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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

974–976

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Röhrig, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht mit geistig-behinderten Schülern - aber wie? Perspektivwechsel zu einer subjektorientierten Religionsdidaktik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. X, 249 S. m. 12 Abb. 8. Kart. DM 49,80. ISBN 3-7887-1763-7.

Rezensent:

Gottfried Adam

Der Untertitel macht deutlich, dass eine gegenwärtig wichtige Fragestellung auf den Bereich der Didaktik des Religionsunterrichts (=RU) mit geistig behinderten Schülern und Schülerinnen angewandt wird. Gegenüber einer Objekt-Stellung der Kinder will der Autor einen anderen Zugang herausarbeiten, "der auch in schwer geistig behinderten Schülern kompetente, autonome und entwicklungsoffene Menschen sieht. Diese andere Sichtweise soll durch die Verwendung des Begriffes ,subjektorientiert' angezeigt werden." (1) Der Vf. will die Anerkennung und Wertschätzung individueller Lebenszugänge und Wirklichkeitskonstruktionen herausarbeiten, demgemäß auch ein Verhalten, das auf den ersten Blick sinnlos erscheint, als sinnvoll anzusehen ist. Mit Hilfe eines systemisch-christlichen Menschenbildes soll ein primär kognitiv orientiertes theologisches Menschenbild überwunden werden.

In Kap. 1 eröffnet der Vf. mit der Skizze einer Unterrichtseinheit mit dem Schüler Michael zunächst den Zugang zur Unterrichtswirklichkeit. In Kap. 2 legt er als seine methodische Zugangsweise die geisteswissenschaftliche Pädagogik und den hermeneutisch-pragmatischen Ansatz offen. Seine grundlegende Fragestellung lautet: "Wie muß ein RU angelegt sein, damit schwer geistig behinderte Schüler das Evangelium vernehmen [können]?" (20).

Der Vf. hält die Frage nach dem Menschenbild für den Erziehungsprozess für grundlegend und sieht es in einem demokratischen Erziehungssystem als notwendig an, dass die Sichtweisen der Menschen offengelegt werden. Der Mensch brauche Menschenbilder für sein Handeln. Die Pädagogische Anthropologie mache uns auf die Relativität von Menschenbildern aufmerksam und führe zur Einsicht, dass nur offene Menschenbilder dem Menschen gerecht würden. (30). Das rational-technologische, das utilitaristische und das systemisch-ökologische Menschenbild werden als geschlossene Menschenbilder analysiert, während das christliche Menschenbild durch Offenheit gekennzeichnet sei. Dies wird dann an den Schöpfungsaussagen des Alten Testaments und an den neutestamentlichen Aussagen zur Rechtfertigung des Menschen durch Gott herausgearbeitet. Die damit gegebene Gleichrangig- und Gleichwertigkeit aller Menschen ist Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen.

Kap. 4 behandelt dann die Frage, was mit geistiger Behinderung bezeichnet wird. Dies geschieht im Gespräch mit gegenwärtig relevanten Ansätzen in der Geistigbehindertenpädagogik (Wagner, Fornefeld, Kleinbach, Feuser, Speck u. a.). Die theoretischen Überlegungen werden immer wieder rückgekoppelt an den konkreten Schüler Michael (s. Kap. 1).

Kap. 5 zeigt auf, wie sich ein Perspektivenwechsel in der Religionspädagogik zu vollziehen begonnen hat. Im folgenden Kapitel schließt sich ein problembezogener Durchgang durch die religionspädagogischen Fachdidaktiken vom 18. Jh. bis heute an. Das ist instruktiv, aber jeweils relativ knapp. Eine Auswahl und schwerpunktmäßige Behandlung hätten möglicherweise etwas erhellender sein können. In Kap. 7 wird dann das Konzept des subjektorientierten RU erkenntnistheoretisch, theologisch, pädagogisch-anthropologisch, gesellschaftlich, didaktisch und juristisch entfaltet. Hier wird vor allem auch die Frage des Verhältnisses Lehrer, Schüler und Bibel thematisiert und schließlich nach dem Stellenwert von Curricula und Zielen gefragt.

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1998/99 an der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln als Dissertation angenommen. Die Arbeit stellt einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt für die Religionsdidaktik für und mit geistig behinderten Schülern und Schülerinnen dar. Es wird eine zentrale pädagogische Fragestellung aufgenommen und im Blick auf den religiösen Bereich in wissenschaftlich reflektierter Weise bearbeitet. Auch wenn sich die Frage der Autonomie schwerstbehinderter Schüler und Schülerinnen auf Grund ihrer spezifischen Situation lebenslanger Angewiesenheit, so dass die Bezugspersonen für sie fallweise auch Entscheidungen stellvertretend treffen müssen, noch einmal in besonderer Zuspitzung stellt, ist es ein wichtiger Impuls, dass es keine Sonderanthropologie und keine grundsätzliche Ausgrenzung in pädagogischer Hinsicht geben kann und darf.

Die vorgelegte Arbeit ist die jüngste Untersuchung zur Frage religiöser Bildung von geistig behinderten Schülern und Schülerinnen. Sie sorgt für den Anschluss der entsprechenden Fachdidaktik an die gegenwärtige pädagogische Diskussion und macht zu Recht zentrale anthropologische Grundaussagen der Theologie für diesen Bereich fruchtbar. Die Untersuchung verdient die Aufmerksamkeit und Lektüre aller Personen, die im Bereich religionspädagogischen Handelns - in theoretischer Reflexion wie praktischer Arbeit - mit geistig behinderten Kindern zu tun haben.