katholischen Dialogs über "Kirche und Rechtfertigung" (1994). Das dritte Kapitel, das weitaus längste des Bandes, ist der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE) von 1999 gewidmet mit der Darstellung der Geschichte ihrer Ausarbeitung, des in der GE vorgelegten Verständnisses und Inhalts des "differenzierten Konsenses" in der Rechtfertigungslehre, der heftigen Debatte über die GE in Deutschland, der Stellungnahmen der lutherischen Kirchen sowie des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche und der Ermöglichung der lutherischen und römisch-katholischen Unterzeichnung der GE am 31. Oktober 1999 in Augsburg.

In diesen Kapiteln tritt die Methode Birmelés deutlich zu Tage. Er referiert und kommentiert nicht einfach die Texte, sondern "durchleuchtet" sie im Blick auf ihre schlüssigen oder zu leichtgewichtigen Voraussetzungen, die mit ihnen implizit oder direkt aufgeworfenen Probleme, ihre nicht überzeugenden oder aber weiterführenden Schlussfolgerungen, die in ihnen noch offen gebliebenen Fragen und die sie bestimmenden methodologischen Schritte und theologischen Grundentscheidungen. Mit diesem kritisch-analytischen Ansatz weist er in den beiden ersten Kapiteln auf die zwischen Lutheranern und Katholiken noch nicht bewältigte und weiterhin trennende ekklesiologische Differenz im Verständnis der Instrumentalität der Kirche im Heilshandeln Gottes hin, auf die er dann später wieder zurückkommt. Im dritten Kapitel stimmt er einzelnen kritischen Anfragen an bestimmte Aussagen der GE zu, weist aber deren Folgerung eines fehlenden Konsenses mit dem Hinweis auf die in der GE benutzte Methode des "differenzierten Konsenses" zurück, wonach die grundlegenden Übereinstimmungen in der Rechtfertigungslehre (Abschn. 15-17) die verbleibenden Unterschiede in der theologischen Interpretation zu tragen vermögen. Um so nachdrücklicher ist B.s Kritik über den Rhein hinweg an manchen Facetten der deutschen Diskussion über die GE. Er hält ihr, unter anderem, theologische Isolation vor, eine "neofundamentalistische konfessionalistische" Fixierung auf Texte des 16. Jh.s ohne Berücksichtigung der theologischen Entwicklungen seit jener Zeit, einen grundsätzlichen Antikatholizismus und, auf nicht-theologischer Ebene, arrogante Abweisungen, demagogische Behauptungen, journalistische Manipulation (durch die FAZ), gegenseitige Verletzungen und anderes mehr. Das Kapitel schließt mit der bemerkenswerten Folgerung, versteckt in der letzten Fußnote auf S. 190, dass mit ihrer Annahme durch die Kirchen die GE die erste gemeinsame und zeitgenössische lehrmäßige Definition der Rechtfertigung innerhalb des Luthertums vorlegt.

Den zweiten Hauptteil des Buches eröffnet der Vf. mit dem vierten Kapitel, das die bereits im dritten Kapitel angesprochene Diskussion über die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre mittels einer Interpretation der Vorstellungen eines "Hauptartikels" und einer "Hierarchie der Wahrheiten" weiterführt. Obwohl die beiden Konzepte auch innerhalb der reformatorischen und römisch-katholischen Kirchenfamilien umstritten sind, sind sie doch nach Auffassung des Vf.s vergleichbar im Blick sowohl auf ihr Zentrum - die Versöhnung von Gott und Mensch - als auch auf ihre Zielsetzung im Aufweis der Interrelation aller Glaubenswahrheiten. Das hermeneutische Prinzip des Hauptartikels der Rechtfertigung wird abschließend (im Anschluss an G. Sauter) verstanden als eine theologische Dialogregel, die in nicht-restriktiver Weise das Ganze der Theologie orientiert. Im fünften Kapitel über "Konsens und Grunddifferenz" wird eine äußerst hilfreiche Klärung des vieldeutigen Begriffs der "Grunddifferenz" in seiner gegenwärtigen ökumenischen Verwendung vorgelegt. Der Begriff dient heute dazu, den Grund und Zusammenhang vieler einzelner theologischer Unterschiede zu explizieren, die in ihrer Gesamtheit entweder kirchentrennend wirksam sind oder aber, auf der Grundlage eines den gemeinsamen Grund und das lebendige Zentrum des Glaubens im Evangelium aussagenden Grundkonsenses, eine legitime Grunddifferenz ausmachen. Eine Grunddifferenz ist daher weder eo ipso kirchentrennend, noch lässt sie sich auf einen einzigen lehrmäßigen/dogmatischen Punkt reduzieren. Es geht vielmehr um eine Grundorientierung oder Grundentscheidung. Die lutherisch/römisch-katholische Grunddifferenz siedelt der Vf. im Bereich der Soteriologie in der unterschiedlichen Bestimmung der Stellung des Menschen vor Gott an und im Bereich der Ekklesiologie in der unterschiedlichen Akzentuierung der Instrumentalität der Kirche im Heilshandeln Gottes. In beiden geht es letztlich um das Verständnis des Menschen wie der Kirche coram Deo. Die soteriologische Grunddifferenz hat durch den Grundkonsens der GE ihre trennende Wirkung verloren, die ekklesiologische Grunddifferenz noch nicht.

