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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

915–917

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruszkowski, Leszek

Titel/Untertitel:

Volk und Gemeinde im Wandel. Eine Untersuchung zu Jesaja 56-66.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 188 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 191. Lw. DM 64,-. ISBN 3-525-53875-8.

Rezensent:

Klaus Koenen

Die von Klaus Seybold betreute Baseler Dissertation (1998) entwickelt aus den unterschiedlichen Auffassungen von Volk und Gemeinde in Jes 56-66 eine These zur Entstehung des Tritojesajabuchs, die in Abgrenzung von O. H. Steck mit einer Fülle kurzer, je eigenständiger Fortschreibungstexte rechnet.

Jes 60-62, der älteste Kern, der Deuterojesaja noch nahe steht, jedoch im Fehlen von "Israel" und der Bedeutung des Tempels ein eigenes Profil entwickelt, verheißt das voraussetzungslose Eintreffen des Heils. Um diesen Kern hat man angesichts der ausbleibenden Erfüllung sukzessive immer wieder neue Texte geschrieben, die ausweislich der Bezüge auf Kap. 60-62 die Glaubwürdigkeit dieser Prophetie - also nicht der Worte Deuterojesajas - bekräftigen sollen. Zunächst wurde 57,14-20 vorangestellt, wo gegenüber 62,10 ff. die Notwendigkeit, nach Jerusalem zu kommen, bestritten, das unmittelbar bevorstehende Eintreffen des Heils aber noch erwartet wird. Der nächste Text, 58,1-12, formuliert erstmals Bedingungen für die Teilhabe am Heil. Jes 63,1-6 sieht im Gegensatz zu Kap. 58 Handlungsbedarf nicht beim Volk, sondern bei Gott. Der an 60,12 anknüpfende Text expliziert, dass das Heil durch die Vernichtung der Feinde herbeigeführt wird. Jes 63,7-64,11 entstand, nachdem die voranstehenden Verheißungen gescheitert schienen. Die Einheit des Volkes wird in einer Situation hervorgehoben, in der diese auf dem Spiel stand. Jes 59 hofft anders als 58 nicht auf die Wirksamkeit der Verkündigung, sondern - bei anderen Anklagepunkten - auf die einer Theophanie. Vor allem wird das in 63,1-6 angekündigte Gericht erstmals als Läuterungsgericht verstanden und auf innerisraelitische Frevler ausgeweitet. Damit klingt hier eine Spaltung Israels an. Jes 56,9-57,2 führt den Gedanken - die Fronten scheinen sich verhärtet zu haben - fort und kündigt einer konkreten, innerisraelitischen Gruppe das Gericht an. Ab Jes 65 rückt die Spaltung des Gottesvolks ins Zentrum. An den Verheißungen von Kap. 60-62 wird festgehalten, aber sie werden nur noch auf eine Gruppe bezogen. Jes 57,3-13 prangert die Vergehen der Götzendiener an, die dem Gericht anheimfallen. In der Symmetrie der Gesamtkomposition bildet der Text ein Pendant zu Kap. 65 und ist wohl mit diesem zusammen entstanden. Jes 66 verheißt das Heil in Auslegung von Kap. 60-62 allen Jahwe-Verehrern unabhängig von ihrer nationalen Herkunft und stößt damit gegenüber Jes 65 zu einem neuen, alle Völker einbeziehenden Universalismus vor. Mit der Aufnahme der Völker soll die durch die Vernichtung der Sünder hervorgerufene Unterbevölkerung Jerusalems ausgeglichen werden, so dass sich der Universalismus der Vernichtung der Götzendiener bzw. letztlich "der Verurteilung der importierten fremden Religionsinhalte" verdankt (124). Die letzte Fortschreibung, Jes 56,1-8, zieht aus Kap. 66 Konsequenzen für die Politik. Den Davididen, die mit der Jes 39,7 aufnehmenden Chiffre "Eunuchen" gemeint sind, wird in einer ambivalenten Heilsverheißung zwar ein ewiger Name zugesagt, Nachkommenschaft wie Fortbestand jedoch abgesprochen. Die Relativierung des genealogischen Prinzips wird auf das dynastische Prinzip ausgedehnt, um die davidische Abstammung nicht mehr als Kriterium für die Machtausübung in Jerusalem gelten zu lassen und so eine nichtdavidische Führung zu legitimieren, sei es im Blick auf andere Machtprätendenten, sei es im Blick auf Jahwes Alleinherrschaft. Zum Desinteresse an David bzw. der Wiederherstellung davidischer Herrschaft verweist R. auf Dtjes; Sach 14; Esr/Neh und Chr. In den Texten des Tritojesajabuchs spiegelt sich nach R. somit eine Entwicklung vom Gottesvolk zur Entscheidungsgemeinschaft: Aus dem Volk, in das man geboren wird, wird eine Gemeinschaft, für die man sich entscheidet, aus dem erwählten Volk die Gemeinde des erwählten Gottes.

