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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

910–913

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter, u. Christian Link

Titel/Untertitel:

Die dunklen Seiten Gottes. 1: Willkür und Gewalt. 2: Allmacht und Ohnmacht.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. 239 S. u. 367 S. gr.8. Kart. je DM 39,80. ISBN 3-7887-1524-3 u. 3-7887-1564-2.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

In den letzten Jahren gibt es in der philosophischen und theologischen Diskussion eine "Renaissance des Bösen".1 Das allgemeine Interesse an dem Problem des Bösen in der Welt zeigt sich auch darin, dass der erstmals im Jahre 1995 publizierte erste Band des zu besprechenden Werkes bereits in 3. Auflage erschienen ist. Seine Besonderheit beruht u. a. darauf, dass es über die Frage nach Gott und dem Bösen zwei bei Beginn der Planung Berner theologische Fakultätskollegen, den Alttestamentler Walter Dietrich und den Systematiker Christian Link, ins Gespräch gebracht hat. Aktuelle, systematisch- praktisch zu behandelnde Gegenwartsfragen und die Bibel (ganz überwiegend das Alte Testament) werden auf diese Weise von je einem Fachmann behandelt.2 Das bringt gegenüber dem Verfahren, dass ein Systematiker bei der Diskussion des Problems "Woher kommt das Böse? ... Wenn Gott gut ist"3 eine systematische Theorie entwickelt und dabei selbst biblische Belege heranzieht, den bedeutenden Vorteil, das Alte Testament ausführlich zu Wort kommen zu lassen. In der gemeinsamen Arbeit von W. Dietrich und C. Link geschieht das, indem die beiden Verfasser sich bei den Abschnitten abwechseln.

Wer jeweils spricht, wird nicht ausdrücklich angezeigt, geht aber aus Inhalt und Diktion eindeutig hervor. Dem unbefangenen Leser der beiden Bände - von denen der zweite bei Weitem umfangreicher ausgefallen ist - bleibt allerdings ein Rest an Zweifel, wieweit es zu einem echten Dialog gekommen ist. Das hängt sicherlich auch mit dem Stil zusammen, der nicht nur durch den Unterschied der Temperamente, sondern auch durch die charakteristische Arbeitsweise unterschiedlicher theologischer Fächer geprägt ist: In den Beiträgen des Systematikers fällt auf, dass ihre Diktion von einer Kette von Fragen geprägt ist, in denen Probleme aufgeworfen werden, wie sie sich Menschen von heute im Hinblick auf die Gottesfrage angesichts des Bösen in der Welt aufdrängen - diese Fragen vermitteln zuweilen fast den Eindruck von Ratlosigkeit -, während der Alttestamentler nach seiner Gewohnheit referiert, was in der Bibel nachzulesen ist. Vielfach geschieht das in Form einer Nacherzählung, wobei in einer versteckten Anmerkung (2, 155) darauf hingewiesen wird, "daß alle diese Aussagen nicht die historische Realität wiedergeben, sondern die Meinung des Schriftstellers zu den Vorgängen". Offenbar bestimmt als Adressat der schlichte Bibelleser die Art der Behandlung, denn W. Dietrich schreibt sonst durchaus als historisch-kritischer Exeget. Aber das Nacherzählen, seit G. von Rad und der "narrativen Theologie" auch theologisch legitimiert, hat ja durchaus sein Recht, bietet allerdings auch Probleme: Abgesehen davon, dass die Frage nach der geschichtlichen Wirklichkeit mit allen Problemen ausgeklammert bleibt, ist es in gewissem Maße den Lesern selbst überlassen, sich von den ja Glaubenszeugnisse aus alter Zeit darstellenden biblischen Erzählungen her die Entsprechungen zu den existentiellen Fragen ihrer Gegenwart zu erarbeiten.

Betrachtet man die Gliederung des Werkes im Ganzen, ergibt sich ein systematisch-theologischer Aufriss. Bd. 1 behandelt im Rahmen der Gotteslehre die beiden Hauptthemen "A Der willkürliche Gott" (17-76), "B Der gewalttätige Gott" (77-220). Es hängt sicherlich mit der reformierten Prägung des Systematikers Link zusammen, wenn der Topos "Erwählung" den Leitfaden für den Abschnitt A bildet (auf den er am Schluss von B noch einmal zurückkommt). Von Calvin bis Barth (der überhaupt am meisten zitiert wird, aber auch häufig Luther) bleibt er immer im Hintergrund. Schon die Überschrift des einleitenden Abschnittes ist eine Frage: "Tut Gott, was er will?" (A 1). In den weiteren Unterabschnitten (A 2 "Israel: Die Innensicht der Erwählung"; A 3 "Israel und die Kirche: Der Ort der Erwählung"; A 4 "Verwerfung und Verstockung: Schatten der Erwählung") kommen abwechselnd die Gesprächspartner zu Wort. In dem diesen Abschnitt beschließenden systematischen Diskurs (A 5 "Der verborgene Gott") wird dem (reformierten) Traditionsdogma von der (doppelten) Prädestination entschieden der Abschied gegeben: Indem auf das Licht und die Gnade Gottes verwiesen wird und auf eine "offene Situation"(1, 76), ist die Verkündigung für die Botschaft der Gnade frei - das ist wohl Luthers Position!