Im sechsten Kapitel interpretiert der Vf. acht Erklärungen von Kirchengemeinschaft unter Reformationskirchen, einschließlich anglikanischer und methodistischer Kirchen, in Europa und Nordamerika, die von der Leuenberger Konkordie (1973) bis zur anglikanisch-lutherischen Kirchengemeinschaft in den USA (2000/2001) und in Kanada (2001) reichen. Das besondere Augenmerk des Vf.s gilt hier den unterschiedlichen Verfahrensweisen, Zielvorstellungen und theologischen Übereinstimmungen, mit deren Hilfe die Kirchen ihre volle Gemeinschaft miteinander erklären konnten (was m. E. für die ebenfalls einbezogene Meißener Erklärung von 1991 und die Erklärung von Reuilly von 1999 aber noch nicht zutrifft, da in diesen anglikanisch-lutherischen/reformierten Erklärungen die Frage des historischen Episkopats noch nicht gelöst ist). Das siebente Kapitel über "Einheit der Kirche als Koinonia" enthält einen instruktiven historischen Überblick über die Entwicklung ökumenischer Einheitsvorstellungen hin zur zunehmenden Bedeutung des Konzepts der Koinonia/Communio als der angemessensten Zielvorstellung aller christlichen Einheitsbemühungen. Allerdings wird auch mit Recht vor einer zu unpräzisen Verwendung des Koinonia-Konzepts, z. B. im Blick auf die umfassendere menschliche Gemeinschaft, gewarnt. Das abschließende achte Kapitel befasst sich mit der inzwischen vieldiskutierten und angesichts der Dialogergebnisse immer drängender werdenden Aufgabe der Klärung des Verständnisses von "Rezeption" der Ergebnisse ökumenischer Bemühungen wie auch der damit verbundenen Problematik der "Kompatibilität", der Vereinbarkeit und Kohärenz der Schlussfolgerungen ökumenischer Dialoge mit der Tradition der eigenen Kirche, zwischen den verschiedenen Dialogen einer Konfessionsfamilie, etc. Es sind "willkomene Probleme", weil sie eine Frucht der ökumenischen Bewegung sind. Im Rückblick auf die untersuchten Texte und Entwicklungen schließt das Buch mit einer positiven ökumenischen Bilanz.

André Birmelés Arbeit leidet gelegentlich unter dem kleinen Mangel, dass Referat und Stimme des Vf.s nicht immer klar unterschieden sind, dass eine Bibliographie der im Buch angeführten vielen Veröffentlichungen hilfreich gewesen wäre, und dass der Vf. mit seinem kritischen Eros zuweilen nach seiner Meinung unbewältigte Differenzen aus Texten herausliest, die ein solches Urteil nicht hergeben (z. B. Kap. 4 in "Kirche und Rechtfertigung"). Natürlich werden auch die Interpretationen dieses engagierten ökumenischen Theologen Rückfragen und Kritik provozieren - das wäre nicht das geringste Verdienst dieses Buches. Es ist ein an Material and Gedanken reiches Buch, das mit der Fülle seiner Überblicke, historischen Verweise, sachlichen und methodologischen Klärungen und der durchgehenden "Vernetzung" der Themen und Fragen einen umfassend angelegten, von einem wachen kritischen Geist aus einer profunden lutherisch-reformatorischen Überzeugung heraus konzipierten wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen ökumenischen Diskussion vorlegt.