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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

831–833

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Raschzok, Klaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Volk und Bekenntnis. Praktische Theologie im Dritten Reich.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2000. 342 S. 8. Kart. DM 44,-. ISBN 3-374-01796-7.

Rezensent:

Reinhard Schmidt-Rost

Ein bedrängendes Buch - und immer noch ein mutiges Buch: Es rekapituliert Alpträume der deutschen Vergangenheit, um nicht vor ihnen zu kapitulieren. Ein Buch zudem, das die Generation der Kriegskinder mit den Nachgeborenen eindrucksvoll verbindet; die Studien über einzelne Vertreter der Praktischen Theologie stammen mit Ausnahme der Studie von Karl-Friedrich Wiggermann über Leonhardt Fendt von Praktischen Theologen, die deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind: Sabine Bobert-Stützel schreibt über Dietrich Bonhoeffer, Kerstin Voigt über Otto Haendler, Jochen Cornelius-Bundschuh über Paul Graff, Martin Jochheim über "Seelsorge im Dritten Reich", d. h. vor allem über Fritz Künkel, einen Verfechter der nationalsozialistischen Rassengesetze unter den Psychotherapeuten; Manacnuc Mathias Lichtenfeld berichtet über Georg Merz, Martin Ohst über Emanuel Hirsch und Klaus Raschzok, der die Sammlung angeregt und mit einer informativen, ausführlichen Einführung versehen hat, über Wolf Meyer-Erlach und Hans Asmussen.

Praktische Theologen, die die NS-Zeit als Kinder bzw. Jugendliche erlebten, haben thematisch orientierende Studien beigetragen: Christian Möller zum Thema ",Gemeindeaufbau' im Streit zwischen ,Deutschen Christen' und ,Bekennender Kirche'", Folkert Rickers über "Religionspädagogik in Thüringen 1933 bis 1945", Klaus-Peter Hertzsch über "Praktische Theologie nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches" und Klaus Petzold über "Auschwitz als Thema in Schule und Gemeinde".

Das Buch ist das Protokoll einer öffentlichen Ringvorlesung im Wintersemester 1998/99 an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, die Klaus Raschzok veranstaltete, um mahnend daran zu erinnern, dass an der theologischen Fakultät in Jena "mit Wolf Meyer-Erlach von 1933 bis 1945 ein den Deutschen Christen zugehöriger und dem nationalsozialistischen Gedankengut völlig hingegebener Fachvertreter Praktische Theologie lehrte". Die Vorlesungsreihe protokolliert somit vor allem die Auseinandersetzung einer akademischen Disziplin in ihren Hauptvertretern mit den politischen und geistigen Kräften des Nationalsozialismus.

Das missverständliche Wort von der "Gnade der späten Geburt" findet an den Eindrücken aus dieser Sammlung einen positiven Sinn; man muss als Praktischer Theologe dankbar sein, in jener Zeit noch keine Verantwortung getragen zu haben. Umso mehr erwächst aus den eröffneten Einsichten die Verantwortung für die eigene Gegenwart. Die Praktische Theologie ist als wissenschaftliche Disziplin mit den gesellschaftlichen Entwicklungen so eng verflochten, dass sie auch in Zeiten, die Stellungnahme nicht unmittelbar herausfordern, durch solche Texte unvermeidlich an ihre gesellschaftliche Verantwortung erinnert wird.

Es fällt schwer, Einzelnes herauszuheben; die Beiträge sind allesamt gut lesbar, erschließen reichlich biographisches Neuland, das ohne diese Sammlung in den speziellen Wissensschätzen von Doktoranden und Habilitandinnen untergegangen wäre, und sie fokussieren zumeist eine zentrale praktischtheologische Problemstellung, wodurch das Zusammenspiel von Kirchengeschichte, Systematischer und Praktischer Theologie vorbildlich zur Geltung gebracht wird (vgl. etwa die Studie von M. Ohst über "Emanuel Hirsch und die Predigt" und die abschließende Reflexion über das Verhältnis von Metaphysik und Moral, 148 f.; den Vergleich zweier "Kirchenkampf-Homiletiken" durch S. Bobert-Stützel, 84 ff., die Interpretation der Liturgik P. Graffs, die unter dem leitenden Gesichtspunkt der "Beziehungen des Gottesdienstes zur menschlichen Kultur" keine Kraft gegen den Geist der Zeit aus der Christusanamnese schöpfen konnte, obwohl sie sich stark am Kirchenjahr orientierte, wie J. Cornelius-Bundschuh darlegt, 126).

