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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

931–933

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reichardt, Michael

Titel/Untertitel:

Psychologische Erklärung der paulinischen Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Exegese und Psychologie seit dem 18. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1999. 389 S. 8 = Stuttgarter Biblische Beiträge, 42. Kart. DM 89,-. ISBN 3-460-00421-5.

Rezensent:

Otto Merk

Das Anliegen vorliegender Passauer Dissertation ist es, das Fragezeichen im Haupttitel auszumerzen. Der Weg dahin wird vom Vf. vielfach abgesichert und forschungsgeschichtlich unterlegt. Die Untersuchung gliedert sich in drei große Abschnitte: "1. Forschungsgeschichtlicher Überblick: Die subjektive Visionshypothese" (17-88); "2. Psychologischer Teil: Die Halluzination" (89-151); "3. Exegetischer Teil: Damaskusvision und vorchristliche Zeit des Paulus" (153-334); eine Einleitung (16f.) und eine Ergebnisbündelung (335-338) rahmen die Dissertation, ein umfangreiches Literaturverzeichnis ist angeschlossen (339-389).

Zu Teil 1: Eine sorgfältige Bestandsaufnahme zu unterscheidender Forschungseinschnitte verbindet sich mit der Skizzierung der wichtigsten Positionen und ihrer Vertreter (nach Vf. z. B. D. F. Strauß; C. Holsten), um dann besonders den tiefenpsychologischen Deutungsversuchen (und aus ihr erwachsenen Erklärungen) nachzugehen. Es lässt sich eine Vorstufe psychologischer Fragestellungen themabezogen schon im 19. Jh. erheben, auch wenn der Vf. gelegentlich zu stark Begrifflichkeit und Sachorientierung moderner Einsichten in frühere Forschungspositionen verlegt (z. B. die Aufnahme der Mythenerforschung durch D. F. Strauß mit psychologischen Aspekten deutet, ohne den eigentlichen nichtpsychologischen Hintergrund zu analysieren [vgl. auch C. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, 1952]; bei F. C. Baur sind erste Ansätze zur liberalen Theologie für die Themastellung des Vf.s noch stärker zu differenzieren [und zu betonen ist, dass dieser als Historiker und Theologe Grenzen unseres Wissens methodisch bedachte]; bei C. Holsten ist die themabezogene apologetische Absicht seines ,Psychologisierens' herauszuarbeiten; störend ist "Wette" statt "de Wette" als richtige Schreibweise des Namens). Kenntnisreich auch in der kritischen Beleuchtung der Positionen ist die Nachzeichnung der "Tiefenpsychologische[n] Erklärungsversuche der paulinischen Damaskusvision (1913-1994)" (58-151). Besonders im Abschnitt "Psychologischer Teil: Die Halluzination" (89 ff.) kann der Vf. als Diplompsychologe aus eigener Kenntnis der Materie schreiben, sich selbst dabei durch die "kritische Durchsicht" von Spezial-Kollegen (Prof. J. Baumgartner und Dr. G. Beirer) absichernd (5). Auch der mit diesem Gebiet nicht so Vertraute wird verständlich und informativ eingeführt mit dem Ergebnis: "Voraussetzung einer Erklärung der paulinischen Damaskuserfahrung mit Hilfe der ... vorgestellten Halluzinationstheorien bildet die Annahme, bei dem Damaskusereignis handele es sich um eine Vision bzw. Halluzination. Diese oft stillschweigend gemachte Prämisse gilt es zunächst einmal anhand der einschlägigen neutestamentlichen Texte zu überprüfen" (151). Aber müsste die Information nicht noch weitergehen? Auffallend ist für den Leser, dass die von G. Theißen [Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1983] herangezogenen Werke größtenteils unberücksichtigt bleiben (z. B. Hans Thomaes Beiträge) und dass die erstaunlichen Einsichten in Helmut Thomä/Horst Kächele, Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, Bd.1, 21989; Bd. 2, 21992, fehlen. Der Zugang zur Fragestellung aus psychologischer Sicht zeigt offensichtlich eine erhebliche Spannweite sich keineswegs deckender Ansichten und Beurteilungen. Methodisch zu Recht wird vom Vf. gefragt, "ob sich zwischen dem Inhalt der paulinischen Damaskusvision und den herausgearbeiteten psychologischen Erklärungsfaktoren ein Zusammenhang ausmachen läßt" (151).

