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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1014–1016

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Leuser, Claudia

Titel/Untertitel:

Theologie und Anthropologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts bei Johann Gottfried Herder.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 472 S. 8 = Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie, 19. Kart. DM 118,-. ISBN 3-631-30388-2/ISSN 0179-4566.

Rezensent:

Thomas Zippert

Leusers Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg als Dissertation angenommen.

Ihre Ausgangsthese ist klar: Die "erfolgreiche Bewältigung" der gegenwärtigen Krisen (Umweltzerstörung, Gewaltpotential) "setzt eine universale, den Menschen ganzheitlich erfassende ,Erziehung des Menschengeschlechts’ voraus, wie sie von Johann Gottfried Herder im Kontext seiner Theologie konzipiert wurde". Denn aus theologischer Perspektive halte Herder an einem Verständnis von Erziehung fest, das den Menschen auf "die Geschichte als dem Ort seiner persönlichen Selbstverwirklichung in Verantwortung vor Gott und im verantwortungsbewußten, kreativen Umgang mit allen Mitgeschöpfen" verweise (17). Für sie wird Erziehung zum Schlüsselbegriff, der Theologie und Anthropologie miteinander verbindet, so daß jedes erzieherische Wirken hin auf Selbstverwirklichung und Solidarität "zu einem wichtigen Ort der Theologie und ihrer Praxis" wird (398). Ebenso überwinde er die durch Ausklammerung der Frage nach Schuld und Verantwortung entstandenen Engführungen der modernen Anthropologie hin auf eine wahrhaft ganzheitliche Anthropologie, die der "Menschwerdung des Menschen" diene (399).

In drei Schritten kommt sie zu diesem Ergebnis. Im ersten Teil ihrer Arbeit stellt sie im problemgeschichtlichen Überblick die philosophische Anthropologie in Geschichte und Gegenwart sowie die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion dar. Letztere habe das Bewußtsein für die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit des Menschen verschärft. Aber erst die theologische Anthropologie könne ein "übergeordnetes Prinzip" zur Integration "vieler Teilerkenntnisse zu einem funktionalen Ganzen" liefern (72). Dazu müsse die wissenschaftstheoretische Diskussion auch innerhalb der Theologie vorangetrieben werden, so daß die "theologische Anthropologie Herders als ein in den Grundzügen heute noch gültiges Paradigma einer ganzheitlichen Anthropologie" dargestellt werden könne (74 f.).

Im zweiten Teil legt sie nach referierenden Passagen zur Theologiegeschichte der Aufklärung und zu Herders Biographie dar, wie er "genau diese theologische Dimension [sc. der Anthropologie, Anm. T. Z.] im Kontext der Popularphilosophie seiner Zeit neu entdeckt und die ,Anthropologie Gottes’ zur Grundlage seines umfassenden Konzeptes einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechtes macht" (86). Dazu interpretiert sie zunächst einige seiner Frühschriften, die sie unter thematischen Gesichtspunkten ausgewählt hat. Im Zyklus fast aller von 1774-78 entstandenen Schriften habe Herder dann mit Hilfe seines Offenbarungsbegriffes eine theologische Anthropologie vom ganzen Menschen entfaltet. Besondere Beachtung verdient ihr Augenmerk auf Herders Christologie als "Modell geglückten Menschseins" (185-200) und die Analyse der drei Versionen von "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele". L. betont zu Recht die Nähe seiner erkenntnistheoretischen Auffassungen zu denen der neueren ,evolutionären Erkenntnislehre’ (431, A. 308). Zugleich ermögliche es diese Anthropologie "der in Christus vollendeten Gottebenbildlichkeit des Menschen, ... Freiheit für alle Menschen einzufordern, ohne diese aus ihrer Verantwortung für ihre Mitgeschöpfe und für den gesamten Kosmos zu entlassen" (240 f.). "Analog zum Vorbild Jesu Christi, [werden] Identität und Solidarität untrennbar miteinander verknüpft; beide gemeinsam machen das Ideal der Humanität, der göttlichen [Hervorhebung im Text] Bestimmung des Menschen im Sinne Herders, aus". Die Geschichte wird dadurch Bedingung der Möglichkeit, Ort und Folge der je individuell aufgegebenen Selbstverwirklichung (Erziehung zur Menschwerdung), auf die sich jeder "fühlend, erkennend, handelnd" einzulassen habe (241).

