Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2001

Spalte:

922 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Böhm, Martina

Titel/Untertitel:

Samarien und die Samaritai bei Lukas. Eine Studie zum religionshistorischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund der lukanischen Samarientexte und zu deren topographischer Verhaftung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XIV, 368 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 111. Kart. DM 118,-. ISBN 3-16-147255-1.

Rezensent:

Petr Pokorny

Die in Heidelberg begonnene und in Leipzig von Christoph Kähler betreute Dissertation trägt den Untertitel "Eine Studie zum religionshistorischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund der lukanischen Samarientexte und zu deren topographischer Verhaftung". Es handelt sich nicht nur um einen Beitrag zur Lukasforschung. In der ersten Hälfte (Kap. 1-3) vermittelt die Autorin jedem Theologen, Bibelwissenschaftler, Historiker und Religionsgeschichtler eine Übersicht der Samariterforschung samt der Orientierung in den betreffenden Texten.

Im 1. und 2. Kapitel wird die Frage formuliert, mit der sich B. im 3. Kap. befasst: ob und wo im lukanischen Doppelwerk "Samaritai" (B. beginnt mit dieser neutralen Bezeichnung) ein neutraler Begriff ist, inwieweit er die Mitglieder der Garizim-Gemeinde (Böhm: Samaritaner) bezeichnet und ob bzw. wo es sich um die Bewohner und Bewohnerinnen der Landschaft Samariens (B.: Samarier) handelt. Der Forschungsbericht konzentriert sich praktisch auf die zweite Hälfte des 20. Jh.s. Die Forschung schwankte von der Voraussetzung, dass "Samaritai" bei Lukas schon praktisch als Heiden betrachtet wurden, bis zu der Annahme, dass man sie grundsätzlich als Juden ansah (J. Jervell). Ein spezifisches Problem stellen die möglichen samaritanischen Einflüsse in der Stephanusrede (Apg 8) dar.

Im 3. Kapitel werden nach einer kurzen Skizze der Geschichte Samariens (im lukanischen Doppelwerk n Samareia) die Notizen über die Städte Samariens (ten polin tes Samareias/Apg 8,5 und komas ton Samariton/Apg 8,25; Lk 9,52) untersucht. Die Prüfung der betreffenden Texte sowie die indirekten archäologischen Indizien ermöglichen kein eindeutiges Urteil. Sicher ist nur, dass von den Städten Samariens in der neutestamentlichen Zeit nur das überwiegend heidnische Samaria-Sebaste als prosperierende Stadt bestand (93). Sychar war wenig bedeutend (vielleicht nur Joh 4 bezieht sich darauf), und Flavia Neapolis war in der "lukanischen" Zeit erst im Entstehen. Nebenbei wird im Exkurs I die historische und religionsgeschichtliche Stellung der Garizimgemeinde mit Hilfe neuerer Texte aus der 4. Qumranhöhle (zum Samaritanischen Pentateuch) zusammenfassend dargestellt.

Die Untersuchung der Samariter-Frage gipfelt in den Abschnitten, die die Bezeichnung "Samaritai" selbst enthalten (Lk 9,52; 10,33; 17,16; Apg 8,25). Die vorlukanische Bedeutung war meistens durch 2Kön 17,24-41 und Esr 4,2.9 f.17 beeinflusst. Die umfangreiche LXX-Fassung von 2Kön 17 kann eine ältere Tradition als der MT-Text widerspiegeln. Sie setzt voraus, dass die "Samaritai" Nordreichisraeliten, also heterodoxe Juden waren, wobei sie vom Masoretischen Text und von Josephus (ant. 9) für Nachkommen der assyrischen Kolonisten im Bereich Samariens gehalten werden. In Joh 4 wird an die Mitglieder der Garizimgemeinde gedacht. Das Gemeinsame besteht nur in der Zugehörigkeit zum Land Samarien.

Die Untersuchung der Bezeichnung to ethnos tes Samareias (das Volk Samariens) aus Apg 8,9, die mit der Bezeichnung ethnos tes Ioudaias bzw. Ioudaioi verglichen wird, ergibt, dass "Juden" zunächst ein Sammelbegriff für alle Jahweverehrer war, der erst später zur exklusiven Bezeichnung der auf Jerusalem fixierten Kultgemeinde geworden ist, wobei das Volk Samariens bei Lukas ein Teil der zwölf Stämme Israels ist (z. B. die Mission in Samarien steht in der Apostelgeschichte vor der Mission der Gottesfürchtigen und der Heiden). Dem scheint Lk 17,18 zu widersprechen, wo ein Samariter als allogenes bezeichnet wird. B. argumentiert mit der Septuaginta, in der dieser Begriff im innerisraelitischen Sinne benutzt werde und "Fremder" auch einen Nichtpriester oder einen nur ethnisch Fremden bezeichnen kann.

Kapitel 4 untersucht die lukanischen Samariter-Perikopen: Lk 9,51-56 (Quartierverweigerung in einem Dorf Samariens), 10,25-37 (Der barmherzige Samariter), 17,11-19 (Die Heilung der zehn Aussätzigen) und Apg 8,4-25 (Die Samarienmission). In diesen Perikopen werden die "Samaritai" als ein besonderer Teil Israels betrachtet (offensichtlich Mitglieder der Garizimgemeinde), das Bild der "Samaritai" ist von 2Kön 17 nicht beeinflusst. Besonders im Gleichnis vom barmherzigen "Samariter" gehört es zur lukanischen literarischen und theologischen Strategie zu zeigen, wie der Angehörige einer Randgruppe, die den Jerusalemer Tempelkult nicht anerkennt, besser als der Priester und Levit weiß, wo die religiösen und moralischen Prioritäten liegen. Wenn auch die Perikopen von Lukas selbst tief bearbeitet sind, zeigen sie immer noch palästinisches Lokalkolorit und Kenntnis der religiösen Unterschiede, die aus der jüdischen Binnenperspektive und mit guter Kenntnis der Bestimmungen des Gesetzes betrachtet werden. In der Apostelgeschichte wird das Christ-Werden einiger Mitglieder der Garizimgemeinde in Samarien als die zweite Entstehungsgeschichte einer christlichen Gemeinde nach der in Jerusalem ausführlich erzählt.

In neun Thesen des 5. Kapitels wird das Ergebnis zusammengefasst. Die Samarienmission gehört nach Lukas zu der in Jes 49,6 verheißenen eschatologischen Sammlung Israels.

Eine übersichtliche Tabelle der Zusätze in der samaritanischen Fassung des Dekalogs (Anhang I) und 13 Karten (Anhang II) sowie ein relativ ausführliches Literaturverzeichnis und Register schließen das Buch ab.

Es handelt sich um eine Arbeit, die, wie schon gesagt, breite Leserschaft unter den Vertreten mehrerer Fächer der Bibelwissenschaft und der Geschichte des Altertums finden wird. Die Ergebnisse sind überzeugend, wenn sie auch manchmal einseitig interpretiert werden. Wenn die Autorin z. B. bestreitet, dass Lk 9,51-56 eine Vorbereitung der Heidenmission ist (238), dann wird das dem Text nicht gerecht. Denn Lukas betont die Übergänge, und die spätere Missionierung der Samariter als einer Randgruppe Israels bildet nach Lukas eine Brücke zur Heidenmission. Das Bild des in der Beurteilung der Samariter "neutralen" Lukas stört auch die Rede vom Samariter als einem "Fremden" in Lk 17,18. Da diese Einwände das theologische Fazit nur wenig ändern, kann die Arbeit von B. als sehr gelungen und hilfreich bezeichnet werden.