Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

835–838

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Brugger, Winfried

Titel/Untertitel:

Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes.

Verlag:

BadenBaden: Nomos 1999. 470 S. gr.8 = Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, 12. Kart. DM 98,-. ISBN 3-789-06215-4.

Rezensent:

Heinrich de Wall

Der Autor, Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie, ist namentlich in letzteren beiden Bereichen immer wieder mit Beiträgen hervorgetreten, die seine Vertrautheit mit der amerikanischen Diskussion belegen. So lenkt er den Blick auch eines breiteren juristischen Publikums über den nationalen Tellerrand. Dies gilt auch für die hier vorgelegten 19 zwischen 1982 und 1998 erstmals veröffentlichten Aufsätze, die von einem rechtsphilosophischen Ansatz aus verschiedene im weitesten Sinne mit der Legitimation des Grundgesetzes zusammenhängende Fragenkreise behandeln - von der sehr grundsätzlich die Bedingungen menschlicher und speziell juristischer Entscheidungen reflektierenden Abhandlung "das anthropologische Kreuz der Entscheidung" (23-43) über Beiträge zu grundlegenden Problemen der Menschenrechte, über diverse "Ismen" als Legitimationslehren der grundgesetzlichen Ordnung bis hin zu aktuellen bzw. aktuell gewesenen Problemen wie dem Kreuz in der Schule und dem Asylgrundrecht. Diese Beiträge werden unter eine vier Punkte umfassende Grobgliederung gestellt: A) Integrationskonzepte für Verfassungstheorien: Anthropologie, Gemeinwohl, Menschenbild; B) Menschenrechte: Geschichte, Begriff und Begründung; C) Verfassungstheoretische Grundpositionen: Liberalismus, Utilitarismus, Pluralismus, Kommunitarismus; D) Verfassungsrechtliche Maßstäbe und Problemfälle. Bereits die Allgemeinheit dieser Überschriften, inbesondere die zu Teil A und D, weisen auf eine Eigenart hin, die Aufsatzsammlungen beinahe notgedrungen zu eigen ist: Hinter den aus verschiedenen Anlässen geschriebenen Beiträgen ist ein systematischer Zusammenhang nicht immer einfach herzustellen. Im vorliegenden Fall hätten allerdings die zum Teil sehr grundsätzlichen Beiträge mehr als der Nukleus einer Monographie zur Legitimation des Grundgesetzes sein können. Dazu hätten allerdings nicht nur die zahlreichen Überschneidungen beseitigt und die zum Teil an sehr unterschiedliche Adressatenkreise (Einführungen für Studenten - allgemeine Aufsätze für ein breites Juristisches Publikum - speziellere rechtsphilosophische Beiträge) gerichteten Beiträge systematisiert und harmonisiert, sondern auch ältere Erkenntnisse neu überdacht und formuliert werden müssen. Betrachtet man nämlich die Chronologie des ersten Erscheinens der Aufsätze, so fällt auf, dass hier die Legitimation des Grundgesetzes zunächst aus "verfassungsliberaler" Sicht, dann auf der Grundlage eines geläuterten Pluralismus und schließlich des Kommunitarismus betrachtet wird. Brugger weist in der Einleitung selbst darauf hin, dass zwischen diesen "Theorietypen" weitgehende inhaltliche Überschneidungen [bestehen], ..." (19). Wenn dann sogleich bemerkt wird, dass es zweitrangig sei, welchen Titel man für die "beste" Theorie bevorzugt, bleibt der Leser im Unklaren, ob und welche Unterschiede es zwischen ihnen gibt, oder ob sie nicht unterschiedliche, eher der Mode folgende Bezeichnungen für ein und dieselbe Theorie sind, jedenfalls in der jeweils von B. formulierten Ausprägung. Diese Unklarheit bleibt auch nach der Lektüre der Beiträge.

Diese grundsätzlichen Einwände ändern aber nichts daran, dass die Aufsätze ebenso wohldurchdachte wie wohlformulierte Grundeinsichten über das Verständnis des Verfassungsstaates vermitteln. Es kennzeichnet B.s Grundkonzeption und Herangehensweise, dass seine Konzepte des Liberalismus, Pluralismus oder Kommunitarismus jeweils gemäßigte sind: ein verfassungsliberales statt wirtschaftsliberales, das eines geläuterten statt radikalen Pluralismus und das eines liberalen (statt konservativen oder universalistisch-egalitären) Kommunitarismus.

