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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

892–894

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brück, Michael von

Titel/Untertitel:

Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus.

Verlag:

München: Kösel 1999. 238 S. 8. Kart. DM 36,-. ISBN 3-466-20445-3.

Rezensent:

Hans Waldenfels

Ende der 1990er Jahre veröffentlichte das Ehepaar Herbert und Mariana Röttgen unter dem Pseudonym Victor und Victoria Trimondi ein 816 Seiten starkes Buch (Der Schatten des Dalai Lama. Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus, Patmos: Düsseldorf), das eine deutliche Anfrage an die Hintergründigkeit des tibetischen Buddhismus darstellt. Bislang gibt es von buddhistischer Seite kaum eine nennenswerte öffentliche Auseinandersetzung damit; es wird eher ignoriert. Umso dankbarer ist man von Brück, dass er zu den von den Röttgens behandelten Themen Stellung nimmt und dabei manches relativiert.

B. beginnt in Kap. 1: Deutungen und Projektionen (11-30) mit der Geschichte der Wahrnehmung Tibets im Westen. Einleitend macht er sich einen Satz aus Th. Dodin/H. Rüther, Mythos Tibet (1997) zu eigen: "Betrachtet man das Bild Tibets im Westen und seine historische Entwicklung, ist nicht zu übersehen, daß eine sachliche Herangehensweise eher die Ausnahme war und ist." Die Entdeckung Tibets beginnt mit Marco Polo, führt über christliche Missionare zu Csoma de Körös, einem Ungarn, der im 19. Jh. nach Zentralasien reiste. Bedeutend war, dass Orientalisten und Buddhologen den tibetischen Buddhismus lange eher als Abweichung vom ursprünglichen Buddhismus betrachteten.

Was dann bis heute an Anfragen, Kritik und Projektionen an den tibetischen Buddhismus herangetragen wird, lässt sich vielfältig belegen. Nun geht es freilich auch bei den Röttgens weniger um den Anspruch neuer Einsichten; vielmehr stellt sich die Frage, wieweit die vorgetragenen Thesen der Wirklichkeit entsprechen. Wichtig ist B.s Vorgabe: "Man muß sich aber hüten, die Verhältnisse einer anderen Kultur mit europäischen Kategorien beschreiben oder gar beurteilen zu wollen, und vor allem dürfen nicht heutige Werte und Maßstäbe auf vergangene Epochen und fremde Kulturen übertragen werden." Unerlässlich ist, dass jede Kultur von ihren eigenen Maßstäben und Deutungsmustern her interpretiert wird (28 f.).

In Kap.2: Religion und Politik (31-106) erübrigen sich freilich dann im Sinne der zitierten Vorgabe die ersten allgemeinen Ausführungen zur Sache (32-38); sie beweisen höchstens, dass sich am Ende doch jeder auf seine Weise in die Begegnung mit Fremdem einbringt. Schwerpunkt des Kapitels ist die Verbreitung des Buddhismus in Tibet, die auch B. unter dem Gesichtspunkt der Machtentfaltung und in ihren kriegerischen Formen betrachtet (vgl. ausdrücklich 56-88). Zwei Vorwürfen tritt er deutlich entgegen: Sowohl den Vorwurf eines absolutistischen Gottkönigtums der Dalai Lamas (78) als auch die Behauptung, dass in der Politik religiöse Mythisierungen bzw. tantrische Herrschaftsmodelle zum Zuge gekommen seien (80), wehrt er ab. Vor allem den 14. Dalai Lama nimmt er gegen Verdächtigungen in Schutz (vgl. 88-104). Im Ergebnis aber gilt doch Goethes Rede vom "Mischmasch aus Irrtum und Gewalt" für die Geschichte des Menschen in allen Religionen und Kulturen (105), auch wenn das nicht das letzte Wort ist.

