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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

852–860

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

"Religion in Geschichte und Gegenwart"

Zur vierten, völlig neu bearbeiteten Auflage*

"Mit der vierten Auflage erreicht die RGG eine fast hundertjährige Geschichte. Alle vier Auflagen spiegeln sowohl als Gesamtdarstellungen als auch in den einzelnen Artikeln das 19. und 20. Jahrhundert wider wie kaum ein anderes Dokument der religionswissenschaftlichen und theologischen Wissenschaftsgeschichte."

Mit diesen Worten beginnt das Vorwort zu Bd. 1 von RGG4 (VVI), in welchem die Herausgeber Absicht und Leitlinien der Neuausgabe dieses Standardwerkes erläutern. Die neue, auf acht Bände angelegte RGG markiert wissenschaftsgeschichtlich die Schwelle vom 20. zum 21. Jh. Wie die früheren Auflagen jeweils für Jahrzehnte in Forschung und Lehre als maßgebliche Sammlung des relevanten Wissensstoffs aus den Gebieten der Religionswissenschaften und der Theologie galten, so ist dies auch von der Neuauflage zu erwarten. Sie soll daher nicht nur unter dem Blickwinkel gewürdigt werden, dass sie den Ertrag des inzwischen vergangenen Jahrhunderts bündelt, sondern auch im Hinblick darauf, welche Tendenzen der Forschung sich an ihr ablesen lassen, die zumindest für den Anfang des neuen Jahrhunderts neue Perspektiven eröffnen.

Um das Gesamtunternehmen zu würdigen, empfiehlt sich ein Vergleich mit den bisherigen Auflagen der RGG. Er zeigt zugleich den Wandel der Interpretationen, denen der Begriff der Religion, welcher diesem Lexikon seinen Namen gibt, unterworfen ist. Von der 1. bis zur 3. Auflage lautete der Titel "Die Religion in Geschichte und Gegenwart". "Religion" war der theologische Leitbegriff des Neuprotestantismus im 19. Jh. Dessen Sichtweise prägte die 1. Auflage (1909-1913), unter Mitwirkung von H. Gunkel, einem der führenden Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, und O. Scheel hg. von F. M. Schiele. Die Anregung zu diesem Handwörterbuch ging auf den liberalen Theologen M. Rade zurück (vgl. RGG1 I, V). Über den traditionellen Fächerkanon protestantischer Theologie hinaus fanden die außerchristliche Religionsgeschichte, Kunst und Musik, Pädagogik, Sozialwissenschaft, Kirchenrecht und Kirchenpolitik, sowie das Christentum der Gegenwart Aufnahme. Auch wenn diese Grundkonzeption in den folgenden Auflagen jeweils charakteristische Veränderungen erfuhr, wurde sie doch bis zur 3. Auflage beibehalten.

Als die 2. Auflage (1927-1932), in Verbindung mit A. Bertholet, H. Faber und H. Stephan hg. von. H. Gunkel und L. Zscharnack, erschien, hatte sich die theologische Landschaft nach dem 1. Weltkrieg völlig gewandelt. Verantwortlich hierfür war vor allem die Dialektische Theologie, die den Bruch mit dem Kulturprotestantismus der Lehrergeneration vollzog. Aber auch Lutherrenaissance und Jungluthertum standen für einen theologischen Neubeginn, den es zu berücksichtigen galt. In dieser Umbruchsituation waren die Grundanliegen des Neuprotestantismus neu zu artikulieren, was auf eine völlige Neu-
bearbeitung der RGG hinauslief. Neben der veränderten Gesamtsituation der Theologie sollten die außerchristlichen Religionen und die Beziehungen von Religion und Kultur stärker in den Blick genommen werden.

