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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

964–966

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Scharf, Uwe Carsten

Titel/Untertitel:

The Paradoxical Breakthrough of Revelation. Interpreting the Divine-Human Interplay in Paul Tillich's Work 1913-1964.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XVII, 478 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 83. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-015577-X.

Rezensent:

Gunther Wenz

Lange vor seiner in den 50er und 60er Jahren des 20. Jh.s zunächst in englischer Sprache, dann in deutscher Übersetzung erschienenen dreibändigen Systematischen Theologie hat Paul Tillich (1886-1965) in einem wahrscheinlich zwischen Sommer und Jahresende 1913 entstandenen Manuskript Grundlinien seines Gedankensystems konzipiert. Der Text ist 1998 in Band IX der Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich zusammen mit anderen frühen Werken, insbesondere seiner Habilitationsschrift zum Begriff des Übernatürlichen von 1915 von Gert Hummel und Doris Lax kritisch ediert worden. In einem Appendix (333-478) seiner mit einem Vorwort Langdon Gilkeys versehenen Dissertation hat der Vf. eine englische Übersetzung der Systematischen Theologie von 1913 vorgelegt, die auf den Vorarbeiten von Hummel und Lax basiert. Zugleich bilden der frühe Tillichtext und insbesondere das dort entfaltete Verständnis des Paradoxprinzipis den Ausgangspunkt von Sch.s Interpretation der Tillichschen Offenbarungstheologie und Theorie des differenzierten Zusammenhangs von Gott und Mensch.

Tillichs Systematische Theologie von 1913 besteht aus drei Teilen: aus einem begründenden, der Apologetik, einem entwickelnden, der Dogmatik, und einem durchführenden Teil, der Ethik. Im 22 der Apologetik wird der Begriff des Paradoxes, welcher den Standpunkt der christlichen Religion und ihrer Theologie bezeichnen soll, im Sinne zugleich begriffstranszendenter wie -immanenter Identität des Absoluten mit einem bestimmten Relativen umschrieben. Die Realisationsgestalt des Paradoxen, welche die Dogmatik zu bedenken hat, ist die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, deren Skopus Kreuz und Auferstehung markieren. Im auferstandenen Gekreuzigten ist das theologische Prinzip verwirklicht und der Zusammenhang nicht synthetisierbarer Differenz von Gott und Mensch als paradoxale Einheit von Einheit und Unterschiedenheit offenbar. Dieses Offenbarungsgeschehen, dessen in der Kraft des göttlichen Geistes statthabende religiös-sittliche Explikation in der Menschheitsgeschichte die Ethik thematisiert, lässt sich nach Tillich analog zum Paradoxbegriff als ein Durchbruchsgeschehen beschreiben, mit welchem das Relative durch das Absolute in seiner bedingten Form zugleich negiert und mit unbedingtem Gehalt versehen wird. Sch. zeigt, dass "Concept of Paradox" und "Concept of Breakthrough" in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Sowenig das Paradox einen kontradiktorischen Gegensatz meint, sowenig bedeutet der Durchbruch der Offenbarung des Unendlichen ein Zerbrechen des Endlichen. Der Vollzug der Offenbarung lässt sich vielmehr als ein Prozess der Aufhebung erfassen: Erstens wird das in sich verkehrte, rein durch sich selbst und seinen Gegensatz zum Unendlichen bestimmte Endliche negiert. Diese Negation erledigt indes nicht das Endliche als Endliches, um es im Unendlichen zum Verschwinden zu bringen. Im Offenbarungsvollzug wird vielmehr zweitens das Endliche zugleich bewahrt, um drittens über sich selbst erhoben und mittels solcher Selbsttranszendenz zu seiner eigenen Unendlichkeitsbestimmung geführt zu werden. Im Unterschied zu Hegel freilich lässt sich die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen nicht im absoluten Begriff vollenden, sondern vollzieht sich im Modus der Religion, deren paradoxalem Charakter als Durchbrechungsphänomen die Theologie zu entsprechen hat.

Es ist das Verdienst der Arbeit, das durch die Wendungen ,Paradox' und ,Durchbruch' gekennzeichnete Konzept der Offenbarung und des gottmenschlichen Verhältnisses von den Anfängen Tillichs bis zu den Entwürfen seiner Spätzeit detailliert und in Beachtung diverser Modifikationen analysiert zu haben. Ein erster Teil (1-142: The Divine-Human Interplay of Revelation Expressed in Paradox and Breakthrough) behandelt nach einer knappen Einführung und Erörterungen zur Systematischen Theologie von 1913 die in Affirmation und Kritik vollzogene Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie in den zwanziger Jahren bis zum Erscheinen der sog. Marburger Dogmatik von 1925. Ein zweiter Teil (143-292: The Rise and Fall of the Concept of Breakthrough in 39 Writings of Tillich's Theological Development 1919-1964) thematisiert seinem Titel gemäß Tillichs offenbarungstheologisches Durchbruchskonzept, wobei zunächst eine terminologisch gehäufte Verwendung zu konstatieren ist, wohingegen in späteren Jahren das Wortfeld "Durchbruch/durchbrechen" nur noch vergleichsweise selten vorkommt. Ein dritter und abschließender Teil fasst den Ertrag der Analyse zusammen (293-319: The History of "Breakthrough" and "Paradox" in Summary and Review) und versucht, Tillichs Ansatz zu aktualisieren, wobei u. a. dem Symboldenken besondere Aufmerksamkeit zukommt.

Das Symbolische ist nach Tillich nicht nur kennzeichnend für die Sprache der Religion, sondern auch für theologisches Denken. Damit bestätigt sich, ohne dass in diesem Zusammenhang von Symbol bereits explizit die Rede wäre, eine schon für die Systematische Theologie von 1913 charakteristische Grundannahme, nämlich dass das theologische System selbst unter das Paradox zu treten hat, das von ihm begründet und durchgeführt wird. Auch im wissenschaftlichen System der Theologie kommt die durch den Durchbruch der Offenbarung motivierte religiöse Transzendierungsbewegung nicht zum Stillstand. Vielmehr ist deren Verhältnis zur Wissenschaft und zu sich selbst als Wissenschaft ein einiger und differenzierter Zusammenhang zugleich und durch beständigen Ausgang und Eingang bestimmt: "in dem Gelingen dieser doppelten Bewegung", sagt Tillich, muss die Theologie "den Beweis ihrer systematischen Vollendung (er)bringen" (Paul Tillich, Frühe Werke. Hrsg. von G. Hummel u. D. Lax, Berlin/New York 1998, 425).