Von den zahlreichen angesprochenen Einzelthemen seien hier einige herausgegriffen. In mehreren Aufsätzen versucht B., den vom Bundesverfassungsgericht immer wieder zur Lösung des Konflikts zwischen Individual und Gemeinwohlinteressen herangezogenen Begriff des "Menschenbildes des Grundgesetzes" mit Inhalt zu füllen und damit Grundaussagen einer allgemeinen Grundrechtstheorie zu gewinnen. Er schlägt vor, das Menschenbild des Grundgesetzes ("Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie", 173) wie der Menschenrechte überhaupt ("Das Menschenbild der Menschenrechte", 79) als "eigenständige, sinnhafte und verantwortliche Lebensführung" zu bestimmen. Dabei bezeichnet das Element der "Eigenständigkeit" die Möglichkeit des Menschen, einen Lebensplan zu entwickeln und ihn zu verwirklichen. Die "Sinnhaftigkeit" "erinnert an die grundlegende anthropologische Tatsache, daß die individuelle wie gruppen, volks oder gattungsmäßige Entwicklung des Menschen und seiner Gemeinschaften von der jeweiligen Kultur getragen wird" (79). "Verantwortlichkeit" meint "die Achtungsverpflichtung eines jeden Menschen für die Rechte anderer, das Einstehenmüssen für Rechtsverstöße sowie gegenseitige Unterstützungspflichten" (173)". Da B. an zahlreichen Beispielen nachweist, dass damit die wichtigsten Grundrechtsfunktionen und -typen erfasst werden können, stellt sein Konzept eine sehr bedenkenswerte Konkretisierung der Menschenbildformel dar.

Die Religionsfreiheit wird sowohl der "Eigenständigkeit" als auch der "Sinnhaftigkeit" zugeordnet und damit verdeutlicht, dass sie über die individuell-private hinaus auch eine allgemeinkulturelle Dimension besitzt. Dem ist gerade im Blick auf eine Abdrängung des Religiösen in den rein privaten Bereich nur beizupflichten. Vor diesem Hintergrund ist auch B.s Stellungnahme zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konsequent ("Das Kreuz in der Schule aus kommunitaristischer Sicht", 285 ff.), an dem er den Unterschied zwischen einem "strikten Neutralitätsliberalismus" und dem von ihm vertretenen "liberalen Kommunitarismus" verdeutlicht. Während jener die strikte Trennung der Bereiche von Staat und Glauben fordert, ist nach diesem auch ein Kooperations und Förderungsmodell möglich. Zwar muss gegenüber Glaubenswahrheiten strikte Neutralität herrschen. "Strikte Neutralität ist aber nicht unbedingt geboten, soweit der Bereich der eigentlichen Glaubenswahrheiten überschritten und alternativ oder ergänzend allgemeinkulturelle weltliche Traditionen, Symbole, Haltungen oder Handlungen ins Spiel kommen, die für die Legitimität des Staatsverbandes oder sein Funktionieren bedeutsam sind" (289). In diesem Sinne hält B. das Aufhängen eines Kruzifixes in Klassenräumen öffentlicher Schulen unter bestimmten Voraussetzungen für legitim.

An anderer Stelle hebt B. hervor, dass ein liberales Gemeinwesen auch grundrechtliche Institutionalisierungen menschlicher Entfaltungsweisen schützen muss (178), wozu er auch die Religionsgemeinschaften zählt. Ohne dass B. dies ausdrücklich ausführt: Dies ist der Sinn der staatskirchenrechtlichen Garantien des Grundgesetzes: Es geht nicht um ungerechtfertigte Privilegierungen, sondern um die Möglichkeit und die Sicherung korporativer Grundrechtsentfaltung. In diesem Zusammenhang erscheint es allerdings nicht ganz konsequent, wenn der Sinn der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen (Art. 19 III GG) wie der Religionsgemeinschaften darin gesehen wird, dass sie "Träger zusammengefasster individueller Rechte" sind (178). Die Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sind mehr als die bloße Zusammenfassung der individuellen Freiheiten ihrer Mitglieder.

