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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1011–1014

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Golz, Reinhard,Korthaase, Werner, u. Erich Schäfer

Titel/Untertitel:

Comenius und unsere Zeit. Geschichtliches, Bedenkenswertes und Bibliographisches.

Verlag:

Hohengehren: Schneider 1996. 376 S. m. Abb. gr.8. ISBN 3-87116-999-4.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Comenius - er ist mit dem abklingenden Jubiläum 1992 nicht aus dem Gesichtskreis verschwunden. Daß er sich in der Theologie besonderer Beachtung erfreut, wird man nicht sagen können. Seine Würdigung in der 2. Auflage der RGG als "Patriarch und Prophet unter den Pädagogen" ist bezeichnend; ein Pädagoge - Johannes Prüfer (*1882) - schrieb schließlich den Artikel. Eine Würdigung Comenius’, des Theologen und Verfassers aszetischer, hymnologischer und homiletischer Werke, entfällt in solchem Zusammenhang. Hierfür muß man schon auf Carl Meusels "Kirchliches Handlexikon" zurückgreifen, wo im Jahre 1889 immerhin fast ein Fünftel der gesamten Darstellung dem Theologen Comenius gilt und auf Hermann Ferdinand von Criegerns theologische Arbeit zu Comenius aus dem Jahr 1881 verwiesen wird, den auch vorliegender Sammelband würdigt (308). "Comenius und unsere Zeit" ist aus einer im Oktober 1993 nach Magdeburg geholten Ausstellung über den tschechischen Pädagogen hervorgegangen (verantwortlich für die Ausstellung: Ivo Nezel und Georges Ammann/Pestalozzianum Zürich). Aber diese Ausstellung ist aus dem vorliegenden Buch bei weitem nicht zu rekonstruieren; es handelt sich also nicht um einen Ausstellungskatalog. Vielmehr ein Lese- und Arbeitsbuch ist entstanden. Aus einem 100seitigen Literaturbericht ebenso wie aus der Betreuung der meisten abgedruckten Texte wird deutlich, daß Werner Korthaase, in Berlin leitend in der Erwachsenenbildung tätig, durch mannigfache einschlägige Arbeiten ausgewiesen und jüngst zum Präsidenten der Deutschen Comenius-Gesellschaft gewählt, dem Band seine Aufmerksamkeit und Mühewaltung gewidmet hat.

Das ist ihm gut bekommen, richtet man zunächst einen Blick auf die abgedruckten Texte (in chronologischer Reihenfolge):

40-45 Schulordnung 1658 und Vorwort "Orbis Pictus" (1658) 1714 (R. G.)

113-119 J. A. Comenius: Consultatio Catholica (W. K.)

120-129 J. A. Comenius: Consultatio Catholica (W. K.)

130-148 J. A. Comenius: Mathetica 1680 (R. G.)

162-186 J. A. Comenius: Varia. (Katja Riedel)

201-207 J. G. Herder 1795 (W. K.)

16-23 K. Weidel 1932 (W. K.)

92-99 D. Tschizewskij 1936 (W. K.)

100-112 D. Tschizewskij 1939 (1956!) (W. K.)

Es ist - z. B. - gut, den auf Umwegen auf uns gekommenen Text der "Mathetica" wieder leicht zugänglich zu haben. Anderen ist es wichtig, Herders Äußerungen zu Comenius, immer und immer wieder apostrophiert (so auch in Hellmut Rosenfels’ Einleitung zu seiner Faksimile-Ausgabe des "Orbis", Nürnberg 1658, 1964, [9]), nun im Wortlaut geboten zu bekommen. Selbstredend landet man immer wieder an den Küsten des Meeres von Comenius’ Hauptwerk, der "Consultatio", an. Dmitrij Tschizewskijs (1894-1977) Name, des (Wieder=)Entdeckers (1934/1935) des Manuskriptes in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen Halle (Saale), wird mit der Erforschung dieses Werkes verbunden bleiben. (Ein ’politischer Transfer’ brachte das Original bekanntlich nach 1945 nach Prag; vgl. 105 und 365/15.) Und dem Gedenken an D. Tschizewskijs 100. Geburtsjahr ist auch der vorliegende Sammelband gewidmet (1). Zudem sind zwei Texte Tschizewksijs ermittelt, abgedruckt und kommentiert (s. o.). Es ist dies ein angemessener und nötiger Hinweis auf diesen im Strudel der Zeiten und Völker akademisch nie voll Fuß fassenden, von dem Theologen Fritz Lieb (1892-1970) außerordentlich geschätzten Wissenschaftler (W. Korthaase bereitet eine Darstellung Tschizewskijs vor).

