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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

934–936

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stettler, Hanna

Titel/Untertitel:

Die Christologie der Pastoralbriefe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. XIII, 397 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 105. Kart. DM 118,-. ISBN 3-16-147056-7.

Rezensent:

Hermann von Lips

Die vorliegende Arbeit ist "die aktualisierte und leicht überarbeitete Fassung" der von Peter Stuhlmacher betreuten und 1997 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommenen Dissertation. Innerhalb weniger Jahre erscheint damit nach der Dissertation von Karoline Läger die zweite Monographie über die Christologie der Pastoralbriefe. Die Autorin vermag aber deutlich zu machen, dass die von ihr gewählte traditionsgeschichtliche und damit diachrone Untersuchungsperspektive ihre eigene Berechtigung gegenüber der stärker synchron orientierten Arbeit von Läger hat (20.22).

Die Arbeit ist übersichtlich aufgebaut und durchgeführt. Ein "Forschungsüberblick" bildet den 1. Hauptteil (3-22). Hier ordnet die Vfn. die bisherigen Positionen zur Christologie der Past fünf Gruppen zu: "I. Die Einschätzung der Christologie der Pastoralbriefe als spätpaulinisch" (3 f.), so die Lage zu Beginn des 20. Jh.s und C. Spicq; II. "als Regression auf ein vorpaulinisches Stadium" (4-6: Windisch, Brox); III. "als nachpaulinisch-hellenistische Abweichung von Paulus" (6-10: Dibelius-Conzelmann, Hasler, Hübner); IV. "als deuteropaulinische Synthese kirchlicher Lehre" (10-15: Trummer, Roloff, Quinn, Merkel); V. "als eigenständig und unpaulinisch" (15-22: Oberlinner, Marshall, Lau, Läger). Mit der Darstellung der einzelnen Positionen werden jeweils kritische Anmerkungen verbunden, die die Richtung für die eigene Untersuchung markieren.

Während man eine spezielle Formulierung der Aufgabenstellung vermisst, finden sich zu Beginn des 2. Hauptteils (23-294: "Exegese der christologischen bzw. christologisch relevanten Texte") einige diesbezügliche "Vorbemerkungen" (23 f.). Demnach sollen nicht nur "christologische Kernstellen", sondern alle relevanten Texte untersucht werden; zur Erfassung der Intention des Verfassers der Briefe sollen Tradition und "Redaktion" gemeinsam berücksichtigt werden; dem Selbstverständnis des Verfassers als "Paulinist" gemäß sollen nicht nur Abweichungen, sondern auch Übereinstimmungen mit Paulus beachtet werden: "Erst wenn man die weitgehenden, oft eben nur angedeuteten Übereinstimmungen wahrgenommen hat, ist es sinnvoll, das Augenmerk auf die Abweichungen zu richten" (24). Besondere Beachtung gilt den christologischen Titeln, insofern als aus ihrem "Vorhandensein oder Nichtvorhandensein allein ... noch keine Schlüsse auf die Christologie des Verfassers gezogen werden [dürfen]" (24).

Im Untersuchungsteil werden folgende Texte analysiert: Präskripte von 1Tim und 2Tim; 1Tim 1,12-17; 2,1-7; 3,14-16; 6,2b-3; 6,13-16; 2Tim 1,8-11; 1,16-18; 2,1-7; 2,8; 2,10-13; 3,10-17; 4,1-8 (mit 1Tim 5,21); 4,16-22; Tit 1,1-4; 2,11-14; 3,1-7. Das Vorgehen erfolgt jeweils in einem Dreischritt: 1. Form und Überlieferung, 2. Exegese; 3. Zusammenfassung.

