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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1002 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kluck, Thomas

Titel/Untertitel:

Protestantismus und Protest in der Weimarer Republik. Die Auseinandersetzungen um Fürstenenteignung und Aufwertung im Spiegel des deutschen Protestantismus. Mit einem Vorwort von G. Brakelmann.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 336 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 583. Kart. DM 89,-. ISBN 3-631-50023-8.

Rezensent:

Rolf Schieder

Diese im Jahre 1994 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum angenommene Dissertation widmet sich einer Thematik, die deshalb leicht aus dem Blick gerät, weil die dramatischen Anfänge und das dramatische Ende der Weimarer Republik die äußerst schwierige ökonomische Lage und die damit einhergehende politische Instabilität Mitte der zwanziger Jahre "in den Schatten" stellen. Es ist das Verdienst des Autors, daß er diese Phase ins Licht gerückt hat, dem Verwobensein des Protestantismus in die politischen Tagesfragen nachgegangen ist und versucht hat, "theologisch-politische Mentalitäten" (237) freizulegen.

Nach einer ausführlichen und informativen Darstellung der Entstehungsbedingungen der Volksbewegung zur Fürstenenteignung 1925, des Volksbegehrens und des Volksentscheids 1926 rundet der Autor seine Hintergrundsschilderung mit einer Skizze der Positionen der politischen Parteien und des Katholizismus zur Frage der Fürstenenteignung ab. Die Haltung des Protestantismus wird nach den Positionen der "Religiösen Sozialisten", der "Liberalen" und "der Rechten" unterschieden. Während einige "Einzelgänger" Verständnis für den Protest des absinkenden Mittelstandes aufbrachten, die Religiösen Sozialisten auf der Seite des Proletariats standen und die Liberalen sich für eine Politik der sozialen Versöhnung einsetzten, sieht der Autor auf seiten der kirchlichen Rechten eine "Führersehnsucht" und einen "dämonologischen Antisemitismus" am Werk, der sie blind für die Frage nach einer gerechten ökonomischen Lastenverteilung machte. Die Darstellung der protestantischen Position wird von einer ausführlichen Dokumentation von Disziplinarverfahren gegen die Füstenenteignung befürwortenden Pfarrern abgeschlossen.

Sah die Mehrheit des Protestantimus im Volksbegehren zur Fürstenenteignung nur einen "bolschewistischen" Angriff auf die politische Ordnung, dem schon aus Gründen der Loyalität entgegenzutreten sei, so kann der Autor durch seine zweite Fallstudie zur Haltung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes und der Inneren Mission zu den Folgen der Aufwertungsgesetzgebung für die Kleinsparer und Kleinrentner plausibel machen, daß die Reduzierung der Enteignungsfrage auf ein ordnungspolitisches Thema an den ökonomischen Realitäten vorbeiging. Inflation und Aufwertung führten geradezu zu einer Enteignung von Teilen des "alten Mittelstandes" und weckten bei ihnen Proletarisierungsängste.

Während sich der Protestantismus in der Frage der Fürstenenteignung unter Hinweis auf das Gebot "Du sollst nicht stehlen!" deutlich auf die Seite der Fürsten schlug, so vermißt man in den Auseinandersetzungen um die Aufwertungsgesetzgebung ein ähnlich starkes Engagement für den ökonomisch unter Druck geratenen Mittelstand. Das Gefühl, von den Kirchen im Stich gelassen worden zu sein, "trug maßgeblich zu dem Stimmenzuwachs bei, den die Nationalsozialisten in den Wahlen ab 1930 gerade im Rentnermittelstand verbuchen konnten" (302).

Der Autor will seine beiden detaillierten und in Darstellung wie Beurteilung im wesentlichen überzeugenden Fallstudien auch als einen Beitrag zur Erhellung der mentalitätsgeschichtlichen Ursachen des Nationalsozialismus verstanden wissen: "Die Arbeit gibt Einblick in Mentalitäten und Machtverhältnisse im Weimarer Protestantismus. Dämonologischer Antisemitismus, Antiliberalismus, Antikommunismus und Führersehnsucht lauten die prägenden Begriffe" (Klappentext). In diese Liste gehört gerade bei diesem Thema zweifellos noch der Antikapitalismus: den "jüdischen Bank- und Börsenfürsten" gönnte man eine Enteignung eher als den vom Schmutz des Ökonomischen reinen und romantisch verklärten deutschen Fürsten.

Auch in anderen Untersuchungen des Weimarer Protestantismus wurden ähnliche Haltungen diagnostiziert. Insofern reiht sich die hier besprochene Arbeit zwanglos in die neueren Untersuchungen der kirchlichen Zeitgeschichte ein.

Kritisch anzumerken ist freilich, daß der Mentalitätsbegriff zwar häufig an Anspruch genommen wird, sich in der Arbeit aber keine eigene Auseinandersetzung mit dem Mentalitätsbegriff findet. Weder verortet sich der Autor in einer der ja durchaus differierenden Traditionen der Mentalitätsgeschichtsforschung, noch findet sich eine Definition von Mentalität, mit deren Hilfe man die analytischen Schritte hätte überprüfen können. So hätte es sich etwa angeboten, den schichtspezifischen Mentalitätsbegriff von Theodor Geiger aufzunehmen, dessen hellsichtige Studie ’Die soziale Schichtung des deutschen Volkes’ aus dem Jahre 1932 nicht nur dem Autor zu einer differenzierteren Fassung der ’Protestantischen Mittelstandsideologie’ (255 ff.) verholfen hätte, sondern auch bei der Unterscheidung von Mentalitäts- und Ideengeschichte wertvolle Hinweise hätte geben können.

Sein erkenntnisleitendes Interesse formuliert der Autor so: "Das formale Ende des konstantinischen Zeitalters für die Kirche in Deutschland im Jahre 1918 bedeutete ihre grundsätzliche Befreiung zum Zeugnis auf dem Felde der Politik" (25). Am Ende seiner Untersuchung mißt er dann die Haltung des Weimarer Protestantismus an den Aussagen des "Darmstädter Worts" des Bruderrates der EKiD. Die "politisch-theologischen Irrwege", zu denen sich der Bruderrat bekannt habe, müßten auch dem Weimarer Protestantismus zur Last gelegt werden. Nach der Niederlage von 1918 habe es kein vergleichbares Schuldbekenntnis gegeben. "Vielleicht liegt darin das eigentliche Versäumnis des deutschen Protestantismus der Weimarer Zeit" (305).

Das ist ein für meinen Geschmack zu predigthafter Schlußsatz unter eine Arbeit, an deren methodischer Reflexionsleistung ich einiges auszusetzen habe, deren Thematik sowie die Darstellung und Aufarbeitung des Untersuchungsgegenstandes aber geeignet ist, als ein weiterer wichtiger Mosaikstein unser Bild von diesen schicksalhaften Jahren zu bereichern.