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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

954–959

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald

Titel/Untertitel:

Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XII, 333 S. 8. DM 68,-. ISBN 3-16-147163-6.

Rezensent:

Jan Bauke-Ruegg

(1) Die Stichworte "Theopoesie" und "Theopoetik" sind im gegenwärtigen theologischen Diskurs en vogue. Im Anschluss an das von Kurt Marti und Dorothee Sölle in die Diskussion eingeschleuste Kunstwort1 bemühen sich so u. a. Karl-Josef Kuschel und Henning Schröer in eher fundamentaltheologisch und theologieästhetisch ausgerichteten Arbeiten um eine Theo- oder Christopoetik resp. Theopoesie2. Stärker auf strikte systematisch-theologische, sprich: materialdogmatische Fragestellungen hin fokussiert ist der Ansatz einer "poietologischen Theologie", den der Tübinger Systematiker Oswald Bayer seit geraumer Zeit propagiert und nun in seinem neuesten Buch "Gott als Autor" ausführlicher vorstellt.

Programmatisch für des Vf.s Projekt einer "poietologischen Theologie" ist der dem Band als Einführung vorangestellte Aufsatz "Poietologische Theologie" (1-18), den der Vf. unter z. T. leicht geändertem Titel an anderen Orten bereits mehrfach publiziert hat.3 Als "poietologische Theologie" bezeichnet der Vf. darin eine Theologie, die ihre Aufmerksamkeit auf den Doppelsinn des Gottestitels des nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses richtet: pisteuomen eis ena theon patesa pastokratora, poieten ouranou kai ges richtet (V. 2. 12.18.30 f.144.246.250.267) - Gott also nicht als Ursache (causa sui), sondern als Urheber (autor und poietes) bedenkt (V. 37), der "tut, was er sagt, und sagt, was er tut" (2). Der Gottestitel des "Poeten" steht somit sowohl für die "Sprachlichkeit der Allmacht Gottes" (2) als auch für die "Identität von Gottes Reden und Gottes Handeln" (2; vgl. auch 144). In diesem Sinne liegt der "poietologischen Theologie" immer auch eine "Aufmerksamkeit auf eine Theologie als Schöpfung" (1) zugrunde, mit der der Vf. seine eindrücklichen schöpfungstheologischen Erwägungen aus "Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung" (1986, 21990) weiterführt. Seinen eigentlichen Fokus findet Gottes poietisches Schöpfungswerk und -wort hier wie dort in Gottes Treue und Verlässlichkeit: "Sein Werk - als poiesis - ist die in Treue zugesagte Welt, durch die er uns anredet. Daher ist seine poiesis eine Poesie des Versprechens" (18; vgl. auch 3.157). Im Gottestitel "Poet" verschränken und interpretieren sich so Gottes Allmacht, Schöpfersein, Offenbarung und Treue wechselseitig, ein deutliches Signal dafür, dass Gottes "Eigenschaften" und "Handlungen" nur um den Preis theologischer Verkürzungen isoliert thematisiert werden können.

Gottes "Poiesis des Versprechens" darf freilich nicht im Sinne eines (neuen) "theologischen Einheitsprinzip[s]" (18; vgl. auch 263) verstanden werden. Sie gibt vielmehr einen Zeitenbruch zu denken (273), der durch "unseren Widerspruch gegen Gottes Poesie des Versprechens" (18; vgl. 196) verschuldet ist, eine eigentliche Verschränkung der Zeiten (vgl. dazu insbesondere die Predigtmeditation zu Röm 8,18-25 [187-197]), die uns "Letztbegründungen versagt" (6). Statt des Versuchs von Letztbegründungen zeichnet sich die vom Vf. vorgeschlagene "poietologische Theologie" daher (a) zunächst durch ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen poetischen Sprachformen des christlichen Glaubens aus (143), die auf das Versprechen Gottes Bezug nehmen (wie Lob, Hymnus, Bekenntnis, Klage und Bitte [12], aber auch Fluch [65-72] und Zweifel [97-111]).