Die einzelnen Beiträge sind auf den Seiten 8 bis 10 gut vorgestellt; das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Daß Ivo Nezel mit drei Beiträgen vertreten ist, weist auf den Entstehungszusammenhang der genannten Ausstellung hin (57-84). Aber Magdeburger ’Kolorit’ kommt nicht zu kurz (16-23 K. Weidel, OStD und Propst des Klosters Unsrer Lieben Frauen in Magdeburg; 40-45 ["Magdeburger Orbis" meint eine Ausgabe Magdeburg 1714]; 344-352 Comeniana in Magdeburg).

Den Charakter eines Arbeitsbuches unterstreicht das Werk auf das deutlichste durch die Fülle der bibliographischen und Literatur-Informationen. "Die Forschung über das Lebenswerk Komenky’s ist eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin" schreibt 1976 der Prager Jaroslav Buzga. Wohl wahr, was den ’Gegenstand’ angeht; und vital angewiesen auf Internationalität wie auf Interdisziplinarität! Daß "Bibliographisches" im Untertitel thematisiert ist, signalisiert nur, daß vorliegender Band in der Tat auf einige Zeit hier als Arbeitsbuch seinen Dienst tun wird. Zunächst wird man (außer den Literaturzusammenstellungen jeweils nach den Aufsätzen) auf den Seiten 240-245, 327-341, 347-352 und 355-364 mit einer überwältigenden Fülle von Titeln der Primär- und Sekundärliteratur konfrontiert: An letztgenannter Stelle macht W. Korthaase den gewagten und doch unbedingt nötigen Versuch einer sachlich gegliederten und ins Studium einweisenden Auswahl-Bibliographie (Biographie, Texte, Forschung, Sammelbände/Kataloge, Themen) - sie gerät schließlich zu einer ’Bibliographie der Bibliographien’ (363 f.)

Hier wundert nur die Nichtberücksichtigung von Barock- und Pietismus-Bibliographien z. B. in WBN, PuN und UF, auch Schallers "Mitteilungsblatt". Wer sollte noch die Comenius-Literatur insgesamt überschauen können, geschweige denn gelesen haben, wenn man allein auf die S.325 genannten neun (!) Sprachen (plus russisch; 243) achtet, deren man kundig sein müßte. Und was alles erscheint auch an verstecktem, übersehenem Ort, ohne deshalb überflüssig zu sein (meine Sammelrezension zu Comenius in ZBKG 62, 1993, 241-244 nennt z. B. die Dokumentation der Bad Boller Comenius-Tagung Januar 1992, UF 1992 H.32).

Der 100seitige Literaturbericht W. Korthaases nun freilich läßt den Leser nicht mit einer gefüllten Scheuer von Titeln allein (246-342). Zusammen mit dem Beitrag zur Comenius-Aufnahme im heutigen Rußland (215-245) wird man hier in konzentrierter Form an eine Fülle von Problemen herangeführt, was Weiterarbeit ermöglicht: "Comenius und unsere Zeit" hat es verdient (W. Korthaase handelte zu diesem Thema schon 1993 in "Comenius-Enquetes I und II an der Humboldt-Universität zu Berlin", 75-94, bes. 88 f.). Dabei haben keine Comenius-,Verehrung’ und auch keine platte Aktualisierung statt: Der z. T. heftigen Kritik an Comenius gilt es nicht auszweichen - bekanntlich sehr früh brachte Pierre Bayle ja in seinem "Dictionnaire" einschlägige Überlegungen auf die Bahn. Und noch 1742 setzte sich Paul Eugen Layritz an der Fürstenschule im fränkischen Neustadt an der Aisch ausdrücklich damit auseinander, was in einer Edition des Textes 1992 (s. 331) allgemein zugänglich gemacht ist (auch wenn die Edition und v. a. die Übersetzung entschieden mißglückt sind; vgl. D. Blaufuß in ZBKG 62, 1993, 237-241 und unten). Und Beobachtungen von Comenius’ modernen lernökonomischen Einsichten bei Ivo Nezel (Nachwort zum Faksimile des "Orbis", London 1659, Zürich/Hitzkirch 1992, 6-9) wirken durchaus nicht gewaltsam.

