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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

945 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Goez, E. und W. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Urkunden und Briefe der Markgräfin Mathilde von Tuszien.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1998. XLIV, 666 S. m. Abb. 4 = Monumenta Germaniae Historica (Diplomata: 5, Laienfürsten- und Dynastenurkunden der Kaiserzeit), 2. Geb. DM 180,-. ISBN 3-7752-5433-1.

Rezensent:

Gert Haendler

Vor 60 Jahren war die Reihe "Laienfürsten- und Dynastenurkunden" begründet worden mit einem Band über die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern. Die Reihe sollte solche Fürsten erfassen, "welche sich durch die grenzüberschreitende Ausdehnung von Besitz und Herrschaft einem national oder landschaftlich limitierten Arbeitsprogramm historischer Kommissionen oder Geschichtsvereine entziehen, wie beispielsweise die Habsburger oder die Zähringer" (VI). Band 2 dieser fast vergessenen Reihe erfasst die Urkunden der Markgräfin Mathilde von Tuszien, deren Besitz vornehmlich in Ober- und Mittelitalien lag, die aber auch "über ererbte Besitzungen in Lothringen, Belgien und dem heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz verfügte".

Das Vorwort nennt noch eine Besonderheit der Mathilde: "Niemals vom Herrscher belehnt, nahm sie als Frau eher gegen die Vorstellungen der Zeit fürstliche Rechte wahr". Die Vielfalt der Urkunden illustriert "mit ungewöhnlicher Eindringlichkeit Möglichkeiten und Grenzen einer autonomen hochadligen Herrschaft im salischen Reichsitalien" (VI). Die Dokumente sind zudem "für die Zeit der Ausformung der Volkssprache Italiens kostbare, von der Forschung bisher noch nicht herangezogene Quellen. Besonders genau war in diesem Zusammenhang bei Originalüberlieferungen mit der Kontraktion domina - domna - donna zu verfahren, gilt diese doch zu Recht als eine der typischsten Erscheinungen auf dem Weg vom Lateinischen zum Italienischen" (30).

In den Jahren 1986-1996 wurden auf Forschungsreisen in mehr als 90 Archiven und Bibliotheken die Dokumente gesichtet, die nun in 282 Nummern vorliegen. Die Urkunden(1-139) (31-360) bilden den Hauptteil, es folgen Fälschungen Nr. 140-153 (361-390) sowie Verlorene Urkunden (Dep. 1-115 auf 391-466). Ein Anhang bringt weitere 13 ergänzende Dokumente (467-500). Die Register bieten die Empfänger (501-503) und eine Archivalische Übersicht, die ausstellenden Notaren (513) sowie Notaren in beglaubigten Abschriften (515 f.). Dem Personenregister (517-552) folgt das Verzeichnis von Heiligen und anderen Kirchenpatronen (553 f.), das Ortsregister (555-590) sowie "Wörter und Sachen" (591-660). Eine Vergleichstabelle zu älteren Editionen ermöglicht ein rasches Auffinden bei Zitaten in älteren Ausgaben.

Mathilde ist bekannt als energische Parteigängerin Papst Gregors VII. Von der militärischen Niederlage dieses Papstes, der 1085 im Exil in Salerno starb, war Mathilde voll mit betroffen: "Zwischen 1081 und 1098 - der Zeit der großen Krise der canusinischen Herrschaft - ist die urkundliche und briefliche Überlieferung weitgehendst versiegt; aus acht Jahren hat sich kein einziges Dokument erhalten. Doch seit dem Herbst 1098 konnte Mathilde einen erheblichen Teil des verlorenen Terrains zurückgewinnen" (2). Mathilde unterschrieb seit 1079 erstmals und seit 1099 immer häufiger jene Wortprägung, die sie "als ihre eigenhändige Subscriptio wählte und die offenbar auch die Umschrift des Siegels bildete: Mathilda die gratia, si quid est" (20 f., dazu die Abbildungen zwischen den Seiten 4 und 5). Werner Goez hatte diese "Urkunden-Unterfertigung der Burgherrin von Canossa" untersucht (DA 47, 1991, 379-394). Beide Herausgeber hatten sich zu Mathilde bereits geäußert: In den Frühmittelalterlichen Studien 31 (1997) schrieb Werner Goez "Über die Mathildischen Schenkungen an die Römische Kirche" (158-196). Elke G. hatte die Markgrafen von Canossa und die Klöster thematisiert in DA 51 (1995) S. 83-114. Ihr Buch Beatrix von Canossa und Tuszien erschien 1995 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 41).

In einer Beziehung können deutsche Leser enttäuscht sein: Mathilde war bekanntlich im Januar 1077 in der Burg Canossa als Burgherrin dabei, als Papst Gregor VII. den deutschen König Heinrich IV. nach seiner Buße vor der Burg wieder in die Sakramentsgemeinschaft aufnahm. Mathilde hat jene Tage in Canossa miterlebt und gehörte möglicherweise zu jenen Menschen, die den Papst zur Wiederaufnahme Heinrichs gedrängt haben. Jene Buße von Canossa ist spätestens seit Bismarcks Äußerung vor dem Reichstag im Mai 1872 weitesten Kreisen bekannt. Die hier vorgelegten Dokumente sagen über dieses Ereignis kein Wort, obwohl Papst Gregor VII. mehrfach vorkommt, ebenso wie auch Canossa (Canusium). Aber die damalige Situation 1077 kommt nicht in den Blick (79 f., 360, 407 und 469 f.).

Der Streit zwischen Papst und Kaiser wird relativ deutlich durch eine Information, die Mathilde im Mai 1084 an die deutschen Parteigänger Papst Gregors VII. gibt: Sie teilt die Erbeutung eines päpstlichen Siegelstempels mit (Nr. 38, S. 130). Die Situation wird durch einige Formulierungen krass beleuchtet: Für Mathilde ist Heinrich IV. ein "falsus rex". Der damals in Rom eingesetzte (Gegen-)Papst Clemens III. (vorher Erzbischof Wibert von Ravenna) wird von ihr beschrieben als "Barrabas latro, id est Heinrici papa". Von spezieller Bedeutung für die Kirchengeschichte ist auch, dass sich Mathilde 1104 für den aus England wieder einmal vertriebenen Erzbischof Anselm von Canterbury bei Papst Paschalis II. eingesetzt hat (Urkunde 84, S. 241 f.).

In der Kirchengeschichtsschreibung ist Mathilde durchaus beachtet worden, u. a. von Baronius, Mansi und Muratori (3). Aber der Text wurde erst jetzt auf eine solide Grundlage gestellt. Der Band verdient hohen Respekt. Er wird wohl für längere Zeit zu einem Standardwerk werden.