An den Fragen der Schöpfungslehre (13), der Soteriologie (13 f.), der Eschatologie (16 f.; vgl. auch 172-186.205), insbesondere aber der Trinitätslehre (14-16.142-148), die sich im beobachtenden und reflektierenden Bezug auf poetische Primärtexte des christlichen Glaubens bildet und die innertrinitarischen und heilsökonomischen Verhältnisse "im Sinne des elementaren Gott Kündens" (144) poetisch aussagt, also reflektiert, dass und wie poetische Sprachformen unabdingbar nötig sind, um die Identität von Gottes Reden und Handeln trinitarisch auszusagen, zeigt der Vf. exemplarisch und knapp, wie die poietologische Ausrichtung der Theologie zu bestimmten materialdogmatischen Entscheidungen führt (18). Der Vf. konkretisiert das exemplarisch an Luthers Lied "Nun freut euch, lieben Christen g'mein" (112-127; vgl. auch 13-16.143-148), "das die Errettung aus Sünde, Tod und Hölle, aus der Gottesferne, dem Gotteshaß besingt" (13) und gerade so deutlich macht, so die These, dass die Trinitätslehre "nichts anderes als das Evangelium" (144) bedenkt. Das aber hat (u. a.) Folgen für das Verhältnis Gottes zur Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium (vgl. dazu 14.62.77.162 f.265.271.276 u. ö.). "Wer bekennt, daß der, der im Gesetz gegen mich spricht, und der, der im Evangelium für mich spricht, ja für mich eintritt, einer und derselbe ist, sagt das Paradox eines Wunders" (145; vgl. auch 129) und weist damit zugleich auf einen scharfen Bruch zwischen jenem Gott, mit dem es der Mensch auch noch in seiner Abwendung von Gott zu tun hat, und dem Gott des Evangeliums, den die Trinitätslehre bedenkt, hin. Für den Vf. ist es daher "unumgänglich, von der Trinitätslehre eine 'allgemeine' Gotteslehre und Anthropologie zu unterscheiden" (15.145), also jene allgemeine Allmacht Gottes, dank derer Gott "alles in allem wirkt" (15.146 f.150-152.198), nicht trinitätstheologisch zu begreifen (15.147).

Die "poietologische Theologie" zeichnet sich zweitens (b) durch einen eigenen Rationalitätstyp aus, der für den Vf. in Abgrenzung zu und Unterscheidung von den logischen Urteilsformen Kants durch eine kommunikative Urteilsform (9) geprägt ist. Als "Autor" resp. "Poet" ist Gott "Kommunikationsmacht", die den Menschen anredet (24.135.174.223.267.277 f. u. ö.) und "zur Kommunikation ermächtigt" (8; vgl. auch 1). Ohne diesen Sprechakt Gottes wäre und bliebe der Mensch sprachlos, ohne Sprache aber, so der Vf. mit Hamann, "hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion, und ohne diese drei wesentliche[n] Bestandteile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft" (9). Signifikant für eine "poietologische Theologie" ist daher ein zeitliches Wahrheitsverständnis sowie ein dreigliedriger Wissenschaftsbegriff (10), der den rationalen Bereich der Philosophie von den eher narrativen Bereichen der Historie und Poesie unterscheidet, aber nicht isoliert und die "konstitutive Bedeutung der Poesie für eine Ortsbestimmung der Theologie zwischen Metaphysik und Mythologie wahrzunehmen erlaubt" (18; vgl. auch 12.144).