Den Schwerpunkt stellt jeweils der exegetische Abschnitt dar. Hier erfolgt eine detaillierte Einzelexegese wichtiger Begriffe, die traditionsgeschichtlich eingeordnet und nach ihrer Intention im engeren und weiteren Kontext der Pastoralbriefe befragt werden. Traditionsgeschichtlich stehen im Vordergrund begriffsgeschichtliche Fragen zur vorchristlichen Verwendung der Begriffe, v. a. im alttestamentlich-jüdischen Bereich einerseits, im neutestamentlichen Kontext (Paulus, synoptische Evangelien, johanneische Schriften) andererseits. Zu christologisch besonders relevanten Begriffen werden eigene Exkurse geboten ("soter", "elthon"-Sprüche, "epiphaneia", Präexistenz Christi und Sohnestitel, Menschensohn) sowie ein eigener Abschnitt zur Wendung "en Christo Iesou" mit Blick auf die Relation des Gebrauchs bei Paulus und in den Pastoralbriefen. Als sehr gut empfindet man als Leser die zu jedem untersuchten Textabschnitt gebotenen, inhaltlich prägnanten Zusammenfassungen.

Der wesentliche Ertrag der Textuntersuchungen wird im 3. Hauptteil formuliert als "Ergebnis: Die Christologie der Pastoralbriefe" (295-344). Zuerst werden dabei die Konsequenzen gezogen für die "Intention und Arbeitsweise des Verfassers". Wichtiges Anliegen ist die Bewahrung des Überkommenen, wodurch der Verfasser die Gemeinde gegenüber Irrlehrern schützen wollte, "indem er sie mit der wahren Lehre wie mit einem Wall umgab" (302). Der Verfasser nimmt vielfältige Traditionen auf, wobei seine Orientierung an Paulus impliziert, "alle Lehre unter die Autorität des Paulus zu stellen und als dessen Lehre zu präsentieren" (297). Die übernommenen Inhalte werden vom Verfasser auch umgestaltet und zu "traditionell anmutenden, memorierbaren und zur Tradierung bestimmten Stücke[n]" geformt (299). Herauszuheben sind die Konsequenzen, die die Autorin aus den von ihr festgestellten "hellenistisch-jüdische[n] Züge[n] der Pastoralbriefe" zieht, dass nämlich der Verfasser "ein hellenistischer Judenchrist" war, der zudem "rabbinisch gebildet war" (307).

Die zwei weiteren Abschnitte des 3. Hauptteils sind den "Quellen der Christologie der Pastoralbriefe" und deren "inhaltliche[r] Bestimmung" gewidmet. Als Quellen werden drei Linien innerhalb der urchristlichen Schriften aufgezeigt, nämlich Paulus (natürlich am umfangreichsten), die Synoptiker (und Apostelgeschichte) sowie Johannes. Differenziert wird jeweils zwischen sprachlichen und inhaltlichen Anknüpfungen, dazu kommt bei Paulus noch die grundlegende "explizite Anknüpfung", während bei den Evangelientraditionen die Anknüpfungen meist erst erschlossen werden müssen. Die Vfn. geht davon aus, dass der Verfasser das Mt-, Lk- und wohl auch das Joh-Evangelium (oder eine Vorform) gekannt hat (323. 325). Die inhaltliche Bestimmung der Christologie (328-344) sieht vor allem drei christologische Traditionen vorliegen: Präexistenz- und Inkarnationschristologie (in Verbindung mit der Epiphanie-Christologie), Gottesknechtschristologie (vor allem in Verbindung mit dem "soter"-Titel) und Menschensohnchristologie (anhand der aufgenommenen Evangelientraditionen). Als Besonderheit der Past wird schließlich die "Kerygmatisierung der Christologie" herausgehoben, verstanden als "Verlagerung des Schwerpunktes ... von der Christusoffenbarung hin ... [zur] Verkündigung des Evangeliums" (341).

Das Fazit der Untersuchung lautet also, dass - in vielem entgegen der bisherigen Sicht der Forschung - die Christologie der Pastoralbriefe durchaus eine einheitliche Konzeption darstellt und in klarer Kontinuität zu Paulus steht, unter Einschluss der christologischen Traditionen der Evangelien. Von solchem Bild aus ist die methodische Problematik der Studie zu benennen: Sie arbeitet im Detail vielfach mit Implikationen und Folgerungen, die so direkt im Text nicht zu belegen sind und daher oft eine Ermessensfrage darstellen. Das Ergebnis stellt also das dar, was man maximal sagen könnte, wenn alle Implikationen zuträfen. So aber muss man doch etliche Abstriche machen.