Die 3. Auflage (1957-1965), in Gemeinschaft mit H. Frhr. von Campenhausen, E. Dinkler, G. Gloege und K. E. Løgstrup hg. von K. Galling, stand im Zeichen der kirchlichen und theologischen Neuorientierung nach dem Ende des 2. Weltkriegs und des europäischen Wiederaufbaus nach der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Dazu gehörte auch die theologisch-kritische Neubestimmung des Religionsbegriffs, die erkennbar unter dem Einfluss der Wort-Gottes-Theologie bzw. der Kerygmatheologie der Bultmann-Schule stand, ohne dass eine einzelne theologische Richtung das Gesamtwerk dominierte. Programmatisch hieß es im Vorwort (Bd. 1, V): "Der christliche Glaube im evangelischen Verständnis soll die Neuauflage des Werkes bestimmen. Er ist die ordnende Mitte, von der aus kritisch zu allen Erscheinungsformen des Religiösen Stellung genommen wird." Zur theologischen Neuorientierung gehörte auch das Bemühen, die Grenzen einer überwiegend deutschen Sicht, die noch die 2. Auflage geprägt hatte, zu überschreiten. Neben dem gesamten Bereich der orthodoxen Kirchen wurden nun auch die Ökumene, die Mission und die "jungen Kirchen" einbezogen. Außerdem traten neben die theologischen Hauptdisziplinen und die Religionsgeschichte als eigenständige Fächer die biblische und die christliche Archäologie und Kunst, sowie das Kirchenrecht und die Kirchenmusik. In sachnotwendiger Auswahl kamen die Pädagogik, die Literaturwissenschaft und die Sozialwissenschaft hinzu. Die Zahl biographischer Einzelartikel wurde gegenüber den älteren Auflagen deutlich reduziert. Dafür bot die Neuauflage wissenschaftsgeschichtliche Überblicksartikel.

Auch wenn die Herausgeber die Gemeinsamkeit mit den vorherigen Auflagen betonen, unterscheidet sich die 4. Auflage von den Vorgängerinnen bereits im Titel. Er lautet nun ohne den bestimmten Artikel "Religion in Geschichte und Gegenwart". Von der Religion wagt man 40 Jahre nach der letzten Auflage der RGG offenbar weder theologisch noch religionswissenschaftlich mehr zu sprechen. Bei der Tilgung des bestimmten Artikels handelt es sich jedenfalls um weit mehr als nur um die beiläufige Korrektur eines "mißverständlichen" Titels, wie die Herausgeber der 4. Auflage, H. D. Betz, D. S. Browning, B. Janowski und E. Jüngel suggerieren (RGG4, Bd. 1, V). Mit dem bestimmten Artikel wird vielmehr der letzte verbliebene Rest des ursprünglichen kulturprotestantischen Programms dieses Lexikons beseitigt.

Keineswegs "missverständlich", sondern programmatisch hatte nämlich der Prospekt der 1. Auflage von der Religion gesprochen. Angekündigt wurde ein gemeinverständliches (!) Handwörterbuch mit folgender Zielsetzung: "Weil die [!] Religion heute wieder eine gewaltig spürbare Macht wird, bedürfen in erster Linie und dringend eines Nachschlagewerkes über die Religion der Gegenwart diejenigen, welche die jüngsterwachte Kraft der Religion am lebhaftesten empfinden. Das sind aber alle geistigen Führer des modernen Lebens überhaupt und ihre Gesinnungsgenossen im Volke: die Akademiker aller Fakultäten, die modernen Politiker im weitesten Sinne, die Pfarrer aller Kirchen, die Lehrer aller Schulen, die gebildeten und bildenden Frauen [!], die Beamten, die Journalisten und Schriftsteller [!]; und außer diesen, die an der Führung des Volkes teil haben, sind es all die vielen, welche ohne Beruf oder Neigung zur Führerschaft doch ein selbständiges Interesse an der religiösen Bewegung der Gegenwart haben" (RGG1 I, IX). Das war deutscher Kulturprotestantismus zur Kaiserzeit in Reinkultur.

Sowohl religionswissenschaftlich-deskriptiv als auch religionstheologisch-normativ war der bestimmte Artikel im Titel Programm: "Die alte absolute Scheidung zwischen Christentum und nicht geoffenbarten Religionen verschwindet, und neue, historische Grenzen und Beziehungen treten an die Stelle. Darum schildert unser Handwörterbuch alle Hauptreligionen nach den Grundzügen ihres Wesens und ihrer Geschichte und verarbeitet von den Tatsachen der allgemeinen Religionswissenschaft alles Material, das für Geschichte und Gegenwart unserer Religion Bedeutung hat, in besonderen Artikeln" (ebd., kursive Stellen im Orig. gesperrt). Theologisches Programm war auch die methodologische Feststellung des Herausgebers: "Das wissenschaftliche Verfahren der vergleichenden geschichtlichen Betrachtung durchdringt die gesamte Arbeit an unserem Handwörterbuch" (ebd.).