Die enzyklopädischen Distinktionen stellen freilich vor das terminologische Problem, dass im Titel "poietologische Theologie" ein Attribut, das eine der drei Dimensionen des dreigliedrigen Wissenschaftsbegriffs bezeichnet, für das Gesamtverständnis der Wissenschaft resp. Theologie - die Unterscheidung zwischen Wissenschaft im allgemeinen Sinn und Theologie als einer spezifischen Wissenschaft bleibt an dieser Stelle unscharf - verwendet werden soll. Der Vf. weist darauf hin, dass das, was im vorliegenden Buch unter dem Titel einer "poietologischen Theologie" zur Diskussion gestellt wird, an anderer Stelle bereits unter dem Titel einer "Wissenschaft der ,Geschichte'" (12) vorgestellt wurde. Die Hervorhebung des "Poietologischen" habe vor allem diskussionsstrategische Gründe: "Gegenüber dem nicht zuletzt in der systematischen Theologie vorherrschenden Erbe der Metaphysik, die das Denken von der Poesie ... scheidet, gilt es ... neu der konstitutiven Bedeutung der Poesie innezuwerden und in diesem Zusammenhang den Ort der Theologie zwischen Metaphysik und Mythologie ... wahrzunehmen" (12). Zumindest unterschwellig markiert dieser Hinweis eine eigentümliche Spannung in der "poietologischen Theologie" des Vf.s., wirft zumindest die Frage auf, ob das "Poetische" für die theologische Reflexion tatsächlich nur einen strategischen Stellenwert besitzt, oder ob es bestimmte (theologische) Vorstellungen gibt, die nur poetisch resp. mit Rekurs auf poetische Texte zur Sprache gebracht werden können. Ist das Poetische also nur akzidentiell für die Theologie oder konstitutiv?

(2) Im vorliegenden Band gruppiert der Vf. zweiundzwanzig bereits anderweitig und separat veröffentlichte Aufsätze um das Projekt einer "poietologischen Theologie" in die drei Blöcke "Lebensgeschichten" (19-94), "Gott im Wort" (95-205) und "Wort und Geist" (207-301), verzahnt dabei die einzelnen Beiträge aber derart häufig in- und miteinander (37.61.69.84.85.115.126.127.143.145.146.156.165.186.193.198.199.215.217. 222.223.233.239.270.273.294 u. ö.), dass ein zwar filigranes, aber abgerundetes Mosaik entsteht, in dem letztlich alle Beiträge einen inneren Bezug zur Fragestellung einer "poietologischen Theologie" haben. Der explizite Bezug auf poetische Sprachformen und Texte des christlichen Glaubens ist freilich auf den ersten Blick vor allem in Aufsätzen über Johann Georg Hamann (21-40.240-254), Jochen Klepper (41-50.51-64; vgl. auch 217f. 221), Johannes Bobrowskis Hamann-Rezeption (86-94) und Martin Luthers Lied "Nun freut euch, lieben Christen g'mein" (112-127; vgl. auch 13-16.143-148) zu erkennen, in denen der Vf. seine eigene Aufmerksamkeit auf poetische Elemente des christlichen Glaubens (vgl. auch 133-135.169) unter Beweis stellt.

In einem ersten Aufsatz über Johann Georg Hamann zeichnet der Vf. anhand Hamanns "Gedanken über meinen Lebenslauf" nach, was es für eine theologische Anthropologie heißt, dass "Gott der Autor meiner Lebensgeschichte ist" (24; vgl. auch 48) und sich Gottes- und Selbsterkenntnis im Wortwechsel zwischen Gott und Mensch ereignen (24). Dem individuellen "Lebenslauf" Hamanns kommt von seiner Struktur her allgemeine Bedeutung zu, weil und insofern er zeigt, dass und wie das menschliche Ich "nicht akzidentiell auch eine Geschichte hat, sondern durch und durch Geschichte ist" (27), ja geradezu in Geschichten verstrickt ist (28.33.52). Im Falle Hamanns sind dies die biblischen Geschichten, also jene Geschichten, in die sich Gott als Poet selbst begeben hat (30 f.). Indem Hamann seine eigene Lebensgeschichte "als Geschichte Israels en miniature versteht" (32; vgl. auch 211.225), kommt es zur Wende ("Bekehrung") in Hamanns Leben (26 f.28 f.). Diese Wende ist freilich "keine Applikationsleistung" (36) des menschlichen Ich. "Die Bibel so zu verstehen, daß ich dabei selbst ausgelegt und verändert ... werde, ist das Werk Gottes ... So bleibt Gott als der Ausleger meiner Lebensgeschichte deren Autor, der er von vornherein ist" (37; vgl. auch 27). "Er erzählt mich, er schreibt meine Lebensgeschichte und rezensiert sie auch" (267).