Der dritte Teil der Arbeit stellt dieses Konzept auf die "Bewährungsprobe". Die Auseinandersetzungen mit Kant und Goethe in Herders Spätschriften werden folgerichtig als Kampf gegen (auch heute noch virulente) Verabsolutierungen von jeweils einer dieser beiden Grunddimensionen entwickelt: nämlich als Kampf gegen die Selbstverwirklichung einer autonom und ungeschichtlich gedachten Vernunft (Kant) bzw. "naturphilosophisch begründete[r], pantheistisch-monistische[r]" Einordnung des Menschen in die entwicklungsgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten (Goethe, 382).

Der Autorin ist darin zuzustimmen, daß Herders Anthropologie und Geschichtsphilosophie auch theologisch, und zwar offenbarungs- und schöpfungstheologisch, begründet sind. Das zeigen die Bückeburger ebenso wie die Spätschriften unmißverständlich in ihrem Gesamtzusammenhang (155 ff.). Es ist das Verdienst von L., dies einer Herderforschung, die die theologische Dimension im Werk Herders oft ausblendet, wieder ins Gedächtnis zu rufen und breit an Schriften und Briefen Herders zu belegen.

Allerdings ist das Begründungsverhältnis von theologischen, philosophischen und praktischen Theorieelementen komplizierter, als es bei L. den Anschein hat. Denn die konkrete Gestalt seiner offenbarungstheologischen Begründung greift ihrerseits formal und inhaltlich auf eine metaphysische Rahmentheorie zurück, die Herder vor allem in Entwürfen der Reisezeit entwickelt hat ("Reisejournal", "Zum Sinn des Gefühls", "Plastik" und Vorentwürfe, schon 1764 der "Versuch über das Sein"). L. nimmt sie erst in einer späten Gestalt zur Kenntnis (230 ff., "Über die dem Menschen angeborne Lüge", "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele"). Ob er seine Ontologie der Kräfte (samt "göttlicher Urkraft") zum Prinzip der Theologie macht oder sie selbst zurecht nur als Nachbuchstabieren des göttlichen Offenbarungshandelns in Schöpfung und Geschichte ("Philosophie aus der Bibel") versteht, wird in der Herderforschung umstritten bleiben. Weil diese genetischen Zusammenhänge und sachlichen Probleme nicht hinreichend sorgfältig beachtet wurden, ist es nicht unproblematisch, Herder zum Paradigma einer theologischen Anthropologie zu machen. Unbestritten bleibt die paradigmatische Weite, Konkretheit und Ganzheitlichkeit seiner - sagen wir es offener: theologisch-philosophisch gemischten Anthropologie.

Vielleicht wird man L.s Arbeit - und so Herders ureigenem Interesse an gegenwartsbezogener "Erziehung des Menschengeschlechts" - eher gerecht, wenn man sie weniger als historische Studie zur (theologischen) Herderforschung denn als katholischen Beitrag zu gegenwärtigen Problemen der Anthropologie in pädagogisch-theologischer Perspektive würdigt. Dann aber ist es für mich nicht ganz konsequent, warum Herders konkrete Bildungspraxis in Riga, Bückeburg und Weimar nur am Rande untersucht und nicht an ihren eigenen Ansprüchen gemessen wird. Bildung bzw. "Erziehung des Menschengeschlechts" ist für Herder ja nicht nur ein Theorem, sondern immer auch konkret geübte und immer wieder reflektierte Berufspraxis als Prediger, Lehrer und philosophierender Schriftsteller. Für eine theologisch verantwortete Erziehungs-, besser: Bildungspraxis wäre es enorm wichtig zu untersuchen, ob und wie Herders Bemühungen tatsächlich bildend gewirkt haben bzw. warum sie dies taten oder unter gegebenen Umständen nicht konnten. Eine reine begriffliche Verknüpfung auseinanderstrebender Dimensionen der Anthropologie ist zwar notwendige Voraussetzung, aber selbst noch keine Erziehung des heutigen Menschengeschlechts.

Eine Anmerkung zum Schluß: Ein ganzer Zweig theologischer Herderforschung wird nicht berücksichtigt, obwohl der Mangel an theologischer Herderforschung beklagt wird (416, Anm.,1; vgl. z. B. die Forschungen von C. Bultmann, E. Herms, M. F. Müller, R. Smend, S. Sunnus, Th. Zippert; ebenso wird die ausführlich kommentierte, seit 1985 [!] im Erscheinen begriffene Herderausgabe des Deutschen Klassiker Verlages nicht erwähnt).