Ungeschminkt tritt das Entsetzen jener Zeit in den Beiträgen von M. Jochheim zur Seelsorge im Dritten Reich und zum Thema "Auschwitz als Thema in Schule und Gemeinde" von K. Petzold hervor. Jochheim zieht das Fazit: "Seelsorge im Dritten Reich- das ist die psychologisch fundierte Absicherung der nationalsozialistischen Volkstums und Rassenideologie; ... das sind auch die Handlangerdienste bei der Zwangssterilisierung von Behinderten samt deren theologischer Ummäntelung. Und selbst da, wo die Seelsorgelehre in deutlicher Abgrenzung gegen völkische und rassische Ideologie betrieben wird, bleibt sie in ihrer dogmatischen Einseitigkeit ohne Biß" (203). Die Zeitgebundenheit der Seelsorge wird hier als prinzipielles Problem erkennbar.

In Aufmachung und Anspruch schließt das Buch an die im gleichen Verlag erschienene Sammlung von Chr. Grethlein und M. Meyer-Blanck "Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker" nahtlos an. Hier wie dort trägt das Prinzip biographischer Darstellung dazu bei, dass Wissenschaft in ihren Problemen plastisch wird. Damit eignet sich auch dieses Buch vorzüglich zu Lehrzwecken, um die Aufgaben der Praktischen Theologie anschaulich aufzuzeichnen und der Bearbeitung durch die Lernenden mit anzuvertrauen.

Und einen zweiten, allgemeineren Dienst leistet diese Sammlung: Sie verbindet Autoren aus Ost und West zu einem Blick auf die gemeinsame Vergangenheit. Auch nach der Jahrtausendwende sollte die Aufgabe einer solchen - gemeinsamen! - Besinnung nicht aus dem Blick geraten, wie sie K.-P. Hertzsch am Ende seines Beitrags in eindringlichen Worten anmahnt:

"Wir wissen, daß uns nach diesem Neuanfang (nach 1945), dieser Chance eines noch unbeschriebenen weißen Blattes der Weg in den Alltag der Theologie und der Gemeinde bevorstand, der Weg auf die langen Strecken in der Mitte, - Brecht sagt: die Mühen der Ebenen -. ... Heute werden wir, jedenfalls wir in den neuen Bundesländern, aufgefordert, diese fünfzig Jahre aufzuarbeiten, die Jahre, die wir als Bürger unseres Landes und als Theologen seit damals zugebracht haben. Ich gestehe, dass ich diesen Ausdruck zunehmend für unglücklich halte. Man kann gelebte Menschenzeit nicht aufarbeiten wie ein verschlissenes Möbelstück, das danach wieder schmuck aussieht und wie neu ist. Aber was wir können und was wir auch tun sollen, das ist Einarbeiten, das Gewesene und Erlebte einarbeiten in das große Gewebe der Erinnerungen, der Erfahrungen und der Erkenntnisse derer, die vor uns gewesen sind, in das Gewebe, lateinisch textum, und also in den großen Menschheitstext an Erinnerungen und Erfahrungen, an dem die Theologen in einer besonderen Weise beteiligt sind. In ihn sind heute auch unsere Erinnerungen einzuarbeiten, unsere Erfahrungen und unsere Erkenntnisse und unsere erkannten Irrtümer, die uns zugewachsen sind in dem Stück Zeit, das uns gegeben war, und bei dem Stück Werk, an dem wir uns abgearbeitet haben. Und ich bin überzeugt: Wenn, wie der Apostel Paulus sagt, das Stückwerk aufhören wird und kommen wird das Vollkommene, dann werden auch wir erkennen, durch welche Ebenen, über welche Abgründe und welche Höhen der Herr uns gnädig geführt hat und wozu er gelegentlich auch seine Praktischen Theologen dabei gebraucht hat" (297).