Dass der Vf. damit keiner theologia gloriae das Wort reden will (vgl. 258), die meint, Gott bei seiner Schriftstellerei gleichsam über die Schulter schauen zu können, machen die Aufsätze über Jochen Klepper und Johannes Bobrowski deutlich. So will insbesondere Klepper, der angesichts der Erfahrung der Verborgenheit Gottes sogar Hamanns Satz "Gott ein Schriftsteller!" (31) in den Satz "Gott ist kein Schriftsteller" (42 Anm. 4) umkehren kann, Gott selbst ausreden lassen. Dichtung ist für Klepper daher nur möglich als ein Nachbuchstabieren der Worte und Buchstaben Gottes (vgl. 215.253), alle Dichtung dem korrelierend am Wort Gottes zu messen (45). Letztlich wird Dichtung damit zur Schriftauslegung (45), auch dort, wo sie ein Menschenleben (nach)erzählt (46), der Beruf des Dichters zum "Dienst am Wort" (50). Dass Gottes und nicht des Dichters Rede entscheidend ist, zeigt der Vf. auch in seiner subtilen Auslegung von Johannes Bobrowskis (1917-1965) "Epilog auf Hamann" (86-94), ein aus Hamann-Texten gewobener Flickteppich (Cento), der seinerseits Zitate, insbesondere aus den Psalmen, bietet (89). Hamann rekurriert dabei vor allem auf Ps 88 - der einzige Psalm im Psalter, der von keiner Erhörung und Errettung berichtet - und bringt mit diesem Rekurs zum Ausdruck, dass die Vollmacht zu schreiben oder zu reden keine Selbstverständlichkeit ist (90). Insbesondere in einer Zeit, in der sich der Atheismus ausbreitet, ist hektische theologische Vielrednerei kaum das geeignete Mittel, dem scheinbaren Schweigen Gottes beizukommen (91). Im Gegenteil: Der Vf. bezeichnet gerade die Stille als eine "lebendige Stille", in der "Gott der Schöpfer selbst zu Wort kommt" (91) oder anders gesagt: ein "rechtfertigungstheologisch pointiertes Schweigen" (91), das darum weiß, dass Gottes Wort keine Dutzendware ist. "Es stellt sich ein - oder auch nicht. Es läßt sich nicht erzwingen, sondern steht in der Freiheit dessen, der es ergehen läßt, der es sendet" (92).