Von dieser theologischen Herkunft hat sich die RGG bereits mit der 3. Auflage weitgehend gelöst. Die nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum dominante Theologie des Wortes Gottes bzw. des Kerygmas findet im Vorwort zur 4. Auflage allerdings nur noch einen schwachen Nachhall. Auch wenn sich die neue RGG keiner bestimmten theologischen Schule oder Richtung verpflichtet weiß, operiert sie doch formelhaft mit dem theologisch-normativen Begriff der "evangelischen Mitte des christlichen Glaubens". Diese wird zwar nicht näher bestimmt, soll jedoch die Darstellung der vielfältigen Erscheinungsformen von Religion perspektivieren, ist es doch das Ziel der Herausgeber, den Leserinnen und Lesern "eine sachliche Urteilsbildung gerade auch im Blick auf andere und fremde religiöse Wirklichkeiten" zu ermöglichen (Bd. 1, V). Ein klares theologisches Programm wie zu Beginn des 20. Jh.s hat die RGG heute nicht mehr. Auch darin ist sie ein Spiegel ihrer Zeit.

Nach Ansicht der Herausgeber haben die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte "auf den Gebieten von Wissenschaft und Technologie [!] auch die Welt der Religionen nicht unberührt gelassen. Zum einen haben der allgemeine Aufschwung und die globale Ausdehnung der wissenschaftlichen Forschung auf alten und neuen Fachgebieten nicht nur zu einem in früheren Zeiten kaum vorstellbaren Anwachsen des Wissensstoffes geführt. Zum anderen hat sich auf Grund von neuen Erkenntnissen, Methoden und Perspektiven das wissenschaftliche Denken selbst fundamental geändert, wobei über das Ausmaß dieser Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Gebiete der Theologie und Religionswissenschaft noch keine Klarheit besteht. Zudem hat sich ein neues ökumenisches Problembewußtsein eingestellt" (Bd. 1, V). Das ökumenische Problembewusstsein schließt ausdrücklich das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum ein, das auch in der für das Alte Testament verwendeten Terminologie seinen Niederschlag findet. Neben die christliche Bezeichnung "Altes Testament" tritt in der Neuauflage der RGG der Terminus "Hebräische Bibel".

Die traditionelle Fächeraufteilung wird in der Neuauflage der RGG beibehalten. Gegenüber der 3. Auflage ist jedoch die Aufstellung der Fachbereiche und der Stichwortliste völlig neu bearbeitet und an die veränderten wissenschaftlichen Gegebenheiten angepasst. Außerdem hat bei der Auswahl der Fachberater und Autoren gegenüber der vorigen Auflage eine über Europa hinausreichende Internationalisierung stattgefunden. Damit soll der Wert des Lexikons als Informationsquelle auch für Wissenschaftler außerhalb Europas steigen.

Im Einzelnen werden die theologischen und religionswissenschaftlichen Fächer in RGG4 (in alphabetischer Reihenfolge) folgendermaßen gegliedert: Altes Testament; Biblische und Christliche Archäologie; Dogmatik; Ethik; Fundamentaltheologie; Judentum (Antikes Judentum, Mittelalter und Neuzeit); Kirchengeschichte (Alte Kirche, Mittelalter und Reformation, Europäische Neuzeit I u. II, Nordamerika, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Asien, Afrika, Lateinamerika); Kirchenmusik und Liturgie; Kirchenrecht; Kultur, Kunst, Medien und Religion; Neues Testament; Ökumene (Katholizismus, Orthodoxie, reformatorische Kirchen); Philosophie; Praktische Theologie und angrenzende Sozialwissenschaften; Pädagogik; Religion und Naturwissenschaft; Religions und Missionswissenschaft; Religionsgeschichte (Prähistorie bis Alter Orient, griechisch-römische Antike, vorislamische Religionen, Islam und arabisches Christentum, Süd, Zentral und Ostasien, kleine Religionen); Religionsphilosophie; Religionswissenschaft.