Erst jetzt, aber hier auch deutlich, muß die Rezension auf Comenius den Theologen hinweisen.

Es ist dies nicht Thema des Bandes - aber leider fehlt an einschlägiger Stelle auf Seite 335 gerade der Sammelband, dem nach dem Urteil von Z. E. Dittrich als "Hauptgegenstand ’die Erhellung des theologischen Profils bzw. der Religiosität’" von Comenius eignet (309): Norbert Kotowski/J. B. Lasek [Hrsg.]: Johann Amos Comenius und die Genese des modernen Europa. Internationales Comenius-Kolloquium Bayreuth 1991 [nicht "1992": 349. 360; richtig 272]. Fürth 1992. Freilich können die Einzelbeiträge daraus, Blaufuß 328, Kolesnyk 334, Lasek, Ligus 335, Molnár 336, Schadel 338, im andernorts (308. 349. 360) zitierten Sammelband von Kotowski/ Lasek verifiziert werden.

Neben vielen Einzelbezugnahmen auf Comenius als Theologen (vgl. 270. 286) ist der Passus bei W. Korthaase (307-313) ein echtes ’Stahlbad’: "... Man findet den Theologen Comenius in keiner deutschsprachigen kirchengeschichtlichen oder pastoraltheologischen Darstellung gewürdigt" (307; abgesehen von Lexika/Enzyklopädien). Von Criegerns theologische Untersuchung Comenius’ "(ignorierte) die große Schar der deutschen Theologen" (308). Oder muß man bis in die Kirchengeschichtsdarstellungen aus dem Bereich der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten gehen (s. Walter Eberhardt: Aufklärung und Pietismus 1648 bis 1800. Berlin-Ost 1979, 472 Anm. 8 mit zahlreichen Verweisen auf den Vorgängerband)? Jedenfalls sind dies harte Feststellungen, sind doch immerhin eine ganze Reihe von theologischen Veröffentlichungen kleineren oder umfangreicheren Ausmaßes zu nennen (K. Goßmann, C. Th. Scheilke, M. Lochmann, H. Schröer, J. M. van der Linde, E. Sturm, K. E. Nipkow; s. weiter E. Campi in Zwing. 1995, 67 f.).

Aber schon der katastrophale Verlust der meisten Predigten Comenius’ verhindert hier offenbar manche Aufmerksamkeit gegenüber dem Faktum, daß Comenius Bischof gewesen ist! Eine 1882 erschienene Sammlung von "Passions-, Oster- und Himmelfahrtspredigten" von Comenius - beruht auf ihnen das Urteil bei Meusel (s. o.): "tiefe ... und einfache ... Predigten"? - wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf meine erst jüngst in ZBKG 65, 1996, 282 stärkstens unterstrichene Forderung, dem kargen Rest des Predigtwerkes von Comenius entschlossen alle ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Von K. E . Langerfeld (Niesky) erwartet die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschung dringend mehr als einen einführenden Beitrag "Comenius als Prediger" (Studia Comeniana et historica 51/XXIV, 1994; gleichlautend der Titel: UF 1994, H. 35, 56-73): Sie erwartet die wissenschaftlich gültige Edition der homiletischen Hinterlassenschaft von Comenius!