"Die Leistungsfähigkeit einer poietologischen Theologie" hat sich, so der Vf. im Aufsatz "Erzählung und Erklärung. Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften" (240-254), "im Versuch einer Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft zu erweisen" (240). Denn die Theologie nimmt ihr "Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer [poietes, J. B.] Himmels und der Erde" (240; vgl. 246.250) nur dann wirklich ernst, wenn sie ihren Bezug zu den Naturwissenschaften wahrnimmt und reflektiert. Die Metapher "Gott als Poet" nötigt Theologie somit zum interdisziplinären Gespräch mit den Naturwissenschaften. Der Vf. rekurriert dazu auf die Kontroverse zwischen Hamann und Kant um das gescheiterte Projekt einer "Kinderphysik" (241 f.) und gewinnt aus Hamanns Argumentation - Ver-Antwortung setzt personale Anrede voraus - die theologische These, dass die göttliche Anrede "Ich bin der Herr, dein Gott" (vgl. 172.173.267) das unhintergehbare historische Apriori - "apriorisch zufällig, aposteriorisch aber notwendig" (243; vgl. auch 274.300) - jeglicher menschlichen Geistes- und Forschungstätigkeit darstellt. "Ein auf solche Weise promissional verfaßtes Apriori ist die Bedingung der Möglichkeit auch einer logischen, mathematischen und physikalischen Weltwahrnehmung" (244). Anders formuliert: "Keine naturwissenschaftliche 'Erklärung' ist ohne eine 'Erzählung'" (244; vgl. 248). Auch der naturwissenschaftliche Forscher bleibt als forschender Mensch ein Angeredeter, der in seinen vermeintlich allgemeingültigen Erklärungen immer an individuelle Erzählungen gebunden ist und in diesem Sinn geradezu dichten muss: "Ohne dichterische Einbildungskraft und ohne die Fäden eines Zusammenhangs, die diese Einbildungskraft findet und erfindet, geschieht nichts. In jedem Fall muß gedichtet, müssen Zusammenhänge gesponnen werden" (252). Auch Descartes und Kant, die diesen Aspekt ihres Werkes freilich nicht wahrhaben wollen, sind daher für Hamann Dichter, ohne damit eine romantische Poetisierung der Welt (253.193) - "kosmosfromme Naivität und ästhetische Verklärung der Natur" (254) sind durch die menschliche Sünde zerbrochen (271) - oder eine pauschale Verwerfung der Naturwissenschaften zu intendieren. Erklärung und Erzählung bleiben wechselseitig aufeinander bezogen: "Eine Erzählung ohne Erklärung wäre leer, eine Erklärung ohne Erzählung blind" (254). Die poietologische Reflexion des Verhältnisses zwischen Theologie und Naturwissenschaften zeigt so sowohl die wissenschaftstheoretischen bzw. enzyklopädischen Implikationen einer "poietologischen Theologie" als auch die Relativität naturwissenschaftlicher Erklärungen auf. Sie sind unabdingbar, bestehen aber nie absolut und allein für sich, sondern immer neben dem Bereich der Geschichte und der Poesie (250).

Einen zweiten Schwerpunkt des vorliegendes Bandes bilden (b) die Ausführungen zur Theologie Luthers und der Frage nach ihrer geistesgeschichtlichen Einordnung, insbesondere die Aufsätze "Das Wunder der Gottesgemeinschaft" (128-136), "Im Zeitenbruch" (149-160), "Lust am Wort" (221-229), "Geistgabe und Bildungsarbeit" (266-279) und "Das letzte Wort: die göttliche Aeneis" (280-301). Vor allem der letztgenannte Aufsatz über Luthers berühmte, in der Handschrift Georg Rörers als "sancta poemata" (288) charakterisierte letzte Notiz, in der der "Poet und Poetologe Luther" (288) die Bibel metaphorisch zur "göttlichen Aeneis" (vgl. auch 156.222) werden lässt, schlägt dabei explizit die Brücke zur Fragestellung einer "poietologischen Theologie". Der Vf. arbeitet heraus, wie zentral Luthers gleichsam testamentarische Reflexion über das (rechte) Verstehen der heiligen Schrift für Luthers gesamte Theologie ist (289 f.), und zeigt, dass das Verstehen der Schrift für Luther nie eine rein spekulativ-theoretische Angelegenheit meint. Weil die heilige Schrift nicht ein "papierenes Lesewort", sondern "eitel lebewort" (297; vgl. auch 226) ist, kann sie nicht bloß am Schreibtisch ausgelegt werden. Ihre Süße ist vielmehr in der Lebenserfahrung zu schmecken (288), will sagen: im "sinnlichen, leibhaften Umgang mit dem Text" (294). "Nicht Erfahrung als solche macht den Theologen zum Theologen, sondern die Erfahrung der Schrift" (298). Die Schrift erfahren aber heißt, von der Schrift selbst ausgelegt werden (298.270). Lebensweltlich gipfelt die "poietologische Theologie" so diesseits einer vita activa und contemplativa in der Einübung in die Kunst einer vita passiva (216 f.257; vgl. auch 102.105.229.273.277 f.297 f.).