Gegenüber der ganz an der Theologie orientierten Fächereinteilung in der 3. Auflage der RGG fällt zunächst die Aufwertung der Religionswissenschaft auf. Darin kommt ein Erfordernis der Gegenwart zum Tragen, das sich u. a. in der aktuellen Diskussion über die Reform des Theologiestudiums niederschlägt. Neue Studienordnungen sehen vor, dass Studierende der Theologie, gleich ob es sich um die Ausbildung für den kirchlichen Dienst oder zum Religionslehrer handelt, Grundkenntnisse in der Religionswissenschaft und auch über lebende nichtchristliche Religionen erwerben sollen, weil dies den heutigen beruflichen Anforderungen entspricht. So sehr im deutschsprachigen Raum die Umwandlung der theologischen Fakultäten in religionswissenschaftliche Abteilungen weitgehend abgelehnt wird, so sehr ist doch inzwischen erkannt, dass die christliche Theologie im Kontext einer religiös pluralen Gesellschaft ihre Kompetenz in Forschung und Lehre auf religionswissenschaftlichem Gebiet verstärken muss. Dem trägt die Neuauflage der RGG Rechnung.

Auf dem Gebiet der Kirchengeschichte ist die schon in der Fächereinteilung erkennbare Überwindung einer auf die (mittel)europäische Kirchengeschichte verengten Sichtweise zu begrüßen. Auch in den einzelnen Artikeln findet nun endlich die außereuropäische Kirchengeschichte angemessen Berücksichtigung. Für eine ökumenisch ausgerichtete Theologie sind solche erweiterten kirchenhistorischen Kenntnisse unerlässlich. Die neue RGG leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Ökumenisierung der deutschsprachigen Theologie.

Auch auf dem Feld der Systematischen Theologie sind gegenüber der 3. Auflage neue Akzente zu verzeichnen. Zunächst wird neben Dogmatik und Ethik die Fundamentaltheologie als eigenständige Disziplin evangelischer Theologie etabliert. Dieser Vorgang verdient deshalb Beachtung, weil die Legitimität dieser noch jungen Disziplin - ihre Bezeichnung wanderte erst in den 70er Jahren des letzten Jh.s aus der katholischen in die evangelische Theologie ein - nach wie vor umstritten ist. Außerdem hat das Interesse an ihrem Thema in beiden vergangenen Jahrzehnten merklich nachgelassen. Um so erfreulicher ist es, dass diese Disziplin durch die neue RGG, zu der es auch einen ausführlichen Artikel gibt (Bd. 3, 426-436, von W. G. Jeanrond [kath.] und M. G. Petzoldt [ev.]), innerhalb der evangelischen Theologie aufgewertet wird. (Als praktisches Beispiel sei der Artikel "Anthropozentrik" von W. Krötke angeführt [Bd. 1, 530-531], der in einen fundamentaltheologischen und einen dogmatischen Unterabschnitt unterteilt ist.) Es bleibt zu hoffen, dass dieses Signal verstanden wird und zu einer verstärkten Beschäftigung mit den Forschungsdesideraten evangelischer Fundamentaltheologie beiträgt.

Eine Aufwertung erfährt auch die Ethik in der neuen RGG. Durchgängig werden die ethischen Aspekte der aufgenommenen Stichworte stärker als in der vorigen Auflage behandelt. So finden sich oftmals eigene ethische Unterabschnitte, wo diese früher fehlten (z. B. unter dem Stichwort "Chiliasmus", Bd. 2, 142-143). Auch die Verstärkung der ethischen Disziplin entspricht den sich in der Theologie abzeichnenden Veränderungen, verzeichnet doch die deutschsprachige evangelische Theologie auf dem Gebiet der Ethik einen Nachholbedarf. Auch wenn man der von manchen propagierten Transformation der Dogmatik in eine "ethische Theologie" nicht folgen möchte, lässt sich doch nicht bestreiten, dass die ethische Kompetenz evangelischer Theologie - zumal im Bereich der sogenannten angewandten Ethik - verstärkt werden muss. Die einseitige Konzentration auf Fragen der Grundlegung theologischer Ethik sowie die ethik-kritische Haltung der Wort-Gottes-Theologie haben z. T. zu einem erheblichen Kompetenzverlust evangelischer Theologie geführt, dem erst in den letzten zehn Jahren - auch durch eine Reihe von neuen Lehrbüchern - gegengesteuert worden ist. Auch in dieser Hinsicht bietet die 4. Auflage der RGG Erfreuliches. Verwiesen sei nicht nur auf den umfangreichen Hauptartikel "Ethik" (Bd. 2, 1598-1631) von E. Herms, P. Antes, E. Otto, F. W. Horn, R. Leicht, J. Dan und M. Moxter, sondern auch auf Spezialartikel wie "Evolutionäre Ethik" von M.Ruse (Bd. 2, 1757-1759) oder auf Artikel zu wichtigen Stichwörtern angewandter Ethik wie "Gentechnik" von R. ColeTurner (Bd. 3, 679-684) oder "Globalisierung" von I. Pies (Bd. 3, 1006-1008).