Zur Einordnung von Comenius im Übergangsfeld von Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung wird gewiß noch zu handeln sein. "Antipietista" (338) kann freilich Comenius, gestorben im Jahr des Beginns des Frankfurter Pietismus 1670, noch nicht gewesen sein: Ich hatte 1991/92 vorsichtig auf Grund von Rezeptions-Spuren Comenius’ im Pietismus gefragt, inwiefern man von "Comenius Antepietista" reden könne (Kotowski/ Lasek, a. a. O., 70-85, bes. 78 f.)? Emidio Campi scheint Comenius näher an die orthodoxe Theologie heranführen zu wollen, freilich hat er schließlich v. a. die reformoffene, einer Lehrerstarrung entgegenwirkende Orthodoxie im Blick (Zwing. 1995, 82 f.), was einen Trend hin zum Pietismus gerade einschließt (vgl. 312). Hier muß der Quellenevidenz durch Bereitstellung der theologischen Werke von Comenius entschieden vorangeholfen werden!

Daß (auch) hierfür die "Deutsche Comenius-Gesellschaft" einen fruchtbaren Impuls geben wird, lassen die Andeutungen W. Korthaases zuversichtlich hoffen (324 f.). Und die Zeiten sind hoffentlich ein für alle Mal vorbei, wo man auf ideologisch ’begründete’ Quellenverstümmelungen wie bei der Ausgabe des "Labyrinth der Welt", Weimar 1958 und Leipzig 1984 aufmerksam machen mußte (D. B. in ZBKG 1993, 243 o.; vgl. vorl. Sammelband S.358 den dezenten Hinweis auf das jeweilige Fehlen des Teiles "Paradies des Herzens" in den Ausgaben Erhard Müllers und Ilse Seehases. Ebd., 347 fehlt dieser Hnweis auf die Unvollständigkeit. Auf S. 330 ist die nun vollständige Ausgabe von Irina Trend 1992 genannt, 334 auch eine französische Übersetzung 1991). Dabei mißt James Bowen in seiner (dem in Sydney 1967 erschienenen Faksimile des "Orbis", London 3. Aufl. 1672 vorangehenden) ausgezeichneten Gesamteinführung in Comenius gerade dem "Paradies des Herzens" grundlegende Bedeutung für Comenius’ zukünftiges Denken bei (a. a. O. 5).

Der Band ist solide hergestellt. Mannigfache Illustrationen bereichern das Werk; die Abbildungsnachweise brechen ab mit Seite 223 (365). Ein Autorenverzeichnis fehlt nicht. Vor allem aber sei auf das gründliche 30spaltige Namensverzeichnis verwiesen, was gerade bei der Fülle der Autoren eine große Hilfe ist und das auch in Titeln genannte Namen auswirft.

Druckversehen bleiben im Rahmen: S. 43 f.l Anm. zweimal "4" vergeben; S. 247 "gothische"?; S. 262 Patocka 1907-"1877": 1977; S. 265 Z. 6: "Herder 1795, S."34": nach S. 302 muß es S. 33 lauten; S. 275 "Orbis" Dortmund 1978, 2. Aufl. 1979, 4. Aufl. 1991; in den Anmerkungen und Literatur-Listen gelegentlich kleinere Unstimmigkeiten wie "S. Sp." ( 326 A.13), fehlende S.-Angaben oder Reprint-Vermerke (z. B. 327 bei Bayle/Gottsched, 1742: OLMS-Reprint); S. 358 Kühnels "Orbis"-Ausgabe 1910: 2. Auflage von "1858"? - S. 331 muß bei P. E. Layritz’ "Verteidigung ... des Comenius" inskünftig immer die die schlimmsten Übersetzungsfehler mildernde Übersetzung in UF 1992 H. 32, 91-102 vermerkt werden.

Alles in allem ein Lese- und Arbeitsbuch, daß der Theologie nicht den Weg in das pädagogische Denken Comenius’ erspart, auch anderweitig ihr die Anteilnahme an Comenius vielfältig ermöglicht, aber nicht zuletzt Material und Gesichtspunkte bereitstellt, sich der Theologie des Comenius gezielter als bisher zuzuwenden. Und das ist der Hinweis auf ein wirkliches Desiderat, über dessen wenigstens teilweise Erfüllung hoffentlich nicht erst beim nächsten Comenius-Jubiläum im Jahr 2020 berichtet werden kann.