Der Erarbeitung des exegetischen Befundes gilt der dritte Teil. Zunächst werden "die paulinischen Selbstzeugnisse 1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6 und Gal 1,15 f." genau analysiert und exegetisch geprüft (165 ff.), wonach auch 2Kor 4,6 als Aussage im Bereich der Damaskusvision gewertet werden darf (178 ff.210 f.225). Sehr viel knapper wird der lukanische Befund dargelegt: "Lukas bietet in den beiden Reden Apg 22,6-11; 26,12-18 redaktionell gestaltete Variationen eines ihm vorliegenden Berichtes von der paulinischen Damaskuserfahrung, der noch hinter Apg 9,3-9 faßbar ist" (211-219; Zitat 219); ein Vergleich der "Selbstzeugnisse" Paulus-Lukas nötigt zur historischen Erklärung konfliktträchtiger Situationen im vorchristlichen Lebensabschnitt des Paulus, wie an 1Kor 15,9c; Gal 1,13b; Phil 3,6a exegetisch entfaltet wird (227-268): "Der Verfolger aus Eifer für Gesetz und Tempel" lässt sich mit den Aussagen der Apg ,stimmig' verbinden, "erlaubt aber zwei konkurrierende psychologische Deutungen" (267 in Anlehnung an Theißen, a.a. O., 240 f.). 1) Nach ,kognitiver Dissonanztheorie' (vgl. 128ff.) geht es Paulus "sozialpsychologisch" um die Stabilisierung des "eigenen Standpunkt[es]" (267), denn durch die Verfolgung und somit "Begegnung mit der christlichen Gemeinde aufgrund ihrer abweichenden Einstellung zu Gesetz und Tempel" soll/kann die "entstandene kognitive Dissonanz" verkleinert werden (267 mit Anm. 252; 332 Anm. 354). 2) Dem-gegenüber "postuliert" "das psychoanalytische Modell" "einen unbewußten Konflikt mit dem jüdischen Gesetz ... als Reaktionsbildung" und "Projektion des eigenen Versagens auf die christliche Gemeinde, die dadurch zu einem Objekt der paulinischen Verfolgungstätigkeit ... wurde" (267 mit Anm. 251). Zu letzterem Modell neigt der Vf., er will es jedoch methodisch angemessen daraufhin prüfen, "ob sich ein Konflikt mit dem jüdischen Gesetz, wie er immer wieder aus Röm 7,7-25 herausgelesen wurde, für Paulus plausibel machen läßt" (268). Dem Nachweis dient eine eingehende exegetische Prüfung dieses Abschnitts (269-334), vornehmlich in Auseinandersetzung mit W. G. Kümmels Dissertation "Römer 7 und die Bekehrung des Paulus" (1929) und in deutlicher Anlehnung an die Nachweisungen und das Ergebnis von G. Theißen (a. a. O.). "Die von Theißen formulierte These, die von der Annahme eines unbewußten, in vorchristlicher Zeit bestehenden Konfliktes des Paulus mit dem jüdischen Gesetz ausgeht, ist - trotz einiger Schwachstellen - den bisher vorgetragenen Vorschlägen klar überlegen, da sie einerseits an der Authentizität der beiden Texte Phil 3,6 und Röm 7,7-25 festhält und andererseits den polemischen Charakter der Äußerung Phil 3,6 ernst nimmt" (333). Damit bestätigt sich für den Vf. das zuvor erarbeitete "psychoanalytische Modell" (vgl. 267.329 ff.) als zutreffend.

Aber gelingt das wirklich? Wird nicht die theologische Sachaussage des Paulus, der von Röm 8,1 ff., von der Befreiung durch das Heilsgeschehen in Christus her als Befreiter auf den verzweifelten Zustand des unerlösten Menschen insgesamt (Röm 7) zurückblickt, durch den Vf. (und andere) psychologisch verengt? Da der Vf. Röm 8,1 ff. in seinen Überlegungen ausspart, verkürzt er paulinisches Denken und reduziert das auch für Röm 7 und 8 von Paulus geltend gemachte weltumgreifende, rettende Handeln Gottes.

Daran schließt sich eine andere Anfrage an: Wird nicht das harte Geschäft der Rekonstruktion, das uns auch in der Eruierung paulinischer Briefe aufgetragen ist, in der gegenwärtigen Forschung zu leicht durch psychologische Interpretation aufgeweicht und das unabdingbare hermeneutische Zueinander von Rekonstruktion und Interpretation der Beliebigkeit ausgesetzt? Vorliegende Untersuchung gibt Anlass, sich der Grenzen unseres Wissens erneut bewusst zu werden und eine alte Einsicht nicht vergessen zu lassen: "Alle psychologisierenden Hypothesen und alle Behauptungen, die über das aus den Quellen zu Erhebende hinausgehen, führen nur an den Tatsachen vorbei und vergessen die Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wirklichkeit. Und wenn wir uns da bescheiden, wo unser Erkennen aufhören muß, so scheint mir das auch die einzig mögliche Haltung dem Text gegenüber zu sein. Denn der Text verlangt von uns, daß wir mit dem Bewußtsein unserer Schranken ihn zu verstehen suchen, aber nie vergessen, daß eine die Dinge restlos verstehende Erkenntnis auch mit den Mitteln der Wissenschaft niemals erreichbar ist" (Kümmel, a. a. O., 160).

Unbestritten hat der Vf. auch im exegetischen Teil seiner Untersuchung mit großer Sorgfalt und Umsicht gearbeitet, viel schon Bekanntes - und manche Nebenfrage - noch einmal erörtert, so aber auch kritischen Anfragen durchaus den Weg geebnet. Nicht zuletzt dafür ist ihm zu danken. Vorliegende Dissertation verdient es, diskutiert zu werden.

Das Fehlen jeglicher Register ist ausdrücklich zu bedauern.