Die Aufwertung der Ethik zeigt sich auch bei einem theologisch zentralen Begriff wie dem des Gesetzes. Gegenüber dem Art. Gesetz in RGG II, 1511-1533, der das in RGG4 separat behandelte Stichwort "Gesetz und Evangelium" (Bd. 3, 862-867, Chr. Schwöbel) einschließt, kommt in der Neuauflage ein Unterabschnitt zum Stichwort "Gesetz, politisch, juristisch" (ebd., 854-855, Chr. Stark) hinzu. Außerdem findet man die Artikel "Gesetz/Naturgesetz" (ebd., 855-858, D. Evers) und "Gesetz der Evolution" (wissenschaftsgeschichtlich, dogmatisch, ethisch) von E. Herms (ebd., 858-862). Der letztgenannte Artikel überschneidet sich inhaltlich allerdings mit dem Artikel "Evolution" (Bd. 2, 1749-1756), der in eigenen Unterabschnitten Evolutionstheorien in den Sozialwissenschaften (G. Kubon-Gilke) und in der Ethik (M. Leiner) behandelt, sowie mit den Artikeln "Evolutionäre Erkenntnistheorie" (ebd., 1756-1757, E.-M. Engels) und "Evolutionäre Ethik" (s. o.).

Der Ethik-Artikel in RGG4 ist mit seinen insgesamt 33 Sp. fast fünfmal so lang wie derjenige in RGG3 II, 708-715. Hier muss man nun allerdings fragen, ob die Proportionen eines Handwörterbuchs gewahrt bleiben. E. Herms analysiert zunächst in knapp 3 Sp. Begriff und Problemfeld der Ethik. Seine Ausführungen zur Ethik als theologischer Disziplin haben eine Länge von 13 Sp. Der Abschnitt über Ethik als philosophische Disziplin von M. Moxter ist demgegenüber nur gut 6 Sp. lang. Die Religionswissenschaft bekommt 2 Sp., AT und NT jeweils 4 Sp., das antike und das neuzeitliche Judentum 1,5 Sp. Zum Vergleich: Der Artikel "Dogmatik" (Bd. 2, 900-915), ebenfalls von E. Herms, hat eine Länge von 16 Sp. G. Gloege hat dieses Stichwort in RGG3 I, 225-230 noch in 6 Sp. abhandeln können.

Deutlich umfangreicher als in RGG3 ist in RGG4 auch die systematischtheologische Behandlung des Begriffs "Glaube" ausgefallen. Der von E. Jüngel verfasste Artikel (Bd. 3, 953-974) ist immerhin 21,5 Sp. lang, wogegen A. A. van Ruler und H. Graß in RGG3 II, 1597-1611 für die Behandlung der dogmengeschichtlichen und dogmatischen Aspekte insgesamt mit 14Sp. auskamen. Damit ist selbstverständlich nichts Negatives über den gewichtigen Inhalt der erwähnten Artikel von Herms und Jüngel gesagt. Diese sind im Gegenteil äußerst lehrreich. Der Rezensent stellt lediglich die formale Frage nach den Proportionen.

Um ein umgekehrtes Beispiel anzuführen, werfen wir einen Blick auf den Artikel "Evangelium". H. Koester hat in RGG4 die Abschnitte I (Begriff) und II (Gattung) verfasst (Bd. 2, 1735-1741). Von M. Beintker stammt der Artikel "Evangelium III. Dogmatisch" (1741-1742), der in RGG3 kein Gegenstück hat. Für die exegetischen und die systematischen Aspekte des Stichworts werden insgesamt 7 Sp. aufgewendet. Demgegenüber hat RGG3 allein dem exegetischen Sachverhalten fast 20 Sp. gewidmet, nämlich die Artikel "Evangelien, formgeschichtlich" (Bd.2, 749-753) und "Evangelien, synoptische" (ebd., 753-766), beide von G. Bornkamm, ergänzt um eine Bibliographie zur Auslegungsgeschichte der synoptischen Evangelien von W. Werbeck (ebd., 766-769).

Bleiben wir gleich bei der Bibelwissenschaft. Welche Veränderungen hier gegenüber der 3. Auflage der RGG stattgefunden haben, lässt sich an den einschlägigen Artikeln in RGG4 gut ablesen.