Mit dem Verweis auf den Tantrismus lenkt B. dann im Kap. 3: Mâhâyana und Tantra (107-157) den Blick auf jene geheimnisvolle Welt, die Uneingeweihten weithin verschlossen bleibt, gerade darum aber Anlass zu Vermutungen bis Verdächtigungen nicht zuletzt im Geschlechterverhältnis bieten. B. gesteht den Röttgens zu, dass ihre die Frau betreffenden Zitate korrekt sind; freilich würden sie sie unsachgemäß, nämlich nicht im Kontext der indischen Sozial- und Kulturgeschichte interpretieren (vgl. 109). Dennoch bleibt die buddhistische Bestimmung der Geschlechterdifferenz als "eine vorläufige, konventionelle Kategorie und Erscheinung ..., die sich letztgültig ... als unerheblich für die geistige Befreiung darstellt" (110), diskussionswürdig. Denn es muss ja interreligiös möglich sein, nach der Klärung und Einordnung von Fakten diese zu diskutieren und evtl. als fragwürdig zu erweisen. Was für den Buddhismus ganz allgemein gilt, zieht da die besondere Aufmerksamkeit auf sich, wo im tantrischen Buddhismus "Symbolik und Praxis der Polarität der Geschlechter eine wesentliche Rolle" (116) spielen. Dass damit eine sensible Materie angesprochen und an eine eher verschwiegene Welt gerührt wird, ist auch bei B. nicht zu übersehen. Dass der praktisch mögliche Missbrauch der Polarisierung nicht dem Wesen des Tantra entspricht, sucht B. durch eine eingehende Befassung mit den Grundbegriffen, wie sie schriftlich und durch Bezeugungen vermittelt werden, aufzuzeigen. Die Grenze einer sympathischen Annäherung bleibt aber gerade hier die persönliche Uneingeweihtheit bzw. der Ausfall persönlicher Erfahrungen; für den Außenstehenden heißt das: Es ist Respekt und Verzicht auf voreiliges Urteilen zu fordern.

Dankenswerterweise geht B. dann auch auf das in unseren Tagen immer stärker diskutierte Kâlacakra-Tantra und den Sambhala-Mythos ein (144-157). Das bislang in deutscher Übersetzung nicht vorliegende Kâlacakra-Tantra kündet von einem großen apokalyptischen Endkampf unter der Führung eines "messianischen" Herrschers, der sich auf zwei Ebenen abspielt: auf der zeitlichen Ebene der historischen Wirklichkeit und auf der Ebene der überzeitlichen Bewusstseinserfahrung. Mit diesem Tantra hat sich der Sambhala-Mythos und seine Botschaft vom kommenden Reich und seiner Königsdynastie verschmolzen; der seit dem 19. Jh. "politisch instrumentalisiert und außenpolitisch eingesetzt" worden ist (156). Eine dritte Wurzel, die im Zusammenhang mit der Frage von Religion und Politik gerade im Hinblick auf die Gelugpa-Schule, der die Dalai Lamas angehören, diskutiert wird, ist die Verehrung der Gottheit Dorje Shugden - ein Kult, den der 14. Dalai Lama inzwischen untersagt hat. B. behandelt Die Kontroverse um Shugden in Kap. IV (158-210) kenntnisreich und ausführlich. Die sehr verwickelte Geschichte des Shugden-Kultes, die offensichtlich an die Wurzeln des tibetischen Buddhismus zurückführt, kann hier nicht in Kürze nachgezeichnet werden, zumal dabei zu viele Gesichtspunkte einer ohnehin in vielen Punkten ungesicherten Geschichte verloren gingen. Auch so aber lässt sich nachempfinden, dass die Distanzierung des heutigen Dalai Lama von einer als Wurzelgrund empfundenen Praxis Widerstände (von innen) und Rückfragen (von außen) provozieren muss. Es kommt hinzu, dass sich - wie B. andeutet - hier dann die Frage nach der Religionsfreiheit anschließt (vgl. 209 f.).

B.s Buch endet mit dem Kap. V: Gespräche mit dem 14. Dalai Lama (211-238). Sie beziehen sich in allgemeiner Form auf Gewalt und Gewaltlosigkeit, die gemeinsame Verantwortung aller Religionen, Religion und Politik, Konversion, Toleranz und die Friedensfrage, politische Kultur, Bildung und die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie. Hier gelingt es B. leider nicht, im unmittelbaren Gespräch mit dem Dalai Lama die wirklich ihn und seine Gestalt des Buddhismus betreffenden Fragen zu stellen, geschweige denn sie einer Klärung zuzuführen.

B. s Buch trägt aber auch so, wie es vorliegt, zur Versachlichung der Rückfragen an die Rolle des tibetischen Buddhismus in der heutigen Welt bei. Dabei ist nicht zu übersehen, dass B. der Grundfrage nach dem "Schatten des Dalai Lama" - zumindest indirekt - mehr Berechtigung zuerkennen muss, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.