Freilich wird diese vorläufige Antwort im nächsten Hauptabschnitt sogleich wieder in Frage gestellt. Erneut beginnt er mit einer einleitenden Frage: "Ist Gott ein Gewalttäter?" (Überschrift zu B 1, S. 77). In B 2.1 kommen nun all die Stellen zu Wort, in denen von JHWHs eifersüchtigem Kampf gegen die anderen Götter in Israel die Rede ist, den deuteronomischen Forderungen auf Exklusivität, aber auch seinem Liebeswerben um Israel (Hos 11,1-4). B 3.1 behandelt alttestamentlich das berüchtigte Thema vom "Gott der Rache", wozu der Systematiker das Thema "Rache - Hoffnung der Unterdrückten" hinzugesellt (B 3.2). Dazwischen steht ein bedenkenswerter systematischer Abschnitt (B 2.2) über das zwiespältige Problem der Toleranz angesichts der Ausschließlichkeitsforderung des einen Gottes. In B 4.1 u. 2 wird die Dialektik zwischen dem Zorn Gottes und seiner Liebe besprochen. Gegen Hegels These "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" wird mit D. Ritschl - der übrigens häufig zitiert wird4 - die Aussage formuliert: "Gott interpretiert und kritisiert die Geschichte" (1, 181). Da dies liebend geschieht, wird auch die Auffassung des (jüngsten) Gerichts als reines Strafgericht hinfällig. Statt dessen zeigt sich im Opfer Christi der "in die Schmerzen einer an Gewalttätigkeit leidenden Welt" hineingerissene Gott, die wirklich "dunkle Seite Gottes" (1, 186).

Einen grundsätzlich ähnlichen Gedankengang finden wir auch in Abschnitt 5.1 u. 2: JHWH und der Krieg, JHWH und der Bann, "Texte des Terrors".5 Von einem pazifistischen Standpunkt aus kommen die Verfasser hier zu einem non liquet. Was ist es angesichts der Erwählung des einen Volkes mit dem Schicksal der Opfer dieser Geschichte - der Midianiter, Amalekiter, Ägypter? Die Antwort wird auch hier von der Christologie her gegeben: In Christus ist das Opfer Gott selbst (5.2.c).

Bd. 2 behandelt das Gesamtthema von einer anderen Seite. Hier kommt der theoretische Aspekt des "Bösen" noch zentraler in den Blick. Den Hauptteil bildet dabei die Diskussion über Gottes Allmacht, dialektisch aufgeteilt in die Abschnitte "A Der allmächtige Gott" (2, 115-134) und "B Der ohnmächtige Gott". Die Formulierung aus dem Credo entspricht zugleich dem philosophischen Gottesbild. Das 18. Jh. mit der Vorliebe für literarische Dialoge hätte für diese Position etwa einen "Philalethes" diskutieren lassen; "Philobiblos" wäre dann der fiktive Partner gewesen, der den Gott der Bibel ins Gespräch bringt. Der Aussage aus Gen 1,31, nach der Gott seine Schöpfung als "sehr gut" beurteilte (2, 39), tritt in A 3a als Antipode Markion mit seinem gegenteiligen Urteil (dem der Gnosis) (2, 42) gegenüber, und als Vermittler Leibniz in seiner Theodizee, nach der die Schöpfung "die beste aller möglichen Welten" ist (2, 46 f.). Die Antwort führt in die Richtung: "Der Mensch - das Risiko der Schöpfung" (A 3b) - aber nicht direkt. Denn auf die Frage: "Unde malum: Woher kommt das Böse?" (A 5c) wird, unter Abweisung des Gedankens, dass die Theologie Gott rechtfertigen müsse, "jenseits der Theodizee" (2, 124) mit dem Hinweis auf den Gott Hiobs geantwortet, der mit dem exemplarisch Leidenden mitgeht. Damit ist dann der Ansatz für den Abschnitt B gegeben. Hier kommen nun religionsgeschichtliche Aspekte zur Sprache: etwa die regionale Beschränkung JHWHs in alter Zeit auf Israel und sein Land (B 2b), aber auch seine Selbstbeschränkung gegenüber der Freiheit des Menschen (B 2c). Dann geht es einerseits um "Das stille Handeln Gottes nach dem Alten Testament" (B 4), u. a. mit dem bekannten Fazit der Josephsgeschichte Gen 50,19 f., das mit Recht mit der weisheitlichen Aussage Spr 16,9 in Verbindung gebracht wird (2, 238)6. Andererseits geht es um die Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist (B 6) und sich gerade im Leiden, auch im Leiden Gottes, zeigt (B 7), indem der Providenz Gottes als Lehre zur Welterklärung der Abschied gegeben, seinem Dabeisein als Glaubensgewissheit Ausdruck verliehen wird (B 5, a-b). Das Ergebnis ist dann: "Deshalb müssen wir die Frage der Theodizee offen halten" (2, 314). Gott bleibt, gerade in der Klage und gar der Anklage, unser Gegenüber.