(3) Auffallend an den ex- wie impliziten poietologischen Überlegungen des Vf.s ist die Betonung der Kategorie des Bruchs (5 f.14.16.18.28 f.34.69.77.102.115.129.138.145.149. 157.158.194.196.210), insbesondere jene Brüche und Übergänge, "denen sich jede systematische Theologie zu stellen hat: der Übergang von der geschaffenen zur gefallenen Welt, der Übergang von der gefallenen zur erlösten Welt, der Übergang von der schon erlösten, aber noch angefochtenen zur unangefochten erlösten Welt" (5). Oder noch einmal anders gesagt: "Die Theologie ist darin Theologie, daß sie den menschlichen Bildhaushalt im Zusammenhang jenes Geschehens bedenkt, in dem aus dem alten Menschen ein neuer Mensch wird" (34; vgl. dazu auch 16.26.34.139.181.194 f.197 u. ö.). Gerade das Achten und Aufmerken auf den Bruch resp. die Unterbrechung des Gewohnten und Vertrauten als des vermeintlich ausgeschlossenen Dritten markiert - einem bemerkenswerten Aufsatz Peter Handkes zufolge4 - jenen Ort, an dem sich Theologie und Poesie verschränken. In der Reflexion des Bruchs als einer Chiffre für das Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch findet die "poietologische Theologie" ihr eigentliches Sujet.

Neben den bereits erwähnten Bruchstellen wendet sich die "poietologische Theologie" vor allem der Bruchstelle zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem zu. Mit ihr ist u. a. jene Grenze markiert, an der Engel aufblitzen (233), die Hermeneuten und Vermittler zwischen diesen beiden Sphären sind. Der Vf. insistiert dabei darauf, dies die These seines schönen Aufsatzes "Engel sind Hermeneuten" (230-239), dass Engel nicht eine eigene Klasse von Geschöpfen sind (231) - etwa im Sinne körperloser Geistwesen -, sondern die konkrete Art und Weise der Gegenwart Gottes (230.238), eine im Wust der gegenwärtig uferlos zu werden drohenden Publikationen über Engel heilsame und wohltuende theologische Er-nüchterung der gegenwärtigen Engeleuphorie. Eine andere Bruchstelle der "poietologischen Theologie" kreist um den Bruch zwischen Reformation und Neuzeit. In "Der neuzeitliche Narziß" (73-85) thematisiert der Vf. vor allem das Problem des neuzeitlichen Subjektivismus, dessen Wille, sich mit sich selbst zusammenzuschließen, der Vf. als "Kurzschluß" (73; vgl. 69) bezeichnet, ohne damit die Neuzeit pauschal verdammen zu wollen (80). In großem Stile vollendet sich dieser neuzeitliche Subjektivismus in der spekulativen Philosophie Hegels und ihrer "Geschichte des Selbstbewußtseins als einer vollendeten Rückkehr des Geistes in sich selbst" (76). Narziss wird zur "Leitfigur" dieser Bewegung, weil sich das Ich in ihr - wie Narziss seinem Spiegelbild - nur noch selbst begegne (79). Den Bruch zwischen reformatorischer (Altprotestantismus) und neuzeitlicher (Neuprotestantismus) Theologie bestimmt der Vf. daher folgendermaßen: "Ein ganz und gar nichtnarzißtisches Ich wurde zu einem ganz und [korr.] gar narzißtischen" (78). Gegenüber der narzisstischen Identitätsphilosophie der Neuzeit zeichnet sich die nichtnarzisstische reformatorische Theologie Luthers so insbesondere durch die Widerspruchserfahrung des den Sünder richtenden Gesetzes, den Zuspruch des Evangeliums und den Ansturm der Verborgenheit Gottes (77; vgl. auch 15.64.159 u. ö.) aus. Im Widerfahrnis des Zuspruchs des Evangeliums ("pro me") wird der Sünder neu geschaffen und hat seine Identität in der "iustitia aliena" Christi bleibend - aber angefochten (72.152.158.271 f.) - außerhalb seiner selbst (78. 83.124.155). Damit wird das "reformatorische Verständnis der Stellvertretung Jesu Christi der rocher de bronze, an dem der Wille des neuzeitlichen Narziß zur Identität zerbricht" (83; vgl. auch 125).