An einigen Beispielen ist das Umgehen mit Implikationen zu verdeutlichen: Kenntnisse messianischer Zusammenhänge im Blick auf den Christus-Titel seien bei den Adressaten vorauszusetzen, daher kann der Verfasser sich mit Anspielungen begnügen (27.36); die Wendung "eis ton kosmon elthein" (1Tim 1,15) impliziert als joh Wendung auch die Präexistenz Jesu (53 f.60); die Rede von der "makrothymia" Christi (1,16) impliziert entsprechend analogen biblischen Aussagen von Gott die Partizipation Jesu am Endgericht (55 f.60); das Fehlen des Gottessohntitels in den Pastoralbriefen ist nicht schwerwiegend, da die Inhalte gleichwohl in den anderen verwendeten Titeln enthalten sind (177 f. vgl. 329). Insgesamt ist die Tendenz deutlich, die verwendete Terminologie der alttestamentlich-jüdischen und sodann urchristlichen Tradition zuzuordnen und eine Abgrenzung gegen hellenistisch-heidnischen Einfluss vorzunehmen. Das gilt vor allem für die auffälligen Termini "soter" und "epiphaneia", die seit Deissmann der hellenistisch-kultischen Sprache (einschließlich Kaiserkult) zugeordnet wurden, hier aber allein von der alttestamentlich-jüdischen Tradition und aus neutestamentlichem Kontext ("soter" von "sozein" in der Jesustradition) verstanden werden wollen (vgl. die Exkurse). Die für die heidenchristlichen Leser der Briefe doch sicher durch ihre heidnische Herkunft und Umwelt gegebenen Implikationen werden hingegen nur zögerlich zugestanden (28: allenfalls stillschweigende Antithese zum Herrscherkult; 36: Anlehnung an hellenistische "soter"-Vorstellungen nicht erkennbar; 145 f.: der Epiphanie-Terminologie fehlt "jeglicher polemische Unterton" - woran merkt man das?; 155: kein Bezug zum Kaiserkult feststellbar; 306: für "soter" Bezug auf Kaiserkult möglich, aber nicht ausdrücklich).

Wenn auch "epiphaneia" im Kaiserkult nicht die früher angenommene Relevanz hat, so gibt es doch etliche Belege, in denen z. B. der Kaiser Hadrian (der zeitlich sicher nicht weit von der Entstehung der Pastoralbriefe entfernt ist!) als epiphaner Gott (Zeus epiphanes) und "soter" bezeichnet wird. Problematisch ist auch die Identifizierung des besonderen Traditionsbegriffs "paratheke" mit jüdisch-rabbinischem Traditionsverständnis (mit Konsequenz für die Verfasserfrage, s. o.). Durch eine konstruierte Verbindung mit Mt 13,24.31 (wobei übersehen wird, dass das dortige Verbum im Aktiv eine andere Bedeutung hat als das mediale Verb in den Pastoralbriefen!) wird "paratheke" auf den jüdischen Lehrbegriff zurückgeführt (162.164.295 f.). Zwar hat das Rechtsinstitut des Depositums durchaus ein jüdisches Äquivalent, aber eben nicht als Traditionsbegriff. Die Relevanz der Einrichtung des Depositums (des anvertrauten Guts) im kleinasiatischen Christentum (belegt durch "depositum" im bekannten Pliniusbrief 10,96!) reicht aus als Anknüpfungspunkt für den Verfasser der Pastoralbriefe, um damit sein Anliegen der treuen Bewahrung und Weitergabe der christlichen Lehre auszudrücken.

Trotz der genannten Anfragen ist der Wert der vorgelegten Untersuchung zu unterstreichen. Gerade weil hier versucht wird, eine konsequente Interpretation im Rahmen der biblischen Tradition zu geben, hat die Autorin mit ihrer Arbeit eine wichtige Grundlage gegeben, an die weitere Forschung - wenn auch kritisch - anknüpfen kann.