Aufschlussreich ist z. B. ein Vergleich der Artikel zum Stichwort "Bibelkritik". In RGG3 informierten F. Baumgärtel (AT) und E. Dinkler (NT) über die historischkritische Methode (Bd. 1, 1184-1190), K. Frör über Bibelkritik im Religionsunterricht (ebd. 1190-1191), wobei die hermeneutische Sichtweise der BultmannSchule und ihrer Kerygmatheologie zum Tragen kam. 40 Jahre später liest man in RGG4 bei M.Th. Wacker im Art. Bibelkritik I: "Gegenwärtig steht die (christl.) Bibelwiss[enschaft] vor einer Fülle unterschiedlicher methodischer Ansätze, die v. a. im letzten Jahrzehnt des 20. Jh.s die sog. hist[orische] Kritik in ihrer Rolle als Leitmethode christl[icher] B[ibelkritik] nachhaltig in Frage gestellt hat" (Bd. 1, 1474 f.). Neben die historischkritische Exegese sind inzwischen die linguistische, literaturwissenschaftliche und rhetorische Bibelkritik, die strukturalistische, die sozialgeschichtliche, die (tiefen)psychologische, die feministische und die befreiungstheologische Bibelinterpretation getreten. Ferner gibt es die fundamentalistische Exegese. Hierüber wird ausführlich informiert (ebd., 176-1486). Die Veränderungen der theologischen Gesamtsituation, die gegenüber den Jahren, in denen die 3. Auflage der RGG erschien, stattgefunden haben, werden auf dem Gebiet der Exegese besonders gut erkennbar.

Stärker aufgefächert als in RGG3 ist nun auch die Praktische Theologie. Besondere Beachtung verdient der Themenbereich "Kultur, Kunst, Medien und Religion". Der ganze Bereich der Ästhetik - Ästhetik verstanden im weitesten Sinn des Wortes - hat in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren Aufschwung genommen. Interdisziplinär finden Fragestellungen einer theologischen Ästhetik großes Interesse. Auch die Philosophie und die Kulturwissenschaften haben sich in den letzten Jahren ästhetischen Themen zugewandt.

Diese Entwicklung ist eine Folge der Postmoderne-Diskussion und bleibt vielleicht ihr dauerhaftester Ertrag. Gerade die über lange Zeit einseitig an der Kategorie des Wortes bzw. an einer verengten, logozentrischen Interpretation derselben orientierte deutschsprachige evangelische Theologie hat auf dem Gebiet der Ästhetik einigen Nachholbedarf. Über den Stand der Forschung und die verbleibenden Desiderate informiert der Artikel von B. Recki und W. Schoberth (Bd. 1, 851-854). Die überaus kritische Sicht, den die Wort-Gottes-Theologie auf den Kulturprotestantismus hatte, ist inzwischen durch neue Ansätze zu einem interdisziplinären Dialog zwischen Theologie, Religionswissenschaft und Kulturwissenschaften abgelöst worden. Weiter gefasst bedarf der ganze Bereich der Kultur, insbesondere der Kultur einer Medien und Informationsgesellschaft, einer theologischen und religionswisssenschaftlichen Durchdringung. Diesem Erfordernis tragen Artikel wie derjenige von S. Wehmeier, C. Eurich, R. Hartmann und J. Haberer zum Stichwort "Fernsehen" (Bd. 3, 79-83) oder zum Stichwort "Film und Religion" von P. Hasenberg (Bd. 3, 123-124) Rechnung.

Die neue Gliederung und die stärkere Unterteilung der theologischen und religionswissenschaftlichen Fächer nebst Philosophie und Religionsphilosophie kommen im Aufbau der einzelnen Hauptartikel zum Tragen. Gegenüber der vorigen Auflage der RGG bedeutet dies u. a. eine stärkere Zergliederung in fächerspezifische Unterabschnitte. Beispielhaft sei das am Stichwort "Anthropomorphismus" verdeutlicht. Während RGG3 einen einspaltigen und nicht weiter untergliederten Artikel zu diesem Stichwort von G. Mensching bietet (Bd. 1, 424), enthält die 4. Auflage einen viel umfangreicheren Artikel (Bd. 1, 524-529), der die religionswissenschaftlichen (G. Löhr), biblisch-exegetischen (Th. Podella), judaistischen (G. Veltri), islamwissenschaftlichen (J. van Ess), religionsphilosophischen und dogmatischen (beides U. Körtner) sowie die praktisch-theologischen (J. N. Lapsley) Facetten des Begriffs auffächert. Die an großen Enzyklopädien orientierte Spezialisierung kann freilich auch zu einer Kleinteiligkeit und Zerstückelung führen, wie sich an demselben Beispiel zeigen lässt. Der Abschnitt "Bibel" ist ohne Literaturhinweise gerade einmal 11 Zeilen lang. Auch sind bei kleinteiliger Aufteilung eines Artikels unter mehreren Autoren gewisse Überschneidungen unvermeidlich.