Am Schluss kommt dann noch einmal das Schema der traditionellen Dogmatik zum Vorschein: Bd. 2 endet mit dem in der Tradition mit "Von den letzten Dingen" überschriebenen Kapitel (C, 315-359). Hier kommen auch die traditionellen Themen: Jüngstes Gericht und Weltvollendung zur Sprache. Dass beides unter dem Vorzeichen von Gottes Gerechtigkeit stehen und im Beisein Christi ein Zu-uns-selbst-Kommen bedeuten soll, kann man als Fazit unterstreichen.

Im Ganzen gehört das Werk zur alten Gattung der Apologie. Aber sie geschieht auf einem argumentativ anspruchsvollen Niveau. Wenn weder Bibelwissenschaftler noch Systematiker hier etwas grundlegend Neues sagen, also auf mit Bibel und Theologie Vertraute keine Überraschungen warten, besagt das doch nichts gegen die Notwendigkeit eines solchen Disputes. Denn was in die vielen suggestiv formulierten Fragen gefasst wird, sind, wenn auch tendenziell gelegentlich überspitzt, tatsächlich Probleme nachdenklicher Menschen heute, und von selbst finden sie nicht die in der Bibel verborgenen Antworten. So wird, wie schon der erste Band, auch der zweite seine Leser finden.

Gewünscht hätte man außer dem Register der Namen und Sachen und der Bibelstellen (2, 362-367), wenn schon nicht ein ausgeführtes Literaturverzeichnis, so doch zumindest eine Liste der in nicht wenigen Anmerkungen - wenn auch in auffällig beschränkter Auswahl - zitierten Autoren.

Fussnoten:

1) Vgl. Alexander Schuller u. Wolfert von Rahden [Hrsg.], Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Berlin 1993. - Nicht nur wurde eine ältere Arbeit in deutscher Übersetzung unlängst neu auf den Markt gebracht: Jeffrey Burton Russell, The Prince of Darkness: Radical Evil and the Power of God in History. Ithaca, N.Y. 1988 = Biographie des Teufels: Das radikal Böse und die Macht des Guten in der Welt. Wien u. a. 2000. Es erschienen auch mehrere neue Arbeiten zum Thema: Hermann Häring, Das Böse in der Welt: Gottes Macht oder Ohnmacht? Darmstadt 1999; Anselm Eder, Das Böse: woher es kommt und wofür es gut ist. Wien u. a. 1999.

2) Dies geschah auch schon durch Walter Gross u. Karl-Josef Kuschel, "Ich schaffe Finsternis und Übel!" Ist Gott verantwortlich für das Übel? Mainz 1992, aber in zwei getrennten Abschnitten über biblische Grundlage und systematische Reflexion. Im Ergebnis stimmen übrigens Dietrich und Link mit deren zentraler These überein, vgl. Bd. 2, 314, Anm. 494.

3) Titel des Werkes von Walter Simonis, Graz, Wien, Köln 1999.

4) Hier in einem Beitrag "Gotteserkenntnis durch Wiedererkennen", in: J. Roloff/H. G. Ulrich [Hrsg.], FS F. Mildenberger, 1994 (144-152), 147.

5) Eine Formulierung von Phyllis Trible, Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Narratives, Philadelphia 1984 (hier nicht zitiert und offenbar auch nicht gemeint).

6) Zum Gottesbezug der frühen Weisheit vgl. auch Andreas Scherer, Das weise Wort und seine Wirkung (WMANT 83). Neukirchen-Vluyn 1999.