Wenig überzeugend erscheint B.s Vorschlag eines neuen Verständnisses der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG: Diese soll nur als objektives, nicht als subjektives Recht zu verstehen sein, so dass sich der Einzelne gegenüber der staatlichen Gewalt nicht mehr unmittelbar auf die Menschenwürde berufen kann, sondern nur noch auf die anderen Grundrechte etc. Zuzugeben ist, dass die Auslegung der Menschenwürdegarantie auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Aus historischer Sicht wie auch zur Disziplinierung des Staates erscheint es mir aber notwendig, gerade die Menschenwürdegarantie, die Ausdruck der Begrenztheit des Staates ist, als einklagbares Grundrecht des Einzelnen zu erhalten.

Selbst wenn man B.s Auffassung zur Asyl und Ausländerrechtsproblematik nicht teilt, sind auch in der aktuellen Debatte sehr lesenswert die 1993 und 1994 erschienen Ausführungen zu "Menschenrechte[n] von Flüchtlingen in universalistischer und kommunitaristischer Sicht" (291ff.) und sein Appell "Für Schutz der Flüchtlinge - gegen das Grundrecht auf Asyl" (310), der in die bedenkenswerte Aussage mündet: "Deutliche Sprache, flexibles Handeln und Vertrauen in das Deutsche Volk und seine moralische Ansprechbarkeit sind gefragt, nicht falsche Versprechungen, verfassungsrechtliche Starrheit und stures Beharren auf einer Elitemoral" (318).

Es gehört zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft, vermeintlich selbstverständliche Rechtssätze zu hinterfragen. B. stellt sich dieser Aufgabe auch im Hinblick auf das in vielen nationalen und internationalen Rechtsvorschriften zum Ausdruck kommende absolute Verbot der Folter. In seinem Aufsatz "Darf der Staat ausnahmsweise foltern?" bejaht er die gestellte Frage für eine sehr eng umgrenzte Fallgruppe, die er in einer neueren Arbeit so kennzeichnet: "Es liegt eine klare, unmittelbare erhebliche Gefahr für das Leben und die körperliche Integrität einer unschuldigen Person vor. Die Gefahr ist durch einen identifizierbaren Störer verursacht. Der Störer ist die einzige Person, die die Gefahr beseitigen kann, indem er sich in die Grenzen des Rechts zurückbewegt [im von B. geschilderten Fall das Versteck einer Bombe verrät, HdW]. Dazu ist er auch verpflichtet. Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig erfolgversprechende Mittel zur Informationserlangung." (Juristenzeitung 2000, 167). B. versucht nachzuweisen, dass die Annahme eines Folterverbotes für diese Fälle einen Wertungswiderspruch zu anderen Rechtsnormen darstellt, der im Wege der einengenden Auslegung der bestehenden Folterverbote schon nach geltendem Recht ausgeräumt werden kann. In der genannten neueren Arbeit hat er überdies nicht nur ein solches (begrenztes) Recht des Staates zu foltern angenommen, sondern darüber hinaus aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit seiner Bürger ein Recht der betroffenen Bürger hergeleitet, eine solche Folter verlangen zu können.

Ganz abgesehen von der Frage, ob die von B. aufgestellten, engen Voraussetzungen eines solchen Falles jemals mit der hinreichenden Sicherheit festgestellt werden können: Konsequent weitergedacht bedeutet dies, dass der Staat auch dafür Sorge tragen müsste, dass geeignete und hinreichend ausgebildete Folterer zur Verfügung stehen, um seiner Schutzpflicht für die Opfer (und auch den zu Folternden) effektiv nachkommen zu können. Solche Grenzfälle mit den Mitteln der üblichen Rechtsdogmatik lösen zu wollen, scheint mir deren Grenzen zu sprengen. Die von B. genannte Fallkonstellation ist doch besser in der Kategorie "übergesetzlicher" oder sogar "überverfassungsmäßiger" Notstand untergebracht.