Bei der historischen Einordnung der Texte ist R. zurückhaltend. Nur für Jes 56,1-8 glaubt er, die Zeitumstände etwas genauer fassen zu können, wenn er den Text in die Zeit des Endes der auch in nachexilischer Zeit fortbestehenden Davidischen Herrschaft ansetzt. Da sich dieses Ende aber nicht genau fassen lässt, bleibt es letztlich bei der vagen Datierung in persische oder hellenistische Zeit.

Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass hier eine These kurz und klar durchgezogen wird, ohne sie in allen Einzelheiten zu belegen und in ausführlicher Diskussion mit der Sekundärliteratur abzusichern (das Literaturverzeichnis umfasst nur wenige Seiten und lässt selbst so gewichtige Arbeiten wie den Kommentar von W. A. M. Beuken vermissen). Das provoziert natürlich kritische Anfragen: Die These der sukzessiven Fortschreibung in kleinen Blöcken setzt bei der Erstellung einer relativen Chronologie eine lineare Entwicklung voraus, deren Problematik R. zugesteht (19), ohne daraus jedoch die Konsequenz zu ziehen, bei allen Anspielungen zu fragen, welcher Text der gebende und welcher der nehmende ist. Jes 63,1-6 knüpft angeblich an 60,12 an. Was spricht dafür, dass der weithin als später Zusatz betrachtete Vers schon vorlag und die Abhängigkeit in der angenommen Richtung verläuft?

Die Stärke der These besteht darin, dass sie sowohl die Querverbindungen als auch die Differenzen zwischen den Texten ernst nehmen will. Fraglich ist jedoch, ob es überhaupt wahrscheinlich ist, dass Redaktoren ihre Texte immer nur in kleinen Blöcken fortgeschrieben haben. Lassen sich die Bezüge zwischen den Texten nur als Anspielungen neuer Redaktoren verstehen? Können sie nicht auch, sofern keine Spannungen bestehen, auf gleiche Verfasserschaft deuten? Aus der Heilszusage für Nahe und Ferne in 57,19 schließt R. (29 f.), dass die Heilsempfänger nicht nach Jerusalem kommen müssen, die Straße von V.14 also metaphorisch gemeint und als Aufforderung an das Volk zu verstehen sei, den Weg der Buße zu beschreiten. Auf den an mich gerichteten schmeichelhaften Vorwurf, dem Wortlaut des Textes zu großes Gewicht beizumessen, kann ich natürlich nur erwidern, dass R. genau diesen missachtet. V.14 spricht vom Volk in der 3. Person, stellt also keine Aufforderung an das Volk dar. Der Weg ist folglich nicht metaphorisch zu verstehen, und für die Heilsempfänger ist durchaus eine Reise nach Jerusalem im Blick. Sie bedeutet für die Fernen Heil. Mithin weist der Text keine Differenzen gegenüber 60-62 auf und kann zur selben Schicht gerechnet werden.

Auf der anderen Seite lassen sich innerhalb der von R. angenommenen Fortschreibungstexte, deren Abgrenzung und Einheitlichkeit oft nicht hinreichend diskutiert wird, durchaus Spannungen feststellen. In Jes 58 verlangt gerade der Volksbegriff eine Differenzierung. V. 1 f. sieht das ganze Volk als Sünder, V. 3 ff. hat jedoch nur Vergehen der Oberschicht im Blick (gegen 46 f.). In Jes 59 und 65 ist nach R.s eigener Sicht (72 f.87) zum Teil vom Volk als Einheit die Rede (59,1 ff.; 65,17 ff.), zum Teil wird aber eine Spaltung vorausgesetzt (59,20; 65,1-16). Hätte hier nicht stärker differenziert werden müssen?

Nur wenige Verse werden als Glossen betrachtet (57,21; 58,13 f.; 66,21). Für 57,13b wird die Ursprünglichkeit behauptet, gegen die sekundäre Herkunft wird jedoch nur eingewandt, dass V. 3-13 innerhalb von 56,9-59,21 die letzte Fortschreibung sei, der Versteil folglich nicht noch später angesetzt werden könne (98). Dies ist ein Zirkelschluss: erst wenn man gezeigt hat, dass V. 13b zum Voranstehenden gehören muss, kann man V. 3-13 als letzte Fortschreibung betrachten.

Die Anfragen zeigen: Es handelt sich hier um eine diskussionswürdige Arbeit.