Innerhalb der gegenwärtigen Diskussionen um das Verhältnis von Theologie und Literatur präsentiert sich des Vf.s Vorschlag einer "poietologischen Theologie" nicht als ein Versuch, Texte der Gegenwartsliteratur theologisch auszulegen, sondern als die Bemühung, die in der christlichen Tradition verankerten poetischen Strömungen wieder ins Gedächtnis theologischer Reflexion zu rufen. In diesem Sinne ist des Vf.s Buch das protestantische Pendant zu Alex Stocks vierbändiger "Poetischer Dogmatik"5, ein wichtiger Hinweis auf den poetischen Charakter der Theologie resp. den konstitutiven Charakter (theo-) poetischer Texte für die theologische Reflexion. Die eigentliche Leistung des Buches, und damit gelingt dem Vf. in der gegenwärtigen Debatte um die Frage des Verhältnisses von Glaube, Theologie, Poesie und Literatur ein echter Fortschritt der Diskussion, besteht freilich darin, dass der Rekurs auf (theo-)poetische Traditionen und Texte des christlichen Glaubens zu materialdogmatischen Konsequenzen nahezu aller dogmatischen Topoi und Themen führt. Dass sich z. T. auch andere materialdogmatische Konsequenzen ziehen ließen, schmälert diese Leistung keineswegs.

Fussnoten:

1) Vgl. dazu J. Bauke-Ruegg, Theologische Poetik und literarische Theologie? Systematisch-theologische Streifzüge im Spannungsfeld "Theologie und Literatur", Habil. Zürich 2000, 5-7.

2) K.-J. Kuschel, Theopoetik. Auf dem Weg zu einer Stillehre des Redens von Gott, Christus und dem Menschen, in: P. Reifenberg (Hg.), Gott - das bleibende Geheimnis (FS W. Seidel), Würzburg 1996, 227-254; ders., Christopoetik. Spurensuche in der Literatur der Gegenwart, in: ThGl 85, 1995, 499-517; H. Schröer, Theo-Poesie, in: B. Beuscher/H. Schroeter/R. Sistermann (Hgg.), Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Kunst - Religion - Pädagogik (FS D. Zilleßen), Wien 1996, 83-91; H. Schröer/G. Fermor/H. Schroeter (Hgg.), Theopoesie. Theologie und Poesie in hermeneutischer Sicht (Hermeneutica; Bd. 7: Practica), Rheinbach-Merzbach 1998.

3) Erstveröffentlichung unter dem Titel "Poetologische Theologie? Zu einer Poesie des Versprechens" in: U. H. J. Körtner (Hg.), Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen. Ein Werkstattbericht (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht 2), Ludwigsfelde 1999, 21-46; in englischer Überset-zung ("Poetological Theology. New Horizons for Systematic Theology") in International Journal of Systematical Theology 1, (1999), 153-167; eine Vorform der Erstveröffentlichung unter dem Titel "Poetologische Theologie? Überlegungen zur Poesie des Versprechens", in: ThLZ 124, (1999), 3-14.

4) P. Handke, Kleiner Versuch über den Dritten, in: Ders., Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992 (st 2475), Frankfurt/M. 1995, 167-171.

5) Bislang erschienen sind: A. Stock, Poetische Dogmatik. Christologie. 1. Namen; 2. Schrift und Gesicht; 3. Leib und Leben; Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, 1996 und 1998; vgl. auch ders., Über die Idee einer poetischen Dogmatik, in: G. Larcher (Hg.), Gott-Bild. Gebrochen durch die Moderne? (FS K. M. Woschitz), Graz/Wien/Köln 1997, 118-128; abgedr. auch in: Körtner (Hg.), Poetologische Theologie (s. Anm. 3), 47-65.