Zu begrüßen ist auf jeden Fall die gegenüber der 3. Auflage stärkere Ausdifferenzierung der Religionsgeschichte und der Kirchengeschichte, durch welche außerdem die außereuropäische Perspektive verstärkt in den Blick genommen wird. Als Beispiele seien die Artikel "Afrika" (Bd. 1, 140-158) von H. Sautter, D. Westerlund und A. Hastings, "Afrikanische Theologien" (Bd. 1, 158-160) von J. Parratt, "Afrikanische unabhängige Kirchen" von H. W. Turner, "Asiatische Theologien" (Bd. 1, 812-814) von P. Ch. Lai, "Asien" (Bd. 1, 814-829) von H. Sautter, H. Seiwert, H. Mürmel u. K. Koschorke oder "Theologie in Australien" (Bd.1, 1006-1007) von I. Breward genannt.

Erfreulich ist auch die Aufnahme zahlreicher neuer Stichwörter, und zwar nicht nur solcher, die erst seit dem Erscheinen der 3. Auflage aufgekommen sind, sondern auch solcher, die zum klassischen Themenbestand von Theologie und Religionsgeschichte gehören. Ein schönes Beispiel ist der instruktive Artikel zum Stichwort "Dreißigjähriger Krieg" (Bd. 2, 979-987) von Th. Kaufmann. Wer sich über dieses geschichtliche Ereignis informieren wollte, musste in der 3. Auflage der RGG fünf verschiedene Artikel konsultieren.

Knapp gehalten sind in der Regel die Literaturhinweise. Gerechtfertigt wird dies von den Herausgebern u. a. mit den heute bestehenden Möglichkeiten, sich zu ausführlichen Bibliographien in modernen Datenbanken Zugang zu verschaffen. Die Literaturangaben beschränken sich daher im allgemeinen auf unentbehrliche Standardwerke, Textausgaben, Biographien, Spezialmonographien, wichtige Zeitschriftenartikel sowie Hinweise auf vollständige Bibliographien in anderen Publikationen. Für Bibliographien zur Auslegungsgeschichte wird auf die heute gängigen Kommentare und die elektronischen Medien verwiesen (vgl. Bd. 1, VI). Im Einzelnen kann der Umfang der Literaturhinweise allerdings variieren. In Relation sowohl zum Gesamtumfang als auch zum Thema sind die Hinweise auf weiterführende Literatur z. B. in dem bereits erwähnten Artikel "Gentechnik" eindeutig zu knapp.

Dass im Artikel "Hoffnung IV. Dogmatisch" (Bd. 3, 1826-1827) von F. Beißer nicht einmal J. Moltmanns inzwischen schon klassische "Theologie der Hoffnung" aufgeführt wird, von E. Blochs "Prinzip Hoffnung" ganz zu schweigen, muss erstaunen (wie - nebenbei bemerkt - überhaupt, dass es keinen philosophischen Unterabschnitt zu diesem Stichwort gibt). Aber vielleicht ist dieses Manko im speziellen Fall auch ein aussagekräftiges Indiz für den inzwischen erfolgten Themenwechsel auf dem Gebiet der Eschatologie. Jedenfalls findet man zum Stichwort "Hoffnung, dogmatisch" nur ganze fünf Literaturhinweise. Im Vergleich damit hat die Bibliographie zum Artikel "Bildungswesen/Schulwesen II. Soziologisch und historisch" (Bd. 1, 1590-1595) geradezu Überlänge (38 Titel!). Sie ist ausführlicher als z. B. diejenige zum Stichwort "Christologie I. Urchristentum" (Bd. 2, 274-288) von M. Karrer (35 Titel). Auch wenn die Literaturhinweise bei einem Handwörterbuch wie der RGG auf das Nötigste beschränkt bleiben müssen, sollten die Herausgeber bzw. die Fachberater darauf achten, dass die Auswahl repräsentativ und im Umfang ausgewogen ist.

Wie die früheren Auflagen hat auch RGG4 ein eigenes Abkürzungsverzeichnis, das jedem Bd. vorangestellt ist. Ein großer Vorzug des Abkürzungsverzeichnisses von RGG4 besteht darin, dass es für die außerkanonischen Schriften neben AT und NT, für die Schriften von Qumran, die apostolischen Väter, die Schriften aus Nag Hammadi und weitere gnostische Schriften, für das rabbinische Schrifttum und für antike Schriftsteller neben den Abkürzungen gleich auch die einschlägigen Textausgaben verzeichnet. Dies ist für die exegetische und historische Arbeit ein überaus nützliches Hilfsmittel.

Erlaubt seien schließlich einige kleine Bemerkungen zur äußeren Gestaltung der Neuauflage. Satzspiegel und Schriftbild sind ansprechend und lesefreundlich gestaltet. Gedruckt ist das Werk auf dünnerem Papier als die vorige Auflage. Der Buchblock hat eine etwas geringere Stabilität als die Bände von RGG3. Außerdem waren die Schuber der 3. Auflage aus Karton, nicht aus Wellpappe, und somit von besserer Qualität. Aber das sind lediglich Marginalien.

Alles in allem ist die neue RGG ein Ereignis. Sie wird wie ihre Vorgänger einen festen Platz in den wissenschaftlichen Bibliotheken und Lehrbuchsammlungen haben. Dringend zu wünschen ist aber, dass ein Handwörterbuch wie die neue RGG ihren Weg nicht nur in die wissenschaftlichen Bibliotheken, sondern auch in die Arbeitszimmer von Pfarrerinnen und Pfarrern, Religionslehrerinnen und Religionslehrern findet; dies um so mehr, als die gediegene fachwissenschaftliche Weiterbildung dieser Berufsgruppen ein dringend zu behebendes Desiderat ist.

Nachdenklich stimmt es, wenn man an den über die Berufstheologen hinausreichenden Adressatenkreis denkt, den die 1. Auflage der RGG ansprechen wollte: Akademiker aller Studienrichtungen, Politiker, Journalisten und Schriftsteller und ein breiteres Bildungsbürgertum. Die kulturprotestantische Synthese von Christentum und Kultur gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. Es gibt nicht mehr jene soziale Schicht, die den Kulturprotestantismus getragen hat. Darüber können auch gegenwärtige Versuche, das Thema "Kirche und Kultur" wiederzubeleben, nicht hinwegtäuschen.

Das Interesse an Religion ist in den letzten Jahren durchaus gestiegen. Eine frei flottierende, synkretistische Religiosität greift um sich. Gleichzeitig gibt es aber - besonders markant z.B. in Ostdeutschland - einen von jeder kirchlichen oder religiösen Sozialisation unbeleckten und fest etablierten "Gewohnheitsatheismus" (W. Krötke), der Religion - in welcher Form auch immer - in keiner Weise vermisst. (Vgl. dazu J. Henkys, Art. Atheismus IV. Praktisch-theologisch, RGG4 I, 879-880!) Wo Primärkenntnisse von Religion fehlen, sind gediegene wissenschaftliche Informationen um so unerlässlicher. Solche bietet die Neuauflage der RGG auf höchstem Niveau.

Summary

The fourth edition of RGG represents a century of scholarship in Theology and Religious Studies. In order to evaluate this new edition previous editions and original programme of RGG have been compared. The revisions shows more or less inevitably the changing interpretations of the concept 'religion' which gives RGG its name. The subject areas and lists of keywords have been completely reorganized in order to suit a different climate of scholarship. In addition, the selection of consultants and authors includes the larger international community of scholars beyond Europe. In this way, it is hoped, the value of RGG is also enhanced as a source of information for non-European scholars.

Fussnoten:

* Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von H. D. Betz, D. S. Browning, B. Janowski, E. Jüngel. 1.-3. Band. Tübingen: Mohr Siebeck 1998/2000. LIV, 1936 Sp.; LX, 1850 Sp.; LXVIII, 1984 Sp. 4. Lw. DM 348,-, 398,- u. 348,-. ISBN 3-16-146941-0, 3-16-146942-